Superorganismus
Kollektiv
Definition
Als Superorganismus bezeichnet man ein Kollektiv (gleichartiger) lebender Individuen, die als Ganzes Symptome individueller Intelligenz zeigen, dabei jedoch über die Fähigkeiten der Individuen hinausgehen. Auch ganze Ökosysteme, oder gar die gesamte Biosphäre werden bisweilen als Superorganismus bezeichnet, was aber begrifflich umstritten ist.
Begriffsentstehung
Nach dem Wikipedia-Artikel „Superorganismus“ wurde der Begriff 1910 von den US-amerikanischen Biologen William Morton Wheeler geprägt, und zwar auf der Grundlage seiner Arbeiten an Ameisen. Nach James Lovelock charakterisierte aber bereits der Geologe James Hutton (1578-1657) die Erde in ihrer Gesamtheit als einen Superorganismus. Für Lovelocks Bezug lassen sich aber keine Belege finden.
Staaten als Superorganismus
Im 19ten und frühen 20ten Jahrhundert entwickelten verschiedene Autoren die Idee, dass menschliche Gesellschaften in ihrer Ganzheit ähnlich einem individuellen Organismus seien. Als wesentliche Bestandteile wurden dabei vor allem Menschen selbst betrachtet und nicht - wie später - etwa auch Maschinen oder Infrastruktur. Insofern kann die eine Gesellschaft als Organismus interpretieren auch als Superorganismus im engeren Wortsinn bezeichnet werden. Lies mehr dazu unter organische Theorie ↗
Abgrenzung zu Schwärmen
Als Superorganismus bezeichnet man tendenziell intelligente Strukturen aus mehreren Individuen. Dabei spielt die arbeitsteilige Differenzierung der Individuen in Organe eine wichtige Rolle, wie zum Beispiel bei Termiten[11]. Handelt es sich um eine Intelligenz aus vielen ähnlichen aber nicht arbeitsteilig organisierten Individuen spricht man eher von einer Schwarmintelligenz. Dabei sind die Grenzen aber fließend[21]. Siehe auch Schwarmintelligenz ↗
Lokal und global
Superorganismen können lokal begrenzt sein, etwa Bienenkolonien[18] oder tierische Schwämme. Die Idee eines weltumspannenden Superorganismus aus biologischend und digtialen Bestandteilen[16] ist wird näher betrachtet im Artikel globaler Superorganismus ↗
Abweichende Verwendung des Begriffes
Verschiedene Autoren verwenden den Begriff Superorganismus für jedweden Organismus der als zusammengesetzt aus untergeordneten Organismen gedacht werden kann[5]. Joel de Rosnay spricht in der Einleitung von seinem Buch "Homo Symbioticus" von einem globalen Superoganismus aus Maschinen, Menschen und ökonomischen Strukturen[20]. Gleichbedeutend verwendet Gregory Stock das Wort im Titel seines Buch "Metaman. The Merging of Humans and Machines into a Global Superorganism". Auch James Lovelock definiert seine hypothetisch lebende Erde explizit als einen Superorganismus: "Ein Superorganismus ist ein Ensemble aus lebender und nichtlebender Materie, das in seiner Gesamtheit ein einziges, sich selbst regulierendes System darstellt."[9]. Howard Bloom bezieht Superorganismus unter anderem auf Tiergruppen und neuronale Netze[10]. Siehe auch Technosoziobiont ↗
Fußnoten
- [1] Johannes Mehring: Das neue Einwesensystem als Grundlage zur Bienenzucht oder Wie der rationelle Imker den höchsten Ertrag von seinen Bienen erzielt. Auf Selbsterfahrungen gegründet. Frankenthal, Albeck 1869. 344 S.
- [2] Karl August Möbius: Die Auster und die Austernwirthschaft. Verlag von Wiegandt, Hemple & Parey, 1877. 126 Seiten.
- [3] Johannes Mehring: Das neue Einwesen-System als Grundlage zur Bienenzucht. Auf Selbsterfahrungen gegründet. Theoretischer Teil neu herausgegeben von Ferdinand Gerstung. Waetzel, Freiburg i. B. 1901. 68 S.
- [4] William Morton Wheeler: The ant-colony as an organism. (A lecture prepared for delivery at the Marine Biological Laboratory, Woods Hole, Mass., August 2, 1910). In: Journal of Morphology. Bd. 22, Nr. 2, 1911, ISSN 0362-2525, S. 307–325, doi:10.1002/jmor.1050220206.
- [5] Definition: "Superorganismus […], eine Vielzahl von Einzelorganismen, die voneinander abhängig sind und insgesamt eine selbstregulierende Einheit bilden." In: Spektrum Lexikon der Biologie. Online Version vom Februar 2024.
- [6] William Morton Wheeler: The ant-colony as an organism. (A lecture prepared for delivery at the Marine Biological Laboratory, Woods Hole, Mass., August 2, 1910). In: Journal of Morphology. Bd. 22, Nr. 2, 1911, ISSN 0362-2525, S. 307–325, doi:10.1002/jmor.1050220206.
- [7] Peter Kramer, Paola Bressan: Humans as superorganisms: How microbes, viruses, imprinted genes, and other selfish entities shape our behavior. In: Perspectives on Psychological Science 10 (4), 2015: 464–481. doi:10.1177/1745691615583131.
- [8] Spencer, Herbert: Principles of sociology. MacMillan, London 1969. Erstveröffentlichung im Jahr 1873.
- [9] James Lovelock: Gaia. Die Erde ist ein Lebewesen. Wilhelm Heyne Verlag. 1996. Im englischen Original bereits 1991 erschienen. Die Definition von Superorganismus steht auf Seite 64.
- [10] Howard Bloom: Global Brain. Die Evolution sozialer Intelligenz. Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart. 1999. ISBN: 3-421-05304-9. [Superorganismus erwähnt auf den Seiten 23 und 227]
- [10] Peter Russell: Auf dem Weg zum globalen Gehirn. Die digitale Revolution ist die letzte Stufe auf dem Weg zu einem Superorganismus. Übersetzt von Florian Rötzer. 3. Dezember 1996. In: Telepolis. https://www.heise.de/tp/features/Auf-dem-Weg-zum-globalen-Gehirn-3412629.html
- [11] Scott J. Turner: Semiotics of a superorganism. Biosemiotics 9: 85–102. 2016.
- [12] Heikki Helanterä: An Organismal Perspective on the Evolution of Insect Societies. In: Front. Ecol. Evol., 11 February 2016. Sec. Social Evolution. Volume 4 - 2016. https://doi.org/10.3389/fevo.2016.00006
- [13] Hölldobler, B., and Wilson, E. O.: The Superorganism. New York, NY: WW Norton & Company Inc. 2008.
- [14] Wilson, D. S., and Sober, E.: Reviving the superorganism. J. Theor. Biol. 136, 337–356. 1989. doi: 10.1016/S0022-5193(89)80169-9
- [15] Howard Bloom: The Lucifer Principle: A Scientific Expedition into the Forces of History. Atlantic Monthly Press, 1995, ISBN 978-0-87113-532-2. Dort das Kapitel: Superorganism. Seite 57 ff.
- [16] Gillings, Michael R;Hilbert, Martin;Kemp, Darrell J: Information in the Biosphere: Biological and Digital Worlds. In: Trends in Ecology and Evolution. Volume 31, Issue 3, Pages 180-189, March 2016. DOI: 10.1016/j.tree.2015.12.013. Online: https://escholarship.org/uc/item/38f4b791
- [17] Superorganismen als oft bizarres Ergebnis von Eusozialtät bei Insekten und auch Menschen: The “superorganisms” emerging from eusociality are often bizarre in their constitution, and represent a distinct level of biological organization. In: Nowak MA, Tarnita CE, Wilson EO. The evolution of eusociality. Nature. 2010 Aug 26;466(7310):1057-62. doi: 10.1038/nature09205. PMID: 20740005; PMCID: PMC3279739. Siehe auch Eusozialität ↗
- [18] Superorganismus und Eusozialität sind eng verbunden, etwa bei Bienenstaaten: "The colony functions as an inseparable superorganism. Namely, the queen mates and lays eggs, while the workers perform diverse tasks: forage for food (floral nectar and pollen) outside the colony, provision the brood with food, clean and guard inside the colony. These features, based on overlap of generations, reproductive division of labour and communal brood care, are considered the hallmarks of eusociality." In: Keasar Tamar, Pourtallier Odile and Wajnberg Eric: Can sociality facilitate learning of complex tasks? Lessons from bees and flowers. Phil. Trans. R. Soc. Veröffentlicht im Jahr 2023. DOI: http://doi.org/10.1098/rstb.2021.0402
- [19] Die Ausbildung unfruchtbarer Arbeiterkasten sollte als ein entscheidendes Kriterium für die Entstehung eines Superorganismus angesehen werden: "The evolution of eusociality in social insects, such as termites, ants, and some bees and wasps, has been regarded as a major evolutionary transition (MET). Yet, there is some debate whether all species qualify. Here, we argue that worker sterility is a decisive criterion to determine whether species have passed a MET (= superorganisms), or not." In: Abel Bernadou, Boris H. Kramer, Judith Korb: Major Evolutionary Transitions in Social Insects, the Importance of Worker Sterility and Life History. In: Front. Ecol. Evol., 26 October 2021. Sec. Social Evolution. Volume 9 - 2021. DOI: https://doi.org/10.3389/fevo.2021.732907
- [20] In der Einleitung seines Buches spricht der Franzose Joël de Rosnay (geboren 1937) von der Entstehung eines menschlichen Superorganismus: Homo symbioticus. Einblicke in das 3. Jahrtausend, Gerling Akademie Verlag, München 1997, ISBN: 3-9803352-4-0. Französisches Original: Le Cerveau planétaire. 1986. Siehe auch Homo symbioticus ↗
- [21] Etwa 10 tausend plötzlich von einer Salzwiese im niederländischen Wattenmeer auffliegende Strandläufer vollführen "synchronisierte Flugmanöver in rasender Geschwindigkeit" und erscheinen als "chaotische Wolke". Dabei leuchten die hellen Unterseiten der Vögel hell in der untergehenden Sonne auf, die dunklen Oberseiten der restlichen Vögel zeichnen eine "dunkle Silhouette". Mit diesem Verhalten wird ein angreifender Merlin so verwirrt, dass er am Ende ohne Beute ausgeht. "Aus der Ferne", so ein vogelkundliches Buch "wirkt der Schwarm wie ein amorpher Superorganismus". In: Peter Südbeck, Franz Bairlein, Reno Lottmann (Herausgeber): Zugvögel im Wattenmeer. Faszination und Verantwortung. Brune-Mettcker Druck- und Verlags-GmbH. Wilhelmshaven, Wittmund. 2018. Dort das Kapitel 2 "Von großen Keilen, langen Linien und leuchtenden Wolken", verfasst von Thorsten Krüger. Dort die Seite 39.