Totalitarismus
Herrschaftsform
Definition
Der italienische Faschismus, die deutsche NS-Herrschaft oder die sozialistischen Diktaturen des 20ten Jahrhunderts: als totalitär bezeichnet man Herrschaftsformen die alternativlos jeden Lebensbereich der beherrschten Bevölkerung bis hinein in die Privatsphäre regeln wollen. Totalitäre Staaten zielen oft auf die Schaffung eines neuen Menschentypen ab. Hier stehen einige Beispiele dazu.
Harter Totatlitarismus: klassische Diktaturen
Der italienische Faschismus des Diktators Mussolinis sowie die NS-Herrschaft in Deutschland sowie verschiedene sozialistische Diktaturen (DDR, Sowjetunion) gelten heute als Prototypen einer totalitären Herschaft. Die Machthaber versuchten das gesamte Leben ihrer Untertanen zu erfassen und eigene Werte durchzusetzen. Dabei setzten sie eine Verbindung aus attraktiven Angeboten und Strafen ein. Attraktiv waren zum Beispiel organisierte Ferienfahrten (z. B. Kraft durch Freude) und Erlebnisfreizeiten für Jugendliche (Bund deutscher Mädchen, Hitler Jugend). Typische Formen der Bestrafung waren Arbeitsverbote, Lagerhaft und im Extremfall die Todesstrafe nach Schauprozessen. Ein berühmter Roman zu diesen Totalitären Regierungsformen der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts ist 1984 (Roman) ↗
Weicher Totalitarismus: gefügige Massen
1932 erschien die prophetische Vision "Schöne Neue Welt" des englischen Schriftstellers Aldous Huxley. Darin beschreibt er eine Gesellschaft, in der Menschen künstlich in Laboren hergestellt werden. Dabei werden die heranwachsenden Organismen mit wissenschaftlicher Zuverslässigkeit so behavioristisch konditioniert, dass jedes entstehende Individuum später im Leben gerne den ihm zugewiesen Platz in der Gesellschaft einnimmt. So werden heranwachsende Raumfahrer ständig im Raum gedreht und erhalten dabei zeitgleich Glückshormone. Hören die Drehbwegungen, erhalten sie Stresshormone. So werden sie sich später im Leben wohl im Weltraum und unwohl auf der Erde fühlen. Werden später erwachsene Individuen zeitweise unglücklich, so dürfen sie sich mit der allzeit verfügbaren Droge Soma wieder glücklich machen. Huxleys Vision zeichnet das Bild einer Herrschaft, die auf Bedürfnisbefriediung und Zustimmung beruht und nicht auf Unterdrückung: Verführungen sind effektiver als Verhaftungen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde dieses Motiv vor allem in den USA weiter ausdifferenziert[19]. In seinem Klassiker über das Leben in der modernen Industriegesellschaft[20] analysierte der Soziologe Herbert Marcuse die US-amerikanische Gesellschaft als totalitär. Das Denken der Menschen sei so beschnitten, dass Alternativen zu den herrschenden Verhältnissen im wahrsten Wortsinn "undenkbar" geworden sind. Siehe auch Der eindimensionale Mensch ↗
Totalitarismus als Naturprinzip?
Im 19ten Jahrhundert entstand vor allem im deutschssprachigen Raum eine umfangreiche Literatur[9] zur Idee des Staates als einem eigenen Lebewesen. Biologisierende Worte wie Volkskörper und Staatsorgane kennzeichnen diese Denkeweise treffend. Das verbindende Element dieser Ansätze war die Idee, dass die Interessen des Staates (Staatsräson) Vorrang haben vor den Interessen seiner Bürger. Verbunden mit biologistisch-darwinistischen Denkweisem entwickelten sich daraus im frühen 20ten Jahrhundert oft Weltanschauungen zur Rechtfertigung kriegerischer[10] und totalitärer[11] Staatsformen. Parallel dazu beschrieben Insektenforscher auffällige Ähnlichkeiten zwischen totalitären Gesellschaften bei Menschen einerseits sowie sozialen Insekten wie Bienen[12], Termiten[13] oder Ameisen[14] andererseits. Einen neuen Ausdruck fand die Analogie zwischen biologischem und sozialen Organismus seit den 1960er Jahren in der Idee, dass kybernetische, evolutionäre oder systemische Notwendigkeiten zu einer analogen Evolution biologischer und sozialer Einheiten führen würden. Gaia als eine lebende Erde[15], das Energon als ein kybernetischer Unternehmens-Organismus[16] oder die Technosphäre als ein Globales Gehirn[17]. Manche Anhänger dieser Strömung sahen darin eine Tendenz, dass Menschen zu reinen Werkzeugen ihrer respektiven Überorganismen werden. Der Russe Valentin Turchin wollte im entstehenden "Super-Wesen" faschistoide Züge erkennen[18]. Und der Mediziner Kazem-Sadegh Zadeh ging so weit, dass der Mensch in der weltweiten Machina sapiens verblödet und zu einem willfährigen Sklaven der Globalmaschine wird. Siehe dazu beispielhaft den Artikel zur Machina sapiens ↗
Fußnoten
- [1] Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus. Imperialismus, Totalitarismus (The origins of totalitarianism. Schocken, New York 1951). 4. Auflage. Piper, München 1995, ISBN 3-492-11032-0.
- [2] Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (The open society and its enemies. Routledge, London 1945). 2 Bände. 8. Auflage. Mohr Siebeck, Tübingen 2003.
- [3] Jacob Talmon: Die Geschichte der totalitären Demokratie (The Origins of Totalitarian Democracy. Secker & Warburg, London 1952–1981). 3 Bände. Hrsg. und eingeleitet von Uwe Backes. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, ISBN 3-525-31012-9.
- [4] Lothar Fritze: Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich. Olzog, München 2012, ISBN 3-7892-8324-X.
- [5] Jens Hacke: „Volksgemeinschaft der Gleichgesinnten“. Liberale Faschismusanalysen und die Wurzeln der Totalitarismustheorie. In: Mittelweg 36. 23, 2014, Heft 4, S. 53–73.
- [6] Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Übersetzt von Alfred Schmidt. Luchterhand, Neuwied 1967, 4. Aufl. Deutscher Taschenbuchverlag, dtv wissenschaft, München 2004. ISBN 3-423-34084-3
- [7] Valentin Turchin: The Phenomenon of Science. New York: Columbia University Press. ISBN 978-0-231-03983-3. Erstmals veröffentlicht im Jahr 1977. Hier vor allem das Kapitel: The Super-Being
- [8] Caryl P. Haskins: Of Ants and Men. Prentice Hall, 1939. Ameisenstaaten als Vorbild faschistoider Menschengesellschaften Of Ants and Men (Caryl P. Haskins) ↗
- [9] Raymond G. Gettell: History of Political Thought. George Allen & Unwin Ltd. London. Erstausgabe: 1924. Hier das Kapitel "State as an Organism". Siehe auch Organische Theorie ↗
- [10] Friedrich von Bernhardi: Deutschland und der nächste Krieg. Verlag J. G. Cotta, 1913. 345 Seiten.
- [11] Adolf Hitler: Mein Kampf. Franz Eher Nachf. Verlag in München. 1925 (erter Band) und 1926 (zweiter Band).
- [12] La vie des abeilles (1901), deutsch: Das Leben der Bienen. Unionsverlag. 3. Auflage als Taschenbuch. ISBN: 978-3-293-20813-1. Siehe auch Maurice Maeterlinck ↗
- [13] Eugène N. Marais: The Soul of the White Ant. Zuerst verfasst auf Afrikaans unter dem Titel: Die Siel van die Mier. Im Jahr 1937 ins Englische übersetzt von Winifred de Kok. Londoner Ausgabe von 1971 vom Verlag Jonathan Cape and Anthony Blond. ISBN: 0 224 61871 7. Siehe auch The Soul of the White Ant ↗
- [14] Caryl P. Haskins: Of Ants and Men. Prentice Hall, 1939. Siehe auch Of Ants and Men (Caryl P. Haskins) ↗
- [15] James Lovelock: Gaia – Die Erde ist ein Lebewesen. Wilhelm Heyne Verlag. München. 1991. Siehe auch Gaia-Theorie ↗
- [16] Hans Hass: Energon. Das verborgene Gemeinsame. Fritz Molden (Verlag). 1970. Siehe auch Energon ↗
- [17] Peter Russell: The Awakening Earth Our Next Evolutionary Leap. 1982. ISBN: 978-086315-616-8. Siehe auch Global Brain ↗
- [18] Valentin Turchin: The Phenomenon of Science. New York: Columbia University Press. ISBN 978-0-231-03983-3. Erstmals veröffentlicht im Jahr 1977. Hier vor allem das Kapitel: The Super-Being. Siehe auch Super-Wesen ↗
- [19] Vance Packard: Die Pyramidenkletterer. Originaltitel: The Pyramid Climbers). Droemer Knaur. München 1962.
- [20] Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Übersetzt von Alfred Schmidt. Luchterhand, Neuwied 1967, 4. Aufl. Deutscher Taschenbuchverlag, dtv wissenschaft, München 2004. ISBN 3-423-34084-3. Siehe auch Der eindimensionale Mensch ↗