Naturphilosophie
Sinnfrage
Basiswissen
Naturwissenschaft verbunden mit Fragen nach dem Sinn und der Grundbeschaffenheit des Seins bezeichnet man heute als Naturphilosophie. Ursprünglich bezeichnete das Wort Naturphilosophie das, was man heute Naturwissenschaft nennen. Das ist hier mit einer längeren Stichwortliste am Ende kurz vorgestellt.
Eine Definition von Naturphilosophie
Das Metzler Philosophie Lexikon definiert Naturphilosophie zum einen als „philosophische Beschäftigung mit der Natur“ und zum anderen als „Philosophie der Naturwissenschaften, das heißt als Metatheorie oder Wissenschaftstheorie“[1]. Diese enge Verbindung mit den Naturwissenschaften sieht aber das Lexikon „Religion in Geschichte und Gegenwart“ nur bis ins 18te Jahrhundert[8]. So sinnierte formulierte Isaac Newton (1642 bis 1727) noch Fragen nach dem woher und dem wohin, Fragen nach einer Wirk- und Fragen nach einer Zielursache gemeinsam[12]. Im 19ten Jahrhundert trennten sich die Naturwissenschaften dann zunehmend ab vom Begriff der Philosophie, was etwa daran zu erkennen ist, dass der Begriff der Wahrheit in den gegenwärtigen Naturwissenschaften keine große Rolle spielt, in der Philosophie aber weiterhin zentral ist [sinngemäß: 8, Seite 444]. Auch sind Fragen nach dem Wozu, nach Sinn und Zweck des Weltgeschehens zunehmend aus der Naturphilosophie verschwunden.
Naturphilosophie als moderne Naturwissenschaft
Philosophie bezeichnet heute eine Wissenschaft, die fast ausschließlich mit Worten arbeitet und in diesem Sinn eine Geisteswissenschaft ist. Das war nicht immer so. Bis etwa zur Zeit Goethes und Napoleons fasste man so gut wie alle Wissenschaften unter der Philosophie zusammen[9]. Was wir heute etwa als Biologie, Geologie und Physik unterscheiden, fasste man bis ins frühe 19te Jahrhundert unter dem Wort Naturphilosophie zusammen. Dabei war oft ein starkes Bemühen erkennbar, Erkenntnisse in ein großes Weltbild zu fügen, das auch Fragen nach Moral, Gott oder anderen Sinnquellen sowie auch Übersinnliches miteinschloss. Dieser Anspruch ist heute weitgehend aufgegeben. Aus der ehemals alles umfassenden Philosophie herausgelöst haben sich die modernen Naturwissenschaften ↗
Naturwissenschaft im modernen Sinn
Die heutigen Naturwissenschaften definieren sich einerseits über zentrale Methoden wie Modellbildung und Empirie. Andererseits definieren sie sich auch über eine deutliche Selbstbegrenzung: sie schließen Fragen aus, die sich nicht mit ihren Methoden bearbeiten lassen. Das sind zum Beispiel Fragen wie die nach dem Sinn der Welt, nach dem Sollen oder dem Ursprung der Welt. Wo man solche Fragen eng mit der Naturwissenschaft verbinden möchte, könnte man von Naturphilosophie sprechen. Siehe auch Utopie ↗
Beispiel: die Astronomie als Naturphilosophie
Schon der antike Denker Pythagoras (572 bis 500 v. Chr.) soll die Erde als Kugel angenommen haben, da er die Kugel für die "ideale" Form eines Körpers hielt. Der Leitgedanke hier war es, von einer "Vollkommenheit der Schöpfung[10, Seite 117]" auszugehen. Diese Idee, dass die Welt als Ganzes Ausdruck einer wohlüberlegten, guten oder perfekten Schöpfung ist, prägte dann das philosophische und religiöse Denken bis weit ins 17te Jahrhundert nach Christus. Man dachte sich die Welt mit der Erde im Mittelpunkt und himmlischen Sphären darüber. In den Himmelssphären galten andere Naturgesetze als auf der Erde. Die Bewegung der Planten und Gestirne war direkter Ausdruck göttlicher Ordnung. Jede Abweichung von dieser ideal gedachten Schöpfung bedrohte das Vertrauen in einem absoluten und guten Schöpfergott[11]. Ohne vielleicht die Absicht bewusst zu verfolgen, zerlegten die Beobachtungsergebnisse der Astronomen und Physiker das harmonische, wohlgeordnete geozentrische Weltbild einer perfekten Schöpfung immer mehr. Die Erde war nicht in der Mitte, sie war keine perfekte Kugel, die idealen Kreisbahnen der Planeten wichen schwer berechenbaren, wenig harmonischen Trajektorien. Und die Bewegung der Gestirne folgte gemäß Newton denselben "irdischen" Gesetzen wie ein fallender Stein. Zu diesem gedanklichen Hintergrund siehe zum Beispiel den Artikel zur Himmelssphäre ↗
Fußnoten
- [1] Lorenz Oken: Lehrbuch der Naturphilosophie. Verlag Friedrich Frommann. Jena, 1831.
- [2] Emil Dubois Reymond: Über die Grenzen des Naturerkennens. Veit, Leipzig 1872.
- [3] Emil Dubois Reymond: Die Sieben Welträtsel. Rede zur Feier des leibnizischen Jahrestages, am 8. Juli 1880. In: Deutsche Rundschau 28: 352-372
- [4] Ernst Häckel: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie. Neu bearbeitete Taschenausgabe. Leipzig. Alfred Kröner Verlag. 1909 (Erstausgabe 1899).
- [5] Henry Stapp: Mind, Matter and Quantum Mechanics. Springer Verlag. 1993. ISBN: 3-540-56289-3.
- [6] Metzeler Philosophie Lexikon. Herausgegeben von Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard. 2. überarbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar, 1999. ISBN: 3-476-01679-X. Seite 392.
- [7] Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Herausgegeben von Hermann Gunkel und Leopold Tscharnak. Verlag von J. C. B. Mohr. Tübingen. 1931. Band I. Seite 439 bis 446.
- [8] Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 718-721: "Naturphilosophie (»philosophia naturalis« schon bei SENECA, physikê »physica«, »cosmologia«, »natural philosophy« = Naturwissenschaft) ist die Metaphysik (s. d.) der Natur, die letzte, einheitliche, die allgemeinen Ergebnisse der Naturwissenschaft (s. d.) nach allgemeinen, erkenntniskritischen Principien bearbeitende, deutende, verbindende Theorie des Wesens der Naturobjecte und Naturprocesse." Online: http://www.zeno.org/nid/20001796623
- [9] Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 458: "Naturphilosophie (die »rationale Kosmologie« der ältern Schulsprache) heißt der Teil der Metaphysik, der sich mit der materiellen Außenwelt beschäftigt, im Gegensatz zur Geistesphilosophie, deren Objekt die geistige Well ist. Wie diese zur Psychologie, so steht jene zur Naturwissenschaft in näherer Beziehung. Im griechischen Altertum waren (wie das Beispiel des Aristoteles zeigt) N. und Naturwissenschaft noch ungeschieden, und auch die Begründer der neuern Naturerkenntnis (Kopernikus, Galilei, Kepler, Descartes) kennen noch keinen Unterschied beider Gebiete, der erst hervortrat, als man anfing, das Geschäft der (empirischen) Feststellung von Tatsachen und das der Erklärung derselben zu trennen. Bei Newton und noch heute im englischen Sprachgebrauch ist deshalb N. soviel wie theoretische (mathematisch deduktive) Naturlehre…". Online: http://www.zeno.org/nid/20007138636
- [10] Jürgen Teichmann: Wandel des Weltbildes. Astronomie, Physik und Meßtechnik in der Kulturgeschichte. Mit Beiträgen von Volker Bialas und Felix Schmeidler. Herausgegeben vom Deutschen Museum in München, über die Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt. 1983. Sehr gute Erklärungen, viele Bilder und genau angegebene Quellen zur engen Verbindung von Astronomie, Physik und religiös-philosophischen Weltbildern.
- [11] Samuel Robotham: Zetetic astronomy. Earth not a globe! an experimental inquiry into the true figure of the earth, proving it a plane without axial or orbital motion. London. 1865. Auf 229 Seiten attackiert der Autor das damals allgemein akzeptierte Weltbild nach der Art Newtons, letztendlich um eine kleine übersichtliche Welt, geschaffen von Gott der Christen zu rechtfertigen. Online: https://archive.org/details/zeteticastronom00rowbgoog/page/n86/mode/1up
- [12] Beispiele typisch naturphilosophischer Fragen formulierte bereits Isaac Newton (1642 bis 1727) in seinem berühmten Buch Opticks: "And for rejecting such a Medium, we have the Authority of those the oldest and most celebrated Philosophers of Greece and Phœnicia, who made a Vacuum, and Atoms, and the Gravity of Atoms, the first Principles of their Philosophy; tacitly attributing Gravity to some other Cause than dense Matter. Later Philosophers banish the Consideration of such a Cause out of natural Philosophy, feigning Hypotheses for explaining all things mechanically, and referring other Causes to Metaphysicks: Whereas the main Business of natural Philosophy is to argue from Phænomena without feigning Hypotheses, and to deduce Causes from Effects, till we come to the very first Cause, which certainly is not mechanical; and not only to unfold the Mechanism of the World, but chiefly to resolve these and such like Questions. What is there in places almost empty of Matter, and whence is it that the Sun and Planets gravitate towards one another, without dense Matter between them? Whence is it that Nature doth nothing in vain; and whence arises all that Order and Beauty which we see in the World? To what end are Comets, and whence is it that Planets move all one and the same way in Orbs concentrick, while Comets move all manner of ways in Orbs very excentrick; and what hinders the fix'd Stars from falling upon one another? How came the Bodies of Animals to be contrived with so much Art, and for what ends were their several Parts? Was the Eye contrived without Skill in Opticks, and the Ear without Knowledge of Sounds? How do the Motions of the Body follow from the Will, and whence is the Instinct in Animals? Is not the Sensory of Animals that place to which the sensitive Substance is present, and into which the sensible Species of Things are carried through the Nerves and Brain, that there they may be perceived by their immediate presence to that Substance? And these things being rightly dispatch'd, does it not appear from Phænomena that there is a Being incorporeal, living, intelligent, omnipresent, who in infinite Space, as it were in his Sensory, sees the things themselves intimately, and throughly perceives them, and comprehends them wholly by their immediate presence to himself: Of which things the Images only carried through the Organs of Sense into our little Sensoriums, are there seen and beheld by that which in us perceives and thinks. And though every true Step made in this Philosophy brings us not immediately to the Knowledge of the first Cause, yet it brings us nearer to it, and on that account is to be highly valued." In: Isaac Newton: OPTICKS: OR, A TREATISE OF THE Reflections, Refractions, Inflections and colours OF LIGHT. The FOURTH EDITION, corrected. By Sir ISAAC NEWTON, Knt. LONDON: Printed for WILLIAM INNYS at the West-End of St. Paul's. MDCCXXX (1730). Dort die Seiten 369 und 370.
- [13] Für Isaac Newton (1642 bis 1727) war der Kern der Naturphilosophie die enge Bindung von Erkennntissen an Versuche und Beobachtungen: "As in Mathematicks, so in Natural Philosophy, the Investigation of difficult Things by the Method of Analysis, ought ever to precede the Method of Composition. This Analysis consists in making Experiments and Observations, and in drawing general Conclusions from them by Induction, and admitting of no Objections against the Conclusions, but such as are taken from Experiments, or other certain Truths. For Hypotheses are not to be regarded in experimental Philosophy. And although the arguing from Experiments and Observations by Induction be no Demonstration of general Conclusions; yet it is the best way of arguing which the Nature of Things admits of, and may be looked upon as so much the stronger, by how much the Induction is more general. And if no Exception occur from Phænomena, the Conclusion may be pronounced generally. But if at any time afterwards any Exception shall occur from Experiments, it may then begin to be pronounced with such Exceptions as occur. By this way of Analysis we may proceed from Compounds to Ingredients, and from Motions to the Forces producing them; and in general, from Effects to their Causes, and from particular Causes to more general ones, till the Argument end in the most general. This is the Method of Analysis: And the Synthesis consists in assuming the Causes discover'd, and establish'd as Principles, and by them explaining the Phænomena proceeding from them, and proving the Explanations." In: Isaac Newton: OPTICKS: OR, A TREATISE OF THE Reflections, Refractions, Inflections and colours OF LIGHT. The FOURTH EDITION, corrected. By Sir ISAAC NEWTON, Knt. LONDON: Printed for WILLIAM INNYS at the West-End of St. Paul's. MDCCXXX (1730). Dort die Seiten 404 und 405.