Volkskörper
Soziobiologisch
Basiswissen
Das Wort Volksörper, auch sozialer Körper[1], stand im 19ten Jahrhundert zunächst für die metaphorische Idee, dass ein Staat als Ganzes analog zu einem Körper gedacht werden könne. Passend dazu spricht man auch heute noch von Staatsorganen. Insbesondere in der Ideologie des Nationalsozialismus stand der Volkskörper für das Ideal einer innigen Volksgemeinschaft[7]. Nach einem kurzen Blick auf die Geschichte wird der Begriff des Volkskörpers im Sinne einer spekulativen Philosophie aus Sicht aktueller biologischer Forschungen gedeutet.
Das Volk und der Staat als organischer Körper
Schon im 14ten Jahrhundert wurden menschliche Gesellschaften detailreich mit menschlichen Körpern verglichen[45]. Später, auf der Titelseite von Thomas Hobbes' Buches Leviathan aus dem Jahr 1652 ist ein gezeichner Mensch zu sehen, der aus unzählig vielen kleinen Menschen besteht. Der französische Soziologie Rene Worms formulierte diese Analogie zwischen Gesellschaft und Organismus ausdrücklich mit dem Bild von Zellen die einen Organismus aufbauen und setzte die Regelhaftigkeit auf den zwei Stufen der Komplexität gleich (Les relations qui existent entre les elements d'organisme existent aussi entre les elements de la societe[1, Seite 7]).
MERKSATZ:
1.0 Die Metapher vom Staat als Körper reicht weit in die Geschichte zurück.
1.0 Die Metapher vom Staat als Körper reicht weit in die Geschichte zurück.
Vor allem im 19ten Jahrhundert und vor allem (aber nicht nur) im deutschen Sprachraum entstanden dann viele Theorien, die den Staat als Organismus sahen. Den gedanklichen Hintergrund bildeten oft Juristen, Historiker und Sozialwissenschaftler, seltener Naturkundler. Seit dem Ende des 19ten Jahrhunderts bis zum Nationalsozialismus wurde die Idee eines Staates als Körper dann immer stärker politisiert. Eingängig war zum Beispiel die Metapher kranken Volkskörper und dem Befall durch Parasiten. Zur Ideengeschichte des Staates als Körper im 19ten und frühen 20ten Jahrhundert lies mehr unter organische Theorie ↗
Der Volkskörper in Hitlers „Mein Kampf“
In den 1920er war der Begriff des Volkskörpers zu einer gesellschaftlichen Vision gereift. Im Jahr 1925 veröffentlichte der spätere deutsche Diktator Adolf Hitler sein Buch „Mein Kampf“. Darin entwickelte er seine sozialdarwinistische Sicht der Welt: so wie es in der Natur einen ewigen Wettkampf zwischen Individuen und Arten gibt, so müsse es auch zwischen den Völkern einen ewigen Kampf der Nationen geben. Sein Volkskörper sollte an diesem Kampf teilnehmen.
MERKSATZ:
2.0 Der Volksörper in der NS-Ideologie war auch ein Kampfkörper.
2.0 Der Volksörper in der NS-Ideologie war auch ein Kampfkörper.
Das Wort nationalisozialistisch steht dabei für die Idee, dass man nach außen national denkt und nach innen sozialistisch. Der Begriff Volkskörper kommt in "Mein Kampf" mindestens 43 mal vor[44]. Aufällig ist dabei, wie oft das Wort Volkskörper in Verbindung mit körperlichen Krankheiten genannt wird. Hier stehen einige beispielhafte Sätze[2]:
- Als größten Wertfaktor in dieser Zeit der beginnenden und sich langsam weiterverbreitenden Zersetzung unseres Volkskörpers haben wir jedoch das Heer zu buchen. [Seite 305]
- Es wäre verfehlt, zu glauben, daß die Anhänger der verschiedenen politischen Richtungen, die am deutschen Volkskörper herumdokterten, ja selbst die Führer zu einem gewissen Teile, an sich schlechte oder übelwollende Menschen gewesen wären. [Seite 360]
- Im August 1914 stürmte deshalb auch nicht ein zum Angriff entschlossenes Volk auf die Walstatt, sondern es erfolgte nur das letzte Aufflackern des nationalen Selbsterhaltungstriebes gegenüber der fortschreitenden pazifistisch-marxistischen Lähmung unseres Volkskörpers. [Seite 361]
- Der heutige Staat beispielsweise kann als formaler Mechanismus sehr wohl noch soundso lange Zeit sein Dasein vortäuschen, die rassenmäßige Vergiftung unseres Volkskörpers schafft jedoch einen kulturellen Niedergang, der schon jetzt erschreckend in Erscheinung tritt. [Seite 432]
- Selbst bei günstigem Erfolge würde ein solcher Versuch der Wiederherstellung der Grenzen von 1914 zu einer weiteren Ausblutung unseres Volkskörpers führen in einem Umfange, daß für die das Leben und die Zukunft der Nation wirklich sichernden Entschlüsse und Taten kein wertvoller Bluteinsatz mehr vorhanden wäre. [Seite 739]
- Man mußte sich vergegenwärtigen, daß aus den blutigsten Bürgerkriegen häufig ein stahlharter, gesunder Volkskörper erwuchs, während aus künstlich gehegten Friedenszuständen öfter als einmal die Fäulnis zum Himmel emporstank. [Seite 773]
Der Volkskörper der NS-Zeit war das Versprechen echter Gemeinschaft
Der Volkskörper war vor allem das Versprechen eines fürsorglichen Staates, in dem der einzelne sich einbringt und von dem er umgekehrt Wertschätzung erhält[46]. Adolf Hitler hob kurz nach seiner Wahl zum Reichskanzler in seiner Rede vom 10. Februar 1933 hervor, dass er die Trennung der einzelnen Menschen in Gruppen wie Arme und Reiche oder Gebildete und Ungebildete überwinden möchte. Er versprach "ein größeres Ideal", "eine größere Erkenntnis"[22].
MERKSATZ:
3.0 Der Volkskörper versprach echte Gemeinschaft statt Zersplitterung in Einzelinteressen.
3.0 Der Volkskörper versprach echte Gemeinschaft statt Zersplitterung in Einzelinteressen.
Der Volkskörper oder die Volksgemeinschaft war ein Versprechen[7]. Erst in der Gemeinschaft aller Deutschen könne der einzelne Deutsche Erfüllung erlangen. Die emotionale Bindung an den "Führer", an eine "verbindende, Leidenschaft stiftende Idee oder Ideologie“ und ein Gefühl des Einzelnen, aktiv den großen Zielen "entgegenzuarbeiten" mögen starke Anreiz gewesen sein[13].
Der Volkskörper als biologische Notwendigkeit
Aus verschiedenen Anlässen musste in der Zeit des Nationalsozialismus (1933 bis 1945) ein Nachweis über die erbbiologisch einwandfreie eigene Herkunft erstellt werden, der sogenannte Ariernachweis[47]. In einem solchen Ariernachweis wird die Notwendigkeit des Denkens in Rassen untermauert: "Die im nationalsozialistischen Denken verwurzelte Auffassung, daß es oberste Pflicht eines Volkes ist, seine Rasse, sein Blut von fremden Einflüssen rein zu halten und die in den Volkskörper eingedrungenen fremden Blutseinschläge wieder auszumerzen, gründet sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Erblehre und Rassenforschung. Dem Denken des Nationalsozialismus entsprechend, jedem anderen Volke volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist dabei niemals von höher- oder minderwertigem, sondern stets nur von f r e m d e n Rasseneinschlägen die Rede."[5]
MERKSATZ:
4.0 Volkskörper-Theorien sehen eine biologisch begründete Notwendigkeit für reine Rassen.
4.0 Volkskörper-Theorien sehen eine biologisch begründete Notwendigkeit für reine Rassen.
Der Wunsch nach rassischer Reinheit ist zwar auch in den 2020er Jahren noch vereinzelt vorhanden[39]. Während aber in den Sozialwissenschaften die biologistische Deutung menschlicher Gesellschaften oft noch als Irrweg gilt[14] und die Mehrheit der Deutschen im Jahr 2022 die Idee ablehnte, dass sich im sozialen Leben "wie in der Natur, die Stärkeren" durchsetzen sollten[15], betrachten Evolutionsbiologen weiterhin die Frage, ob homogene Gruppen nicht doch einen evolutionären Vorteil bieten[16] und ob kulturelle Abgrenzung zu einer evolutionär vorteilhaften Artenbildung auch bei Tieren beitragen könnte[17]. Zwei Fragen muss man hier auseinander halten: a) ob eine genetische Schranke zwischen Individuen[18] einen evolutionären Vorteil bringt[19], und b) ob wir überhaupt Befunde aus der Biologie in den Bereich des menschlichen Zusammenlebens übertragen wollen[20]. Bemerkenswert ist immerhin, dass alle Lebensformen die eine sogenannte Eusozialität[48] ausbilden, ein strenges Regime bezüglich der Weitergabe ihrer Gene haben[49]. Dazu passend sind politische Strömungen des Völkischen und der Konservativen oft besessen von der Kontrolle der Sexualität anderer[59]. Biologistisch gedeutet könnte die kontrollierte Sexualität zwei Funktionen erfüllen: a) einen zellulären Flaschenhals ausbilden und b) die Förderung einer Artbildung ↗
Konrad Lorenz: der Volkskörper bedarf der Hygiene
Der Verhaltensbiologe Konrad Lorenz (1903 bis 1989) sieht den Volkskörper bedroht durch ethisch Minderwertige: „Versagt diese Auslese, mißlingt die Ausmerzung der mit Ausfällen behafteten Elemente, so durchdringen diese den Volkskörper in biologisch ganz analoger Weise und aus ebenso analogen Ursachen wie die Zellen einer bösartigen Geschwulst […] Sollte es mutationsbegünstigende Faktoren geben, so läge in ihrem Erkennen und Ausschalten die wichtigste Aufgabe des Rassepflegers überhaupt […]"
MERKSATZ:
5.0 Volkskörper-Ideologen nutzen oft Metaphern von Krankheit und Parasitismus.
5.0 Volkskörper-Ideologen nutzen oft Metaphern von Krankheit und Parasitismus.
Und weiter in den Worten Lorenz': "Sollte sich dagegen herausstellen, daß unter den Bedingungen der Domestikation keine Häufung von Mutationen stattfindet, sondern nur der Wegfall der natürlichen Auslese die Vergrößerung der Zahl vorhandener Mutanten und die Unausgeglichenheit der Stämme verschuldet, so müßte die Rassenpflege dennoch auf eine noch schärfere Ausmerzung ethisch Minderwertiger bedacht sein, als sie es heute schon ist.[4]“ Die Angst, dass ein Ausbremsen darwinstischer Evolution zu einer Rückentwicklung der Rasse oder Art führt, wird hier weiter betrachtet im Artikel zur Bernhardi-Barriere ↗
Die Idee des Volkskörpers nach 1945: technosoziale Visionen
Auch in der Frühzeit der Bundesrepublik wurden die Worte vom Volkskörper, von den Volksgenossen und von der Volksgemeinschaft weiterhin verwendet, und zwar auch von konservativen, linken und liberalen Abgeordneten im Bundestag[21]. Doch bildete "Das Volk" nicht mehr den Kern einer mehrheitsfähigen politischen Ideologie der Nachkriegszeit. Die biologisch motivierte Vision jedoch, dass der Einzelne in einem Größeren aufgehen soll, tauchte an ganz anderer Stelle erneut auf. Der deutsche Molekulargenetiker Carsten Bresch etwa glaubte, dass mit der Entstehung eines Globalen Überwesens, das er MONON nannte, eine Zeit eines fürsorglichen Miteinanders anbrechen wird: "Das Monon ist ein gigantisches, historisch gewachsenes Muster, aufgebaut auf biologisch-organisierter Materie. Es ist eine überindividuelle Ganzheit, deren Organe (Teilmuster) untereinander und zum Ganzen in kooperativer Beziehung stehen."[23]
MERKSATZ:
6.0 Ab etwa 1970 trat der Volkskörper frei von politischem Gedankengut als technosoziale Vision neu auf.
6.0 Ab etwa 1970 trat der Volkskörper frei von politischem Gedankengut als technosoziale Vision neu auf.
Ähnlich wie Bresch in den 1970er Jahren zeichnete der Franzose Joel de Rosnay in den 1990er Jahren das Bild eines entstehenden globalen Überorganismus, des Kybionten. In diesem Überwesen lebt der Mensch sinnerfüllt als Homo Symbioticus[24]. Der Amerikaner Gregory Stock nannte seinen visionären Volkskörper Metaman und sah dabei vor allem wirtschaftliche Prozesse als Antrieb[25]. Seit den 1990er Jahren sind solche Visionen immer stärker getragen von evolutionsbiologischen Theorien, dass sich das Leben auf der Erde in sprunghaften Schüben zu immer höherer Komplexität entfaltet. Was man im 19ten und 20ten Jahrhundert als Volkskörper bezeichnete, ist in der Theorie der evolutionären Transitionen[26] heute ein Metasystem. Siehe dazu auch Metasystem-Transitionen ↗
Der Volkskörper konsequent biologisch gedacht
Das Vorbild für einen Volkskörper ist der biologische Körper. Nun ist der gegenwärtige Mensch nicht schon bereits Zelle eines Überkörpers. Aber das Wort Volkskörper weist in die Richtung. Bleiben wir bei der Natur als Vorbild. Im Übergangsbereich zwischen einer losen Gesellschaft und einem stark integrierten Superorganismus[53] liegt die sogenannte Eusozalität[48]. Eusozial nennt man zum Beispiel Algenzellen, die zwar noch eigenständig leben könnten, gleichzeitig aber auch eng verbundene Kolonien bilden. Eusozial sind alle auch alle staatenbildenden Insekten, manche Krustentiere und - als einziges Säugetier - der Nacktmull sowie teilweise auch der Mensch[57]. Viele dieser Lebensformen sind inzwischen gut studiert. Daei sind einige verblüffende Merkmale herausgearbeitet worden, die typisch zu sein scheinen. Diese möchte ich hier spekulativ auf einen hypothetischen eusozialen menschlichen Volkskörper übertragen.
- a) Eusoziale Lebewesen wachsen nicht über alle Grenzen sondern sie vermehren sich. Hier fällt es mir schwer, das auf einen Volkskörper zu übertragen. Länder haben einen Drang sich auszudehnen, nicht sich zu vermehen. (Als Vermehung könnte man vielleicht die Bildung griechische Kolonien vor fast 3000 Jahren betrachten.) Vielleicht ist das ein wichtiger Punkt, der von Theoretikern bisher noch nicht ausreichend betrachtet wurde: Evolution braucht Population
- b) Eusoziale Lebewesen sind oft in streng arbeitsteilige Kasten unterteilt. Übertragen auf menschliche Gesellschaften führt dies zur Ausbildung möglichst stark zementierter sozialer Klassen, Berufe oder Stände. Jede gesellschaftliche Tendenz hin zu weniger sozialer Durchlässigkeit würde in diese Richtung weisen. Bemerkenswerterweise war es genau das, was der große Prophet des Volkskörpers, Adolf Hitler aufzuheben versprach, als er kurz nach seiner Wahl zum Reichkanzler im Berliner Sportpalast sprach[22]. Siehe auch Arbeitsteilung ↗
- c) Eusoziale Lebewesen haben oft einen sogenannten zellulären Flaschenhals: nur wenige Individuen können einen neuen Superorganismus als Nachfahre in die Welt setzen. Übertragen auf die menschliche Welt hieße das, dass ein Großteil der Individuen unfruchtbar gemacht wird und zur Gründung eines neuen Volkskörpers nur sehr wenige ausgewählte "Keimindividuen" herangezogen werden. Ein Sultan mit seinem Harem oder das Lebensborn-Projekt der SS im Dritten Reich[54] drängen sich hier als Analogien auf. Die Aufzucht der Brut wird dann wie bei sozialen Insekten von einer zunehmend sterilen Kaste übernommen[58]. Siehe auch zellulärer Flaschenhals ↗
- d) Manche eusozialen Lebensformen kennen den programmierten Zelltod, die sogenannte Apoptose. Überflüssige Individuen beseitigen sich "geräuschlos" selbst aus dem Superorganismus. Tatsächlich, wennauch nicht aus einem Volkskörperdenken heraus, wurde eine Ganzkörper-Apoptose für Menschen von Philosophen bereits vorgeschlagen[54]. Siehe auch Apoptose (Soziologie) ↗
- e) Eine Gehirnbildung oder Zerebralisation zeigt sich vor allem im Übergangsbereich von Einzellern zu Vielzellern: die Informationsverarbeitung wird stark zentralisiert. Für einen menschlichen Volkskörper könnte das heißen, das die geographischen Siedlungsformen eine starke Unterteilung in Stadt (Verwaltungszentren) und Land aufweisen oder es demnächst nur wenige zentrale Bereiche von IT-Rechenzentren gibt, die dann den Rest des Volkskörpers innervieren und steuern. Siehe dazu auch Zerebralisation ↗
MERKSATZ:
7.0 Die biologische Metapher vom Volkskörper führt in letzter Konsequenz zu konkreten aber zum Teil bizarren Vorstellung.
7.0 Die biologische Metapher vom Volkskörper führt in letzter Konsequenz zu konkreten aber zum Teil bizarren Vorstellung.
Bemerkenswert ist, dass sich Vertreter einer Volkskörper-Ideologie zwar reichlich der Sprache der Biologie (Parasiten ausmerzen, Survival of the fittest[56]) bedienen, aber nicht wirklich konsequent die Befunde der aktuellen biologischen Forschung untersuchen. Schon gar nicht erstellen sie klar ausformulierte und prüfungsfähige Theorien. Damit werden aber für unkritische Leser weder die Widersprüche noch die bizarren Konsequenzen soziobiologischen Denkens sichtbar. Dass akademische Wissenschaftler die hier angesprochenen biologischen Befunde tatsächlich als Modell für die zukünftige Entwicklung der Menschen verwenden, wird vorgestellt im Artikel HMST [Human Metaystem-Transition] ↗
Kritikpunkt I: der Volkskörper als falsches Versprechen
Gab es jemals einen echten Volkskörper, eine gelebte, freiwillige Gemeinschaft verschiedener Menschen, vereint durch ein höheres Ideal?[37] Oder ist die Idee vom Volkskörper nur eine demagogische Täuschung?[9]. Ich neige Letzerem zu. Persönliche Erzählungen aus den Kriegsgenerationen zeichnen gerade von der NS-Zeit das Bild von Egoismus[10], von Günstlingswirtschaft[11] oder einer weiter starken Trennung der Menschen in Klassen[12]. Wer in Kriegserinnerungen über den Zweiten Weltkrieg liest, wird dort immer wieder auf das Motiv der "Etappenschweine"[28], der "Bonzenwirtschaft", der "Goldfasane"[29] sowie des sinnlosen Verheizens der Frontsoldaten stoßen[43]. Während die einfache Bevölkerung litt, hielten sich die Eliten in Sicherheit und lebten in Wohlstand[31]. Von einer gelebten Volksgemeinschaft scheint das weit entfernt. Die Skepsis ist: Gruppen, die eine Volksgemeinschaft versprechen, tendieren früher oder später zu Korruption und Günstlingswirtschaft.
Kritikpunkt II: der Volkskörper als Phrase
Solange man unscharfe Worte wie Freiheit, Souveranität, Volk, Gemeinschaft oder Solidarität verwendet, überdeckt man die Probleme in der Umsetzung[52]. Wie genau soll man sich den Lebensalltag in einer Volksgemeinschaft vorstellen? Soll es im Winter zwangsweise eingelagertes Gemüse aus der letzten Ernte vom lokalen Bauern geben? Sind Südfrüchte im Dezember dann verboten? Sollen landschaftsuntypische Bauweisen für Eigenheime erlaubt bleiben? Darf ein Bauherr in Ostfriesland genauso genauso wie im Odenwald billige Standardeigenheime bauen oder soll er zur Nutzung teurerer heimischer Materialien gezwungen werden? Sollen Anglizismen in der Schule verboten werden? Soll man etwas gegen Worte wie "lost", "cancelln" oder "networking" unternehmen? Soll Sauerkraut in Frankfurt Teil einer verbindlichen Leitkultur werden? Soll es für das Rhein-Main-Gebiet ein Gebot für die Gastronomie geben, dass Sauerkraut, Grüne Soße und Rindswurst auf der Speisekarte angeboten sein müssen? Was soll geschehen, wenn eine große Anzahl von Menschen die Leitkultur nicht attraktiv findet? Man denke hier an die Versuche der DDR westliche Kultureinflüsse fernzuhalten. Soll Menschen mit nachweislichen Erbschäden (was immer das sein soll) oder geringen Fähigkeiten das Kinderkriegen verboten werden? Falls ja, ab welchem IQ darf man Kinder kriegen, ohne dass der Volkskörper leidet? Was soll mit "Dauerdepressiven" oder "nicht ins Arbeitsleben integrierbaren" Menschen geschehen? Genügt eine drastische Kürzung von Zuwendungen oder soll da mehr möglich sein? Ich kann mir unter einem gelebten Volkskörper nicht wirklich etwas Konkretes vorstellen, was nicht letztendlich in Bevormundung, Gängelung oder schaler Diktatur endet. Wie so viele Visionen leidet auch die Vision vom Volkskörper letztendlich an der Unvorstellbarkeit der Utopie ↗
Kritikpunkt III: der Volkskörper ist kein Wohlfahrtsstaat
Befürworter eines Volksörpers sollten sich die oft mitklingenden rassenhygienischen Töne und den Vorrang des Kollektivs vor dem Individuum genau anöhren. Die Fürsorge der Gemeinschaft ist eng an den Nutzen gebunden, den man der Gemeinschaft bieten kann. Wer diesen Nutzen nicht aufzeigen kann, etwa wer psychisch von der gewollten Norm abweicht[32] oder wirtschaftlich schwach ist[32], wurde im in der NS-Zeit umgebracht oder in Konzentrationslager gesteckt. Erschütternd sind auch die Beispiele von geopferten verwundeten Soldaten im Zweiten Weltkrieg[43]. Dieses Denken ist aber auch konsequent, wo der Volkskörper das oberste Ideal ist[50]. Konsequent vorangetrieben ist die Idee von biologischen Organismen. Dort gibt es den sogenannten freiwilligen Zelltod, bei dem sich nutzlose Zellen von alleine beseitigen[41]. Siehe dazu auch Apoptose (Soziologie) ↗
Kritikpunkt IV: der Volkskörper neigt zum Krieg
Die meisten politischen Strömungen, die einen Volkskörper oder eine Volksgemeinschaft beschwören definieren diesen weit überwiegend durch Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen. Die Abrenzung kann die Form einer Herabsetzung anderer Völker (Rassismus) oder Gruppen von Menschen (Antisemitismus) beinhalten oder eine Überhöhung der eigenen Gruppe[27] (Deutschland zuerst, America first). Wohin führt ein solches Denken? Wenn das eigene Wohlbefinden der Herabsetzung anderer Völker -real oder eingebildet - bedarf, so müssen "die Völker" in ständiger Angst voreinander leben. Erfahrungsgemäß führt das früher oder später zu Krieg ↗
Kritikipunkt V: der Volkskörper wird autoritär
Der Russe Valentin Turchin entwickelte in den 1970er Jahre ein biologistisch motiviertes Konzept von einem Überorganismus[61]: die einzelnen Menschen integrieren sich dabei zu einem Super-Wesen (super-being). Das Super-Wesen hat dabei eigene Interesse, die den Interessen der individuellen Mensch zuwiderlaufen können. Faschistoide Grundzüge wären, so Turchin, dabei eher die Regel als die Ausnahme[36]. Turchin hatte in der Sowjetunion eine Diktatur von innen kennengelernt. Auch lag die Zeit faschistischer Diktaturen in Europa nicht lange zurück. Wenn nicht alle "Volksgenossen" von sich aus "auf Linie" sind und den "Volkskörper" wollen, wie anders als mit Zwang soll man dann mit ihnen umgehen? Der Idee des Volkskörpers eingeboren sind Zwang und Kontrolle []. Siehe auch Super-Wesen ↗
Kritikpunkt VI: drohende Degeneration des Individuums
Alle geschichtlichen Vorbilder in denen ein Volkskörper, eine Gemeinschaft oder ein Ideal beschworen wurden endeten in Totalitarismus[42] oder Zerfall. Jede reale Gesellschaft hat Mechanismen sozialer Kontrolle, die den Zusammenhalt der Gruppe fördern und die Gruppe auf ein gemeinsames Ziel ausrichten[34]. Komplexer organisierte Gruppen bilden dabei oft eine starke Arbeitsteilung aus[35]. Gruppenzwang und Arbeitsteilung können aber für sich einzeln oder zusammen dazu führen, dass der Einzelne immer mehr an Freiheit und an Autonomie verliert. Der polnische Autor Stanislaw Lem (1921 bis 2006) spitzte diesen Gedanken zu. Er sah Tendenzen, dass die Gruppe, das Kollektiv, gerade dann an Stärke gewinnt, wenn das Individuum degeneriert. Siehe dazu soziointegrative Degeneration (Soziologie) ↗
Persönliche Wertung
Auch ich wäre gerne Teil einer Gemeinschaft wäre, in der alle Menschen an einem Strang ziehen und sich einander wirklich zuwenden. Dennoch überwiegt bei mir die Skepsis was den Volkskörper angeht. Erstens traue ich es keiner politischen Bewegung, keiner religiösen Gemeinschaft und keiner Ideologie zu, eine gleichzeitig freie wie auch solidarisch verbundene Gemeinschaft aufzubauen. Die Geschichte spricht dagegen. Am Ende degenertierte (fast) alle gelebten Utopie zu freudlosen Schweinwelten mit viel Zwang und Doppelmoral.
MERKSATZ:
8.0 Persönlich halte ich die Idee von einem Volkskörper weder für überzeugend noch für verlockend. Ich sehe dort zu viele Widersprüche zur Idee individueller Freiheit.
8.0 Persönlich halte ich die Idee von einem Volkskörper weder für überzeugend noch für verlockend. Ich sehe dort zu viele Widersprüche zur Idee individueller Freiheit.
Und zweitens, finde ich auch die Befunde der Evolutionsforschung als bedrohlich. Dort glaube ich ein evolutionäres Prinzip zu erkennen, demnach Individuen letztendlich nur Bausteine für eine nächsthöhere Stufe der Komplexität sind. Und was dann? Interessant finde ich den Gedanken von großen Habitaten im Weltraum, in denen soziale Utopien getrennt voneinander ausprobiert werden könnten.[51]
Quaestiones
- 1) Gibt es geschichtliche Vorbilder von einem Volkskörper, der über eine längere Zeit verwirklicht war? Kann man das durch Quellen von damals in den Volkskörpern lebenden Menschen belegen? Falls man keine geschichtlichen Vorbilder für Volkskörper findet, warum nicht? Was waren die Probleme? Wie wollen heutige Befürworter eines Völkskörpers diese Probleme lösen?
- 2) Wie sicher kann man sich sein, dass man beim herbeigesehnten Volkskörper auf der Gewinnerseite bleibt? Erwartet man ernsthaft Solidarität oder Fürsorge wenn man eine "familienfeindliche" sexuelle Orientierung hat, wirtschaftlich nutzlos wird oder sich politisch nicht ausreichend engagiert zeigt?
- 3) Was außer sich selbst und den Kampf gegen andere kann ein Volkskörper als höheres Ideal anbieten? Genügt es auf Dauer wenn wir unseren Alltag mit völkischem Essen verbringen, Trachten tragen, nationalstolze Gebäude bauen und uns an unserer Geschichte erfreuen sollen? Sollte da nicht noch mehr sein?
- 2) Tiere neigen zu einer kulturellen Artenbildung. Anthropologen beschreiben an vielen Beispielen, wie auch naturnah lebende Menschengruppen zu Gruppenhass neigen. Kann es sein, dass jedes Aufweichen des darwinistischen Kampfes von Gruppen gegeneinander letztendlich zu einer Degeneration führen muss. Haben die Sozialdarwinisten im Kern vielleicht doch Recht?
Fußnoten
- [1] Der Franzose Rene Worms etwa glaubte, dass die Gesetze die den sozialen Körper regieren dieselben sind, die auch für Zellen in einem Organismus gelten: "Et d'autre part, les lois qui régissent les membres du corps social sont, au moins pour partie, celles qui régissent les cellules de l'organisme." In: René Worms: Organisme et Société. V. Giard et E. Brière, Paris 1896. Dort die Seite 8. Siehe auch Organizismus ↗
- [2] Adolf Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Zentralverlag der NSDAP., Frz. Eher Nachf., G.m.b.H., München. 851. bis 855. Auflage 1943. Siehe auch Mein Kampf ↗
- [3] Winfried Süß: Der "Volkskörper" im Krieg: Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939-1945 (Studien zur Zeitgeschichte, 65, Band 65). De Gruyter Oldenbourg. 2003. ISBN: 978-3486567199.
- [4] Benedikt Föger und Klaus Taschwer: Die andere Seite des Spiegels. Konrad Lorenz und der Nationalsozialismus. Czernin, Wien 2001, ISBN 3-7076-0124-2. Dort die Seite 91.er
- [5] Auszug aus einem Ahnenpaß (Ariernachweis) des „Reichsverband der Standesbeamten Deutschlands (RDSD)“, 31. Ausgabe (mit Sterbebeurkundungen), Verlag für Standesamtswesen G.m.b.H. Berlin SW 61. Dort die Seite 41.
- [6] Albert Schäffle: Bau und Leben des sozialen Körpers. 1875. Siehe auch Albert Schäffle ↗
- [7] Schmiechen-Ackermann, Detlef (Hrsg.): Volksgemeinschaft‘: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im ‚Dritten Reich?. Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte. Paderborn 2011. Ferdinand Schöningh, ISBN 978-3-506-77165-0 377 Seiten.
- [8] Oltmer, Jochen (Hrsg.): Nationalsozialistisches Migrationsregime und ‚Volksgemeinschaft‘. Paderborn 2012 : Ferdinand Schöningh. ISBN 978-3-506-77334-0 298 Seiten.
- [9] Dass die Idee einer Volksgemeinschaft bloß eine "Täuschungsstrategie" war ist ein Argument in: Timothy W. Mason, Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1977. Dort die Seiten 27 und 177.
- [10] Aus den Erzählungen der Generation meiner Großeltern und Eltern (Jahrgänge 1900 bis etwa 1938) stammen etwa oft wiederholte Geschichten wie die folgenden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in unserem Heimatdorf viele Flüchtlinge aus dem ehemals sudetendeutschen Asch angesiedelt. Sie wurden zum Beispiel zwangsweise bei Ortsansässigen einquartiert, was bei diesen Unwille schuf. Auch ein Witz dokumentierte die Ablehung: wo ist die stärkste Bombe im Krieg gefallen? In Asch: der Dreck ist bis nach hier geflogen.
- [11] Eine andere Anekdote aus dem Krieg aus den Erzählungen meiner Elterngeneration: während der eigene Vater an der Ostfront Sanitäter war, gab es einen anderen wehrfähigen jungen Mann im Ort, der den gesamten Krieg über nicht an die Front musste. Auf die scheinbare Ungerechtigkeit angesprochen soll der damalige Bürgermeister, Jakob Dammköhler, gesagt haben, dass er auf diesen jungen Mann im Ort nicht verzichten könne, da er sein bester Fahnenträge sei. Solche Geschichten dokumentieren eher Günstlingswirtschaft als völkische Solidarität.
- [12] Sehr bemerkenswert ist ein Buch über die Lebenserinnerungen ehamaliger Stalingrad-Kämpfer. Eine häufig wiederkehrendes Motiv ist die Distanz und das Desinteresse der höheren Offiziere am Leben der einfachen Soldaten. Während der "einfache Landser" Hunger litt, habe man in Offiziersquartieren Champagner genossen. In: Carl Schüddekopf. Im Kessel. Erzählen von Stalingrad. Weltbild Verlagsgruppe. Augsburg. 2002. ISBN: 3-829-0580-3.
- [13] Rolf Pohl, in: Schmiechen-Ackermann, Detlef (Hrsg.): Volksgemeinschaft‘: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im ‚Dritten Reich?. Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte. Paderborn 2011. Ferdinand Schöningh. ISBN 978-3-506-77165-0. Dort die Seite 79.
- [14] Die Soziobiologie konnte sich in den Sozialwissenschaften nicht behaupten: "Unter dem Titel „Soziobiologie“ tritt seit den 1970er Jahren eine einflussreicheWissenschaftsrichtung mit dem Ziel einer Vereinheitlichung vieler Wissenschaftsbereiche an. Unter einer naturwissenschaftlichen Ausrichtung sollten im Rahmen einer Synthese auch die Sozial-wissenschaft und insbesondere die Soziologie „biologisiert“ werden. Diese Vereinheitlichung kannheute als gescheitert gelten, obwohl die Soziobiologie und andere evolutionäre Theorien sich ins-gesamt behauptet haben und in diversen Disziplinen anschlussfähig wurden." In: Richter, D. Das Scheitern der Biologisierung der Soziologie. Koelner Z.Soziol.u.Soz.Psychol 57, 523–542 (2005). DOI: doi.org/10.1007/s11577-005-0187-4. Online: https://www.researchgate.net/publication/225141816_Das_Scheitern_der_Biologisierung_der_Soziologie
- [15] Der Aussage "Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen." stimmten in einer Umfrage aus dem Jahr 2022 nur 7,1 % der befragten Personen "überwiegend" oder "voll und ganz" zu. 47,5 % beziehungsweise 23,9 % der Befragten lehnten die Aussage "völlig" oder "überwiegend" ab. Die hier zitierte Studie betrachtete unter anderem die Aktualität des Sozialdarwinismus in der Bundesrepublik Deutschland. In: Oliver Decker, Johannes Kiess, Ayline Heller, Elmar Brähler (Hg.): Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten Neue Herausforderungen – alte Reaktionen?
- [16] Der Drang zur Ausbildung homogener Gruppen könnte starke evolutionäre Wurzeln haben: "Group formation is a quite ubiquitous phenomenon across different animal species […] In our model we hypothesize that homogeneity constitutes a fundamental ingredient in these dynamics […] the heterogeneity of a group can in principle constitute an advantage, or a disadvantage, depending on the context of reference". Mit Hilfe der "Evolutionary Game Theory (EGT)" und der Vektorrechnung wird theoretisch untersucht, wie der individuelle Nutzen (payoff) sich verändert, wenn Individuen in Gruppen oder für sich einzeln handel. Ein Ergebnis der Betrachtung ist, dass eine scharfe Grenze und keinen fließenden Übergang zwischen Gruppenbildung und Individualismus gibt (transition in the phase). In: Javarone MA, Marinazzo D. Evolutionary dynamics of group formation. PLoS One. 2017 Nov 14;12(11):e0187960. doi: 10.1371/journal.pone.0187960. PMID: 29136020; PMCID: PMC5685569.
- [17] Rüdiger Riesch: Orcas - Artbildung einmal anders. Untertitel: Spaltet sich der Große Schwertwal gerade in mehrere Arten auf? Forscher vermuten das, weil sich einzelne Gruppen weitgehend meiden und ganz verschieden verhalten – teils sogar im selben Lebensraum. In: Spektrum der Wissenschaft. April 2017.
- [18] "Reproduktive Barrieren" oder "reproductive isolation", im Deutschen vielleicht genetische Barriere, Genschranke oder Isolationsmechanismen, sind ein Schritt hin zu Bildung biologischer Arten: In: Kulmuni Jonna, Butlin Roger K., Lucek Kay, Savolainen Vincent and Westram Anja Marie: Towards the completion of speciation: the evolution of reproductive isolation beyond the first barriers. In: Phil. Trans. R. Soc. B3752019052820190528. 2020. DOI: http://doi.org/10.1098/rstb.2019.0528
- [19] Artenbildung gab es schon vor Beginn der biologischen Evolution. Es scheint ein stabiles und bewährtes Phänomen zu sein: Jia TZ, Caudan M, Mamajanov I. Origin of Species before Origin of Life: The Role of Speciation in Chemical Evolution. Life (Basel). 2021 Feb 17;11(2):154. doi: 10.3390/life11020154. PMID: 33671365; PMCID: PMC7922636.
- [20] Die vermeintlich notwendige Übertragung von einem Ist-Zustand der Natur hin zu einem Soll-Zustand für menschliche Gesellschaften gilt in der Philosophie als naturalistischer Fehlschluss ↗
- [21] "Im 1. Bundestag wurden die Begriffe ‚Volksgemeinschaft‘, Volksgenosse/n‘ und ‚Volkskörper‘ […] in der deutlichen Mehrheit der Fälle von Abgeordneten benutzt, die nicht dem organisierten Rechtsextremismus zuzuordnen sind. So stammen allein fast zwei Drittel der Wortbeiträge, in denen die Begriffe in nicht-kritischer Absicht genannt werden, von Abgeordneten der drei größten Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP. " In: Simon Specht, « Die ‚Volksgemeinschaft‘ nach dem Nationalsozialismus », Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande [online], 52-2 | 2020, online veröffentlicht am 31 Dezember 2021. DOI: doi.org/10.4000/allemagne.2467. Online: http://journals.openedition.org/allemagne/2467
- [22] Adolf Hitler hob in seinem "Aufruf an die Deutsche Nation" vom 10. Februar 1933 im Berliner Sportpalast zunächst die Trennung des Volkes hervor: Wenn schon das Leben die Herkunft der einzelnen Menschen, die Wirtschaft, Stand und Beruf, Bildung, Wissen, Vermögen sie trennen, dann kann nicht die Politik auf dieser Trennung aufbauen und sie politisch organisieren und damit verewigen." Die Aufgabe der Politik, so Hitler, sie es, diese Trennung zu überwinden: "Reich und Arm, Stadt und Land, Gebildete, Wissende und Unwissende, sie sind da, Aufgabe der Politik kann es nun nicht sein, sie deshalb getrennt zu organisieren und sie niemals wieder zusammen kommen zu lassen. Sondern Aufgabe der politischen Führung muss es sein, diese Trennungen nun durch ein größeres Ideal, durch eine größere Erkenntnis zu überwinden."
- [23] "Die biologische Evolution verlischt, wie wir gesehen haben. Pflanzen und Tiere, die unsere Nahrung bilden, die uns erfreuen, werden zu Teilen des Systems. Es sind Bausteine, die im Netz der Integration ihre Rolle haben und von ihm erhalten werden."Carsten Bresch: Zwischenstufe Leben – Evolution ohne Ziel? R. Piper & Co. Verlag. München. 1977, ISBN 3-492-02270-7. Seite 250 ff. Siehe auch MONON ↗
- [24] Joël de Rosnay: Homo symbioticus. Einblicke in das 3. Jahrtausend, Gerling Akademie Verlag, München 1997, ISBN: 3-9803352-4-0. Französisches Original: L'homme symbiotique. Editions du Seuil Paris. 1995. Siehe auch Kybiont ↗
- [25] Gregory Stock: Metaman:The Merging of Humans and Machines into a Global Superorganism. (1993). Siehe auch Metaman ↗
- [26] Evolutionäre Transitionen, vor allem biologisch und mathematisch betrachtet, sind beschrieben in: John Maynard Smith, Eörs Szathmáry: The Major Transitions in Evolution. Oxford University Press, New York 1995, ISBN 0-19-850294-X.
- [27] George Orwell betonte, wie sehr jede Form von Nationalismus oder Gruppendenken von Vergleichen mit anderen Gruppen getragen ist: "The abiding purpose of every nationalist is to secure more power and more prestige, not for himself but for the nation or other unit in which he has chosen to sink his own individuality." In: George Orwell: Notes on Nationalism. Zuerst veröffentlicht im Oktober 1945 in: Polemic.
- [28] "Etappenhengst oder Etappenschwein! So die Bezeichnung für die Soldaten, die in sauberen Uniformen weit ab vom Geschehen in Saus und Braus leben. In: Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache. Abgerufen am 17. März 2024. Online: https://www.dwds.de/wb/Etappenschwein
- [29] Ein Goldfasan als Metapher war ein "in der Zeit des Nationalsozialismus: (einen Dienstrang bekleidender) Amtsträger, höherer Funktionär in goldbrauner Uniform, z. B. Politischer Leiter der NSDAP" In: Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache. Abgerufen am 17. März 2024. Online: https://www.dwds.de/wb/Goldfasan
- [30] Man lese dazu zum Beispiel die Bücher von Lothar Günter Buchheim, speziell: Die Festung. Verlag Hoffmann und Campe. 1995. Das autobiographische Buch schildert an vielen Einzelfällen, wie die Führung des NS-Staates, zum Beispiel in Form des Großadmirals Dönitz, blind und sinnlos das Leben der Soldaten vergeudete.
- [31] Eine beißende Satire auf die Doppelmoral während der NS-Zeit ist Erich Loests: Die Mäuse des Dr. Ley. Verlag Walther. 1984.
- [32] Götz Aly, Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Hier ist relavant das Kapitel: Die Morde an den deutschen Geisteskranken, Seite 265 ff. Siehe auch Euthanasie ↗
- [33] "Im Zuge der von der Kriminalpolizei zwischen dem 13. und 18. Juni 1938 durchgeführten Aktion "Arbeitsscheu Reich" gegen als "asozial" eingestufte Personen wurden mehr als 10.000 Menschen verhaftet und in Konzentrationslager (KZ) verschleppt." In: Thomas Rink. Deutsches Historisches Museum, Berlin. 6. September 2002. Text: CC BY NC SA 4.0.
- [34] In der Soziologie spricht man auch von Gruppenkohäsion ↗
- [35] Der Franzose René Worms beschreibt in enger Anlehung an biologische Organismen, dass sich Individuen im Volkskörper (corps social) an Funktionen anpassen (adapter a des fonctions) und sich dabei differenzieren (differencier). In: Les principes biologiques de l’evolution sociale. V. Giard et E. Brière, Paris 1910. Seite 73 ff. Siehe auch Arbeitsteilung ↗
- [36] Valentin Turchin: The Phenomenon of Science. New York: Columbia University Press. ISBN 978-0-231-03983-3. Erstmals veröffentlicht im Jahr 1977. Hier vor allem das Kapitel: The Super-Being
- [37] Dietmar von Reeken, Malte Thießen: ‚Volksgemeinschaft‘ als soziale Praxis: Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, 2013. 377 S. ISBN 978-3-506-77745-4.
- [38] So habe etwa Thomas Göbel von der AfD Sachsen gesagt, die deutsche Volksgemeinschaft leide "unter einem Befall von Parasiten". In: Max Gilbert: Von Parasiten und Messermännern. Suedeutsche Zeitung. 13. September 2019.
- [39] Die Reinheit der Rassen fordert auch der AfD-Politiker Björn Höcke: "Die Weißen und die Schwarzen setzten sich vor ihrer Amerikanisierung aus mehreren hochdifferenzierten Völkern mit eigenen Identitäten zusammen. Jetzt sind sie in einer Masse aufgegangen. Diesen Abstieg sollten wir Europäer vermeiden und die Völker bewahren." In: 25 Extreme Höcke-Zitate. Abgerufen am 17. März 2024. Online: https://www.volksverpetzer.de/analyse/25-krasse-hoecke-zitate/
- [40] Ich glaube, es gibt tatsächlich so etwas wie einen inneren Trieb dahin, dass Menschen gegeneinande kämpfende Gruppen bilden. Der Trieb äußert sich dabei nicht unbedingt als Wunsch nach Krieg. Es genügt wenn er Gefühle der Benachteiligung durch andere Gruppen aktiviert. Man denke denke an die Rhetorik der deutschen Kaiserzeit, wo Deutschland nur wie andere Nationen auch seinen "Platz an der Sonne" wollte. Oder die Rhetorik von Donald Trump, die immer wieder darauf abzielt, dass etwa andere NATO-Länder die USA ausnutzen. Ausreichend lange gefördert, führen Gefühle ungerecht behandelter Vaterländer, verletzten Nationalstolzes oder missbrauchter Solidarität durch "Volksparasiten" zu Krieg.
- [41] Bleibt man nah an der Metapher vom biologischen Körper kann man auf den sogenannten programmierten Zelltod, die Apoptose verweisen. Nutzlose oder schädliche Zellen bringen sich dann so um, dass sie dem umliegenden Gewebe, also dem Volkskörper, möglichst wenig Schaden zufügen. Manche Autoren sehen hier Parallelen zum sozialen Rückzug depressiver Menschen. Siehe dazu auch Apoptose ↗
- [42] Man denken an die puritanische Vision eines Oliver Cromwell, die erzwungene Brüderlichkeit in der Französischen Revolution, die Ideale des Kommunismus in der ehemaligen Sowjetunion.
- [43] Mein Vater berichtete, wie er nahe der Stadt Schitomir in der Ukraine durch einen Granatsplitter verwundet wurde. In einem Lazarettzug Richtung Lublin kamen an Haltepunkten immer wieder Ärzte in die Waggons, die die hoffnungslosen (aber noch lebenden) Fälle aus dem Waggon entfernten und ihrem Schicksal überließen. Meinen Vater, so die Erzählung, rettete nur seine Zugehörigheit zu den Fallschirmjägern, die als wertvoll galten. Diese Episode im Winter 1943 fand zur Zeit des nationalsozialistischen Volkskörpers statt. Ganz ähnliche Berichte finden sich auch in: Carl Schüddekopf. Im Kessel. Erzählen von Stalingrad. Weltbild Verlagsgruppe. Augsburg. 2002. ISBN: 3-829-0580-3.
- [44] Die 43 Treffer stammen aus einer Wortsuche in einem digitalisierten Originaltext von Mein Kampf. Tatsächlich kann das Wort noch öfters vorgekommen sein, da die Suche am Zeilende getrennte Worte nicht erkannte. Siehe auch Mein Kampf ↗
- [45] Ein Bild von einem Mann mit den Organen als Teile der Gesellschaft illustriert zum Beispiel das mittlelaltliche Werk L'avis au roy; L'advis au roy aus der Zeit um 1347 bis 1350: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Body_politic.jpg
- [46] Diese Wertschätzung drückte sich zum Beispiel in dem Programm "Kraft durch Freude" aus, bei dem "Volksgenossen" zu günstigen Preisen große Reisen unternehmen konnten. So nahm mein Großonkel an einer ausgedehnten Kreuzfahrt nach Norwegen teil. Ein persönliches Photoband ist noch heute in meinem Besitz.
- [47] Ich besitze den Ariernachweis meines Großonkels. Dieser richt zurück bis ins Jahr 1798. Lückenlos nachvollziebar sind dort alle Vorfahren beider Elternteile aufgelistet. Vermutlich war der Anlass, dass mein Großonkel die Geschäftsführung einer Silberschmiede in seiner Heimatstadt übernahm.
- [48] Klassisch eusoziale Lebensformen sind zum Beispie die Volvox-Kugelalge, in Staaten lebende Insekten, Nacktmulle und ansatzweise auch der Mensch. Siehe auch Eusozialität ↗
- [49] Ein klassisches Merkmal eusozialer Lebensformen ist, dass die meisten Individuen steril, das heißt unfruchtbar sind. Siehe dazu zellulärer Flaschenhals ↗
- [50] Der US-Amerikaner Howard Bloom (geboren 1943) spricht hier vom sogenannten Luzifer-Prinzip: das Wohl des Ganzen fordert Opfer vom Individuum. Zu Blooms Gedankengang siehe auch kollektive Lernmaschine ↗
- [51] Eine Übersicht zu Versuchen utopische Lebensformen zu verwirklichen ist beschrieben im Artikel zu Gemeinschaftssiedlungen auf religiöser und weltanschaulicher Grundlage ↗
- [52] Als ich in den 1990er Jahren in einer Firma zur Entwicklung technischer Software arbeitete, konnten wir mit dem Kunden immer leicht Einigkeit finden, wenn wir davon sprachen, dass es wichtig sei, dass alle Daten in eine Datenbank geschrieben werden sollen. Der Kunde dachte stillschweigend, dass mit seinem (teuren) Programmierauftrag auch verbunden sei, dass man die gespeicherten Daten wieder aus der Datenbank auslesen kann. Für den Programmierer aber waren schreiben und lesen zwei völlig getrennte Vorgänge. Da niemand genau präzisierte, was das Schreiben in eine Datenbank genau meint (und was nicht), kam dämmerte die Erkenntnis dem Kunden erst bei der Auslieferung der Software. Das Beispiel war typisch für den Effekt, dass man mit allgemeinen und unscharfen Worten leicht Einigkeit erreicht, die abe spätestens dann schwindet, wenn es konkret wird.
- [53] Superorganismus ist ein Fachbegriff aus der Biologie. Im engeren Sinn versteht man dazu einen Überorganismus, der aus nur gleichartigen Individuen einer Art besteht. Siehe mehr unter Superorganismus ↗
- [54] Eine Ganz-Körper-Apoptose (whole-body apoptosis) zur Vermeidung von Alterssiechtum schlägt der Philosoph Daniel Clement Dennett (geboren 1942) vor: Wie beim programmierten Zelltod in Organismen, würde ein Mensch dann sein Leben in würdiger Weise beenden: "We could arrange to have a human body switch itself off quite abruptly and painlessly at a time to be determined." In: Daniel Clement Dennett: Whole-Body Apoptosis. In: Artifact 2(3-4):153-156. September 2008. DOI:10.1080/17493460802012447. Siehe auch Apoptose (Soziologie) ↗
- [55] Für rassisch hochwertig befundene Angehörige Männer der SS wurden zu außerehelichem Sex aufgefordert. Die betroffenen Mütter und ihre Kinder wurde in eigenen Heim gut umsorgt. Behinderte Kinder jedoch wurde getötet und die entsprechenden Mütter verloren alle Privilegien. Dorothee Schmitz-Köster: Deutsche Mutter, bist du bereit ... Alltag im Lebensborn. Aufbau, Berlin 1997. Das Lebensborn-Programm der SS von Heinrich Himmler nimmt Züge eines zellulären Flaschenhalses wie er bei eusozialen Mehrzellern auftritt, vorweg.
- [56] Die Vorstellung vom Survival of the Fittest war nicht nur unter NS-Ideologen verbreitet. Der österreichische Physiker Erwin Schrödinger (1887 bis 1961), in einer Übesetzung eines Buches aus dem Jahr 1944 ins Deutsche: "Wenn die Nachkommen ausnahmslos das getreue Abbild ihrer Eltern wären, dann wären uns nicht nur all die schönen Versuche, welche uns den Vererbungsvorgang im einzelnen zeigen, versagt, sondern auch das großartige millionenfache Experiment der Natur, die durch die natürliche Zuchtwahl und das Überleben des Stärkeren die Arten formt." Und: "Weil die Mutationen sich rein vererben, sind sie andererseits ein geeignetes Arbeitsmaterial für Darwins Zuchtwahl, die die Schwachen ausmerzt und die Starken überleben läßt und damit die Arten hervorbringt." In: Erwin Schrödinger: Was ist Leben?: Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. R. Piper GmbH & Co. KG, München 1987. ISBN: 3-492-11134-3. Dort die Seiten 58 und 61. Siehe auch Kampf ums Dasein ↗
- [57] Zur Eusozialität von menschlichen Gesellschaften siehe zum Beispiel: "Eusociality in Humans" In: Part II - Sociocultural Anthropology and Evolution. In: Part II. The Cambridge Handbook of Evolutionary Perspectives on Human Behavior. Cambridge University Press. 2020. ISBN: 9781108131797. DOI: https://doi.org/10.1017/9781108131797
- [58] Die Autorin betrachtet unter anderem die Rolle von Harems und Eunuchen. Man vergleiche das mit der Charakterisierung "Eusociality, in which some individuals reduce their own lifetime reproductive potential to raise the offspring of others," von Edward O. Wilson. In: Laura Betzig: Eusociality in History. Hum Nat 25, 80–99 (2014). DOI: https://doi.org/10.1007/s12110-013-9186-8
- [59] Abtreibung verbieten, Homosexualität einschränken, außereheliche Beziehung abwerten, Minderheiten sterilisieren, Kontrolle über Verhütungsmittel, die Verdammung von Beziehungen mit Ausländern sowie auch der tendenzielle Schutz von Vergewaltigern: wie konservative Wähler mit einer Kontrolle der Sexualität anderer gewonnen werden können beschreibt unter anderem der Artikel: Mit Sexualität lässt sich immer und überall Politik machen: Die amerikanische Historikerin Dagmar Herzog erklärt, warum die Haltung zur Abtreibung für Trumps Wahl ausschlaggebend war. In: Das Magazin 2017 Ausgabe 6. CUNY School of Professional Studies. Online: https://www.gc.cuny.edu/sites/default/files/2021-12/Das-Magazin-2017_6.pdf
- [60] Zwang und Kontrolle sind auch Teil der Definition eines allgemeinen Metasystems: "Ein System S', das aus Untersystemen S sowie zusätzlich einem Kontrollmechanismus für das Verhalten und die Herstellung von S verfügt nennt man eine Metasystem" In: Valentin Turchin, Cliff Joslyn: The Metasystem Transition. Principia Cybernetica Web (Principia Cybernetica, Brussels), 1993. Mehr unter Metasystem ↗
- [61] Die Entstehung eines Superbeings hin zu einem "Social Body" ist eine Metasystem-Transition: Society can be viewed as a single super-being. Its `body' is the body of all people plus the ob jects that have been and are being made by people: clothing, dwellings, machines, books, etc. Its `physiology' is the physiology of all people plus the culture of society, which I understand in a very wide sense as a certain method of controlling the physical component of the social body and the way that people think. The emergence and development of the social body marks the beginning of a new metasystem transition". In: Valentin Turchin: A Dialogue on Metasystem Transition. The City College of New York. July 12, 1999. Dort die Seite 48. Siehe auch Super-Wesen ↗