Unvorstellbarkeit der Utopie
Spekulative Philosophie
Einführung
Jedem ernst gemeinten Vorschlag für ein Paradies haftet etwas Kindliches, etwas Infantiles an. Auf alle Ewigkei soll man dort glücklich sein, versprechen etwa der Islam und das Christentum. Aber wie soll man sich diesen Zustand bildlich vorstellen? Die Männer im Islam haben ihre Jungfrauen, die Christen dürfen dauerhaft in der Nähe Gottes bleiben. Wer mit einem solcher Dauerzustand alleine schon Glückseligkeit wird, ist damit zu einer reinen Glück-Fühl-Maschine herabgewürdigt. Das Paradies als Utopie muss etwas haben, dass jenseits jetziger Vorstellungskraft liegt. Auch das betonen ja die Religionen immer wieder.
Probleme mit der Vorstellung der Utopie
Die religiösen Verheißungen von einem paradiesischen Zustand verweisen auf eine Existenz jenseits menschlicher Vorstellungskraft. Sie tun das zu Recht. Das wird deutlich, wenn man selbst, für sich, versucht, einen perfekten Zustand auszumalen. Wie soll sie aussehen, die perfekt Utopie? Auch der Utopie haftet das Unvorstellbare an, was ja schon in dem Kunstwort Utopie - Nirgendwo - angelegt ist. Sich eine echte, endgültige Utopie als einen Ort ewiger Ruhe und ewigen Glücks ausmalen zu wollen, stößte an mehrere Probleme.
Das Problem der geteilten Autonomie
Von Soziologen wird die Autonomie, das heißt Selbstbestimmtheit, von indiviuellen Menschen als ein sogenanntes postmaterielles Gut bezeichnet. Fasst man Autonomie als völlige Selbstbestimmtheit auf, so muss die Autonomie des einen Menschen dort ihre Grenzen haben, wo die Autonomie des anderen Menschen beginnt. Wo nun aber mehrere Menschen in einer gemeinsamen Welt zusammenkommen, und wo diese Menschen nicht immer gleiche Ziele verfolgen, kann die Autonomie eines jeden Einzelnen nicht mehr in vollem Umfang erfüllt werden. Das Dilemma ist eng verwandt mit der begrenzten Freiheit des Einzelnen in einer Gemeinschaft. Das Ideal absoluter Freiheit oder Autonomie ist unerreichbar. Die (spekulative) Idee, dass die Gesetze der Physik einen Kompromiss zwischen individueller Autonomie und gemeinschaftlicher Berechenbarkeit darstellen ist behandelt im Artikel kollaborative Physik ↗
Das Problem der fehlenden Evolution
Im frühen 20ten Jahrhundert entstanden im westlichen Kulturkreis eine große Anzahl sozialdarwinistischer Schriften. Eine Grundangst vieler Autoren schien es gewesen zu sein, dass Frieden und Kooperation jeden Wettbewerb und damit auch jede Höherentwicklung abtöten würden. Sollte das Argument auch nur in Teilen zutreffen, spräche dies gegen eine dauerhaft und zuverlässig einrichtbare friedfertige Gesellschaft, die Utopie wäre damit aus evolutionärer Sicht undenkbar. Siehe dazu auch Bernhardi-Barriere ↗
Das Problem der fehlenden Aufgabe
Tue ich's heute nicht, tue ich's morgen! Wenn man in einem sicheren Zustand der Ewigkeit lebt, verbunden mit der Gewissheit von Freiheit von Leid, wozu sollte man dann überhaupt irgend etwas tun? Was man heute tun könnte, könnte man genauso gut ewig verschieben. Am Ende kämen Wesen heraus, die sich zu nichts mehr bewegen ließen. Jede Vorstellung von Glück und Zufriedenheit ist doch eng verbunden mit der Idee, etwas Wichtiges in der Welt bewirken zu können, einen nennenswerten Unterschied machen zu können. Was aber soll ein solcher nennenswerter Unterschied in einer ewig perfekten Welt sein? Wieder wird das Denken auf etwas jenseits seiner eigenen Möglichkeiten verwiesen.
Verschiedene Autoren zur Unvorstellbarkeit der Utopie
George Orwell
Der englische Autor George Orwell wirkte etwa von 1927 bis zu seinem Tod 1950. Zentrale Themen seines Denkens waren die Freiheit und Eigenständigkeit des Denkens, das professionelle Manipulieren von Gedanken sowie die tagesaktuellen Geschehnisse in der Politik, hier vor allem der kontinentaleuropäische Totalitarismus sowie der zweite Weltkrieg. Seine politische Position war demokratisch-sozialistisch. Reaktionär-konservative Politiker, so Orwell, würden sozialistische Ideal immer wieder damit herabwürdigen, dass jede Vorstellung eines dauerhaft utopischen Zustandes undenkar bis weltfremd oder verschroben wirken. Mit diesem Vorwurf setzte sich Orwell in einem längeren Essay aus dem Jahr 1943 ausführlich auseinander[1].
Orwell beginnt mit einer Szene aus der weltberühmten Weihnachtsgeschichte (Christmas Carol) von Charles Dickens: eine arme Familie mit Kindern feiert Weihnachten. Weihnachten ist die einzige Zeit des Jahres, in dem die Familie genug zu essen hat. Die Mitglieder der Familie genießen jede Sekunde und haben Freude aneinander. Diese Szene von Charles Dickens, so Orwell, sei einer der bestmöglichen Darstellungen von Glück. Aber sie tauge nicht als Vorlage für ein Paradies: man kann sich schlecht einen Ort vorstellen, an dem ewige Essensfreuden und Familienglück herrschen und in dem man gerne freiwillig einziehen möchte. Aber genau so reduziert auf ewige Sinnesfreuden sind seien die religiösen Vorstellungen eines Paradieses: für islamische Männer ein ewiges Harem, für Christen Gesang und Paläste aus Edelsteinen, für die Germanen ein endloses Biergelage. Orwell zitiert Beispiele aus der Literatur, in denen zwar überzeugend realistisch eine Hölle gezeichnet wurde, kann aber nach eigenen Worten keine wirklich verlockende Schilderung eines Ortes ewigen Glückes finden. Glück ist immer nur das Fehlen von Leid und damit komplementär als Teil eines Dualismus aufzufassen. Die Utopie als Ort ewigen Glückes ist eine Aporie[2] und damit als politisches Ziel durch Gegner leicht ins Lächerliche gezogen.
Für Sozialisten besteht das politische Ziel, so Orwell, nicht darin eine perfekte Welt, einen Ort ewigen Glückes anzustreben. Orwell will mit dieser Aussage die Angriffe politischer Gegner abwehren, die den Sozialisten weltfremde Ziele, im abwertenden Sinn utopisches Denken vorwerfen. Damit riegeln sich die Gegner aber auch gegen sofort machbare Ziele ab. Für Orwell besteht Sozialismus darin, die gegenseitige wirtschaftliche Ausbeutung in machbare Schritten abzubauen. Wer tiefer in das politische Denken Orwells einsteigen möchte sollte die gesammelten Essays[1] lesen. Siehe auch George Orwell (Zitate) ↗
Stanislaw Lem
Der polnische Schriftsteller Stanislaw verfasste in den 1960 bis in die 1980er Jahre eine große Anzahl von phanatstischen Kurzgeschichten. In ihnen lässt er seine tragikomischen Helden immer wieder vergeblich nach dem Glück suchen. Unter dem Stichwort Felizotologie stellt er satirisch eine Reihe solcher kontraproduktiven Versuche vor. So sollte zum Beispiel die chemische Substanz Altruizin jeden Menschen mitfühlend für seine Mitmenschen machen: jede Mensch spürt dann Freude und Leid seiner Mitmenschen. Die Hoffnung war, dass sich dann jeder altruistisch um das Glück der anderen kümmert. Doch der Versuch schlug ins Gegenteil um: bekam ein Mensch Zahnweh, fühlten alle Mitmenschen die Schmerzen. Sie wussten sich nicht besser zu helfen, als die Quelle des Leids totzuschlagen. Die Idee, dass ein gutgemeinter Versuch ins Gegenteil umschlägt nennt man auch kontraproduktiv. Mehr zu Lems pessimistischen Utopie-Versuchen steht im Artikel zur Felizitologie ↗
In einer anderen Kurzgeschichte skizziert Lem Wesen auf der maximal höchsten Stufe der Erkenntnisse. Sie bevölkern die Oberfläche eines Planeten. Als der menschliche Held der Geschichte, Ijon Tichy, dort ankommt um an ihrer Weisheit teilzuhaben, vollführen diese Wesen nur sinnlose Bewegungen und Verrenkungen. Auch ihre Lautäußerungen sind nur sinnloses Geplapper. Lem zeigt damit die Absurdität eines Zustandes endgültiger Erkenntnis auf, könnte dieser doch auch zu einer völligen Teilnahmslosigkeit am Geschehen in dieser unseren Welt führen.[3]
Terrence W. Deacon
Terrence Deacon, geboren 1950, ist ein US-amerikanischer Anthropologe und Neurowissenschaftler. In einem umfangreichen Buch hat er die Sicht dargelegt, dass die gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Theorien die eigentlich wesentlichen Aspekte unsere Seins weitgehend ausblenden: Gefühle, Bedeutung, Bewusstsein, Ziel und Sinn. Deacon fordert ein neues Denken in der Physik, dass gerade diese Aspekte mit einbezieht. Es ist meine Vermutung, dass unser Denken vielleicht in Sackgassen wie jene, die Deacon beschreibt, gefangen ist. Doch wenn das Denken es lernt, seine eigenen Grenzen immer wieder neu zu überwinden, tut sich am Ende vielleicht ein Weg hin zu einer Utopie auf. Siehe auch Terrence Deacon ↗
Fußnoten
- [1] George Orwell: Can Socialists be Happy? In: George Orwell. Essays. Everyman Library. 242. Herausgegeben von Alfred A. Knopf. 2002. ISBN: 978-1-85715-242-5. Seite 503-510
- [2] Stanislaw Lem: Blick vom anderen Ufer. Europäische Science-fiction. Herausgegeben und mit Einleitung von Franz Rottensteiner. Phantastische Bibliothek Band 4. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 1977. ISBN 13: 9783518068595 Felizitologie ↗
- [3] Stanislaw Lem. Sterntagebücher. 1961. Vermutlich findet sich die Geschichte in diesem Buch. Aber ich bin mir nicht sicher.
- [4] Terrence W. Deacon: Incomplete Nature. How Mind Emergend from Matter. W. W. Norton. New York. London. 2012. Siehe auch Terrence Deacon ↗