Naturalistischer Fehlschluss
Originalzitat von 1903
Basiswissen
Der naturalistische Fehlschluss, auch naturalistischer Trugschluss genannt, besagt, dass sich der Denkinhalt „Gut“ nicht über Eigenschaften und Dinge der realen oder der metaphysischen Welt definieren oder in irgendeine logisch-rationale Verbindung bringen lässt. Als Urheber des Gedankens gilt George Edward Moore. Eine logische Konsequenz daraus ist Humes Gesetz, demnach kein logischer Schluss vom Ist- auf einen Soll-Zustand zwingend ist. Der Gedanke wurde unter anderem auch von Albert Einstein ausdrücklich vertreten[12][13].
Englisches Originalzitat aus dem Jahr 1903
§ 1. In order to define Ethics, we must discover what is both common and peculiar to all undoubted ethical judgements; ...
§ 2. but this is not that they are concerned with human conduct, but that they are concerned with a certain predicate "good", and its converse "bad", which may be applied both to conduct and to other things. …
§ 3. The subjects of the judgments of a scientific ethics are not, like those of some studies, "particular things"; …
§ 4. but it includes all universal judgments which assert the relation of "goodness" to any subject, and hence includes Casuistry.
§ 5. It must, however, enquire not only what things are universally related to goodness, but also, what this predicate, to which they are related, is: …
§ 6. and the answer to this question is that it is indefinable …
§ 7. or simple: for if by definition be meant the analysis of an object of thought, only complex objects can be defined; …
§ 8. and of the three senses in which "definition" can be used, this is the most important. …
§ 9. What is thus indefinable is not "the good", or the whole of that which always possesses the predicate "good", but this predicate itself. …
§ 10. "Good", then, denotes one unique simple object of thought among innumerable others; but this object has very commonly been identified with some other—a fallacy which may be called "the naturalistic fallacy".[1]
Beispiel 1: Aus Darwinismus folgt keine Ethik
In einem Lexikon aus dem Jahr 1907, also der Zeit, als Moore über den naturalistischen Fehlschluss schrieb, heißt es in einem philosophischen Lexikon zur darwinschen Abstammungslehre:
ZITAT:
„Doch darf die Darwinsche Theorie nicht in das Gebiet der Wertunterschiede im Dasein übergreifen. Das Gebiet des Geistes, besonders das ethische, läßt sich nicht in bloßen Naturmechanismus auflösen. Denn die geistigen und ethischen Tatsachen sind nicht nur verschieden von den materiellen, sondern auch bedeutungsvoller als diese. Das Weltall, den Menschen mit einbegriffen, kann nicht in eine Mechanik der Atome verwandelt werden.“[3]
„Doch darf die Darwinsche Theorie nicht in das Gebiet der Wertunterschiede im Dasein übergreifen. Das Gebiet des Geistes, besonders das ethische, läßt sich nicht in bloßen Naturmechanismus auflösen. Denn die geistigen und ethischen Tatsachen sind nicht nur verschieden von den materiellen, sondern auch bedeutungsvoller als diese. Das Weltall, den Menschen mit einbegriffen, kann nicht in eine Mechanik der Atome verwandelt werden.“[3]
Was das philosophische Lexikon hier anmahnt, war aber keineswegs Teil des gesunden Menschenverstandes jeder Zeit. Kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges veröffentlichte der Militärhistoriker Friedrich von Bernhardi (1849 bis 1930) ein Buch darüber, wie ein nächster Krieg Deutschlands mit seinen europäischen Nachbarn aussehen könnte.[2] In dem Buch griff Berhardi die Idee auf, dass die Völker in einem Kampf ums Dasein stünden, ähnliche wie die Tiere und Pflanzen in der darwinistischen Evolution:
ZITAT:
„„Recht hat in solchen Fällen, wer die Kraft hat, zu erhalten oder zu erobern. Die Kraft ist zugleich das höchste Recht, und der Rechtsstreit wird entschieden durch den Kraftmesser, den Krieg, der zugleich immer biologisch gerecht entscheidet, da seine Entscheidungen aus dem Wesen der Dinge selbst hervorgehen.“[2]
„„Recht hat in solchen Fällen, wer die Kraft hat, zu erhalten oder zu erobern. Die Kraft ist zugleich das höchste Recht, und der Rechtsstreit wird entschieden durch den Kraftmesser, den Krieg, der zugleich immer biologisch gerecht entscheidet, da seine Entscheidungen aus dem Wesen der Dinge selbst hervorgehen.“[2]
Bernhardi schließt hier also von der Kraft im Kampf zu bestehen auf das Recht. Und damit schließt er vom Sein aufs Sollen und begeht einen naturalistischen Fehlschluss. Der englische Schriftsteller George Orwell (1903 bis 1950) sollte später die Formel "might is right" als ein sicheres Kennzeichen von Faschismus kennzeichnen. Siehe mehr zu Bernhardis Gedankenwelt in dem Artikel Deutschland und der nächste Krieg ↗
Beispiel 2: Aus Naturgesetzen folgt kein Sinn
Der Philosoph und Schriftsteller Fritz Mauthner (1849 bis 1923) vermutet, dass aus Naturbetrachtungen nicht nur keine Werte sondern vor allem auch kein Sinngefühl ableitbar ist.[4] Physiker können vielleicht herausfinden wie die Welt abläuft, aber der "Tanz der Atome"[5] liefert kein Wozu, keinen Zweck. Es bleibt eine Lücke zwischen Wissen und Willen.[11] Zwar kann die Beschauung der Natur starke Sinngefühle, Gefühle der Ergriffenheit oder des Weltganzen auslösen, diese Gefühle führen aber nicht auf logisch-rationalem Weg zu einem wörtlich beschreibbaren Sinn des Lebens. Der Weg vom Naturerleben zur Religiösität[9], so der deutsche Theologe Rudolf Otto (1869 bis 1937) führe nicht über das Rationale sondern gerade über Irrationale[6]. Otto nennt die entsprechende Qualität von Gefühl numinos ↗
Humes Gesetz als Folge
Als Humes Gesetz bezeichnet man die Ablehnung eines logisch zwingenden Schlusses von Ist-Aussagen auf Soll-Aussagen. Nur weil etwa eine große Mehrheit der Menschen gerne einmal Notlügen nutzt, kann man nicht folgern, dass sie das auch tun sollten. Dennoch sei dieser Fehlschluss, so Hume, in vielen Schriften zu finden.[10] Humes Gesetz ist zwar vom Ergebnis her mit dem naturalistischen Fehlschluss eng verwandt. Doch benutzt Hume eine andere Begründung, nämlich eine semantische, indem er nämlich die Bedeutung von Gut untersucht. Moore argumentiert, dass die Idee von etwas Gutem grundsätzlich nicht definierbar sei. Man kann Moore so verstehen, dass das Gute nicht aus anderen Dingen herleitbar ist, sondern elementar, atomar (one unique simple object of thought). Daher lasse sich aus der Beobachtung der Welt alleine auch niemals herleiten, dass etwas gut oder nicht gut sei. Hume hingegen argumentiert nicht mit der fehlenden Definierbarkeit des Guten sondern formal damit, dass es logisch nicht zwingend ist, vom Sein auf ein Sollen zu schließen. Siehe auch Humes Gesetz ↗
Fußnoten
- [1] George Edward Moore: Principia Ethica. 1903. Online: http://fair-use.org/g-e-moore/principia-ethica/
- [2] Friedrich von Bernhardi: Deutschland und der nächste Krieg. Verlag J. G. Cotta, 1913. 345 Seiten.
- [3] Darwinismus. In: Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 1907, S. 132-133. Online: http://www.zeno.org/nid/20003580466
- [4] Dass auch aus Naturbetrachtungen kein Sinn ableitbar ist, das vermutet der Philosoph Fritz Mauthner (1849 bis 1923): "[…] Frauen und Männer, haben erkannt, daß sie von allen Wissenschaften nur in den Vorzimmern der großen unnahbaren Natur aufgehalten werden als wie von angestellten Bedienten, daß ihnen der »Sinn« der objektiven Welt durch die sogenannten Naturgesetze niemals aufgehen werde." In: Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 2 1923, Band 3, S. 182-191. Online: http://www.zeno.org/nid/20006181554
- [5] Die schöne Metapher vom Tanz der Atome findet sich zum Beispiel im Titel eines Buches über Chemie und Physik: G. Vogl: Tanz der Atome. In: Wege des Zufalls. Spektrum Akademischer Verlag. 2011. ISBN: 978-3-8274-2675-8. Online: https://doi.org/10.1007/978-3-8274-2676-5_2
- [6] Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Verlag: Trewendet & Granier, erschienen 1917 in Breslau. 2004 neu aufgelegt unter der ISBN: 3-406-51091-4. Siehe auch Rudolf Otto ↗
- [7] Rudolf Otto: Freiheit und Notwendigkeit: Ein Gespräch mit Nicolai Hartmann über Autonomie und Theonomie der Werte, 1940.
- [8] Erwin Schrödinger (1887 bis 1961), Physiker und Nobelpreisträger, geht noch einen Schritt weiter. Ihm zufolge ist es nicht nicht nur unmöglich, aus Ist-Aussagen Werte abzuleiten. Ihm zufolge lassen sich Wertaussagen überhaupt gar nicht in das naturwissenschaftliche Weltbild einfügen. Es schreibt, "daß es uns jedenfalls bisher nicht gelungen ist, ein einigermaßen verständliches Weltbild aufzubauen, ohne unsern eigenen Geist, den Schöpfer des ganzen Weltbildes, daraus zu verbannen, derart, daß darin für ihn kein Platz ist. Der Versuch, ihn hineinzuzwängen, führt notwendig auf Ungereimtheiten." In: Erwin Schrödinger: Geist und Materie. 2. Auflage. Friedrich Vieweg & Sohn. Braunschweig. 1961. Deutsche Ausgabe der Tarner Lectures "Mind and Matter". Siehe auch Erwin Schrödinger ↗
- [9] Die Idee Isaac Newton (1642 bis 1727), dass nämlich die Naturwissenschaft auch moralische Erkenntnise bringen kann, ist ein Beispiel für einen naturalistischen Fehlschluss im Sinn von George Edwin Moore: "And if natural Philosophy in all its Parts, by pursuing this Method, shall at length be perfected, the Bounds of Moral Philosophy will be also enlarged. For so far as we can know by natural Philosophy what is the first Cause, what Power he has over us, and what Benefits we receive from him, so far our Duty towards him, as well as that towards one another, will appear to us by the Light of Nature. And no doubt, if the Worship of false Gods had not blinded the Heathen, their moral Philosophy would have gone farther than[Pg 406] to the four Cardinal Virtues; and instead of teaching the Transmigration of Souls, and to worship the Sun and Moon, and dead Heroes, they would have taught us to worship our true Author and Benefactor, as their Ancestors did under the Government of Noah and his Sons before they corrupted themselves." In: Isaac Newton: OPTICKS: OR, A TREATISE OF THE Reflections, Refractions, Inflections and colours OF LIGHT. The FOURTH EDITION, corrected. By Sir ISAAC NEWTON, Knt. LONDON: Printed for WILLIAM INNYS at the West-End of St. Paul's. MDCCXXX (1730). Dort die Seiten 405 und 406.
- [10] Im Jahr 1739 oder 1740 schreibt David Hume: „Bei jedem System der Moral, das mir bislang begegnet ist, habe ich stets festgestellt, dass der Autor eine gewisse Zeit in der üblichen Argumentationsweise fortschreitet und begründet, dass es einen Gott gibt, oder Beobachtungen über menschliches Verhalten trifft; dann plötzlich stelle ich überrascht fest, dass anstatt der üblichen Satzverknüpfungen, nämlich ‚ist‘ und ‚ist nicht‘, ich nur auf Sätze stoße, welche mit ‚soll‘ oder ‚soll nicht‘ verbunden sind. Diese Änderung geschieht unmerklich. Sie ist jedoch sehr wichtig. Dieses ‚soll‘ oder ‚soll nicht‘ drückt eine neue Verknüpfung oder Behauptung aus. Darum muss sie notwendigerweise beobachtet und erklärt werden. Zugleich muss notwendigerweise ein Grund angegeben werden für dies, was vollständig unbegreiflich erscheint: Wie nämlich diese neue Verknüpfung eine logische Folgerung sein kann von anderen, davon ganz verschiedenen Verknüpfungen [...] Ich bin der Überzeugung, dass eine solche geringfügige Aufmerksamkeit alle gewohnten Moralsysteme umwerfen würde. Sie würde uns außerdem zeigen, dass die Unterscheidung von Laster und Tugend nicht nur auf den Verhältnissen von Objekten gründet und auch nicht mit der Vernunft wahrgenommen wird.“ In: David Hume: A Treatise of Human Nature (Buch III, Teil I, Kapitel I). Siehe auch Humes Gesetz ↗
- [11] Der naturalistische Fehlschluss in den Worten des Systemtheoretikers Valentin Turchin (1931 bis 2010): "what do we want to want? What do we take for Good and for Evil? These are the perpetual questions of ethics. Science, by its nature, does not give direct answers to these questions. The gap separating knowledge and will can never be fully bridged. No matter what we know, we are still free to arbitrary choose among our options. But science can provide guidance by foreseeing the results of our actions". In: Valentin Turchin: A Dialogue on Metasystem Transition. The City College of New York. July 12, 1999. Dort die Seite 55. Online: http://cleamc11.vub.ac.be/Papers/Turchin/dialog.pdf
- [12] Der naturalistische Fehlschluss in den Worten von Albert Einstein: "Diese Betrachtungsweise [die kausale] antwortet immer nur auf die Frage »Warum?« aber nie auf die Frage »Wozu?«. Darüber kann uns kein Nützlichkeitsprinzip und keine Zuchtwahl hinwegbringen. Wenn aber einer fragt, »Wozu sollen wir einander fördern, das Leben einander erleichtern, schöne Musik machen und feine Gedanken zu erzeugen suchen?« so wird man ihm sagen müssen: »Wenn du's nicht spürst, kann's dir niemand erklären.« Ohne dies Primäre sind wird nichts und lebten wir am besten garnicht. Wenn einer auch einen Begründungsversuch machen wollte, in dem er zu beweisen sucht, daß diese Dinge das Dasein der menschlichen Art erhalten und fördern helfen, so erhebt sich erst recht die Frage des »Wozu?«, und die Antwort auf »wissenschaftlicher« Grundlage wäre noch viel hoffnungsloser. Wenn man also um jeden Preis wissenschaftlich vorgehen will, so kann man versuchen, unsere Ziele auf möglichst wenig zurückzuführen , die anderen dann daraus abzuleiten." So schrieb Albert Einstein an Hedi Born, am 1. September 1919. In: Albert Einstein Max Born Briefwechsel 1916-1955. Geleitworte von Bertrand Russell und Werner Heisenberg. Ullstein Buch, Frankfurt am Main, 1986. ISBN: 3-548-3445-7. Dort die Seite 88.
- [13] Am 7. September 1944, zum Ende des Zweiten Weltkrieges hin, schrieb Einstein an seinen Freund Max Born: "Das Gefühl für das, ws sein soll und was nicht sein soll, wächst und stirbt wie ein Baum, und keine Art Dünger wird sehr viel dabei ausrichten. Was der Einzelne tun kann ist nur ein sauberes Beispiel geben und den Mut zu haben, ethische Überzeugungen in der Gesellschaft von Cynikern ernsthaft zu vertreten." In: Albert Einstein Max Born Briefwechsel 1916-1955. Geleitworte von Bertrand Russell und Werner Heisenberg. Ullstein Buch, Frankfurt am Main, 1986. ISBN: 3-548-3445-7. Dort die Seite 203.