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Weltprozess


Philosophie


Basiswissen


Um das Wort Weltprozess entspann sich im 19ten Jahrhundert ein Streit über Generationen: gibt es eine vorgezeichnete Tendenz in der Welt und ein vorausbestimmtes (gutes) Ende, dem wir uns nur hingeben müssen (z. B. Hegel)? Oder ist der Weltprozess an sich unvollkommen, sodass wir uns ihm als Menschen widersetzen müssen (Hartmann)? Mit Weltprozess war dabei vor allem die Welt als Bereich der menschlichen Dingen gemeint, weniger die Welt in einem modern-kosmologischen Sinn.

Hegel als Urheber?


Der Philosoph Friedrich Hegel (1770 bis 1831) wird oft als Urheber des Wortes gesehen[8]. Ihm zufolge strebe die Geschichte einen Endpunkt zu, bei dem der Geist des Menschen mit sich wieder eins wird und seine Entfremdung von der Welt überwindet. Die menschliche Geschichte ist damit nur ein vorübergehender Prozess. Das Wort Weltprozess konnte ich jedoch in keinem der frei zugänglichen Werke Hegels finden. Kennt hier jemand eine konkrete Stelle, an der Hegel das Wort Weltprozesse selbst nutzte?

Eduard von Hartmann hält den Weltprozess für unvernünftig, 1868


Originalzitat von 1868: Bei HEGEL weist die dialektische Vernunft des Menschen dem Weltprozeß seine Bahnen und verkündet ihren widerspruchsvollen Charakter als den Gipfel der Vernünftigkeit; bei mir verurteilt die antidialektische Vernunft im Menschen den antilogischen Grundcharakter des Weltprozesses als etwas Nichtseinsollendes, in der Überzeugung, mit dieser Verurteilung zugleich den Wahrspruch der absoluten Vernunft zu vollziehen. Bei HEGEL klatscht die Vernunft den selbstgeschaffenen Widersprüchen Beifall, jubelt ihrer höchstmöglichen Steigerung zu, die nur überwunden wird, um zu immer härteren Gegensätzen und immer schärferen Widersprüchen zu führen, und sieht in diesem endlosen dialektischen Spiel von Überwindung und Setzung des Widerspruchs den wahrhaft vernünftigen Sinn und Zweck des Weltprozesses; bei mir dagegen ist die widerspruchsvolle Grundlage des Weltprozesses ein einmaliges, völlig vernunftwidriges und sehr trauriges Faktum, und der vernünftige Sinn des ganzen Weltprozesses liegt nur darin, dieses unvernünftige Faktum der Weltinitiative zu redressieren und zu annullieren, und zwar nicht etwa stufenweise durch immer neue dialektische Widerspruchsüberwindungen, die doch keine sind, sondern mit einem Schlag durch Zurückwendung des der Vernunft widersprechenden Antilogischen in das ihr nicht mehr widersprechende Alogische, des Aktus in die Potenz.[1]

Friedrich Nietzsche will gar kein Prozessdenken, 1873


Originalzitat von 1873: „Eine Bändigung des unbegrenzten historischen Sinnes ist nöthig: und thatsächlich besteht eine schon, die aber nicht nöthig ist, die Bändigung durch den nüchternen uniformirten Zeitgeist, der sich überall sucht und zu finden glaubt, und die Geschichte auf sein Maass herunterschraubt. Ein solches Herunterschrauben nehme ich wahr bei Cicero (Mommsen), Seneca (Hausrath), Luther (Protestantenverein) usw. In andrer Art bändigte und streckte Hegel die Geschichte, er, der recht eigentlich der deutsche "Genius der Historie" zu nennen ist; denn er fühlte sich auf der Höhe und am Ende der Entwicklung und damit auch im Besitz aller ehemaligen Zeiten, als deren ordnender νους. Jeder Versuch, das Gegenwärtige als das Höchste zu begreifen, ruinirt die Gegenwart, weil er die vorbildliche Bedeutung des Geschichtlichen leugnet. Die schrecklichste Formel ist die Hartmannsche "sich dem Weltprozess hinzugeben". Wohin es führt, die Geschichte als einen Prozess anzusehen, zeigt E. von Hartmann p. 618 (woraus mir der ungeheure Erfolg klar wird). Die historische Ansicht verbrüdert sich hier mit dem Pessimismus: nun sehe man die Consequenzen! Die Lebensalter des Einzelnen bieten die Analogie, die gar nicht schmeichelhafte Schilderung der Gegenwart erweckt nur den Schluss, dass es noch schlimmer kommt und dass dies der nothwendige Process sei, dem man sich hinzugeben habe.“[2]

Friedrich Nietzsche sieht Menschheit nicht am Ende angekommen, 1874


Originalzitat von 1874: „Dächten wir uns aber solche antiquarische Spätlinge plötzlich die Unverschämtheit gegen jene ironisch-schmerzliche Bescheidung eintauschen; denken wir sie uns, wie sie mit gellender Stimme verkünden: das Geschlecht ist auf seiner Höhe, denn jetzt erst hat es das Wissen über sich und ist sich selber offenbar geworden – so hätten wir ein Schauspiel, an dem als an einem Gleichniss die räthselhafte Bedeutung einer gewissen sehr berühmten Philosophie für die deutsche Bildung sich enträthseln wird. Ich glaube, dass es keine gefährliche Schwankung oder Wendung der deutschen Bildung in diesem Jahrhundert gegeben hat, die nicht durch die ungeheure bis diesen Augenblick fortströmende Einwirkung dieser Philosophie, der Hegelischen, gefährlicher geworden ist. Wahrhaftig, lähmend und verstimmend ist der Glaube, ein Spätling der Zeiten zu sein: furchtbar und zerstörend muss es aber erscheinen, wenn ein solcher Glaube eines Tages mit kecker Umstülpung diesen Spätling als den wahren Sinn und Zweck alles früher Geschehenen vergöttert, wenn sein wissendes Elend einer Vollendung der Weltgeschichte gleichgesetzt wird. Eine solche Betrachtungsart hat die Deutschen daran gewöhnt, vom "Weltprozess" zu reden und die eigne Zeit als das nothwendige Resultat dieses Weltprozesses zu rechtfertigen; eine solche Betrachtungsart hat die Geschichte an Stelle der anderen geistigen Mächte, Kunst und Religion, als einzig souverän gesetzt, insofern sie "der sich selbst realisirende Begriff", in sofern sie "die Dialektik der Völkergeister" und das "Weltgericht" ist.“[3]

Die Evolution als quasi-Weltprozess, 1926


Im 19ten war eine breite Literatur entstanden, die den Staat als natürliche Überform des Individuellen verstand. Man sprach zusammenfassend von der organischen Theorie. Im frühen 20ten Jahrhundert verband sich dieses Denken dann mit biologistischen und vor allem darwinistischen Vorstellen einer Evolution zu immer höherer Komplexität. Ein Klassiker in diesem Sinn ist das Büchlein Holismus und Evolution[4] des südafrikanischen Staatsmannes Jan Christian Smuts. Ohne das Wort Weltprozess zu enthalten, ist Smuts Sicht doch ein gutes Beispiel für die Idee eines zwangsläufig ablaufenden Weltprozesses. Siehe dazu unter Holismus und Evolution ↗

Originalzitat von Jacob Burckhardt, 1949


Originalzitat von 1949: „Nach einer allgemeinen einleitenden Darlegung unserer Ansicht über dasjenige, was in den Kreis unserer Betrachtung gehört, werden wir von den drei großen Potenzen Staat, Religion und Kultur zu sprechen haben, dann zunächst deren dauernde und allmähliche Einwirkung aufeinander, besonders die des Bewegten (der Kultur) auf die beiden stabilen behandeln, weiterhin zur Betrachtung der beschleunigten Bewegungen des ganzen Weltprozesses übergehen, der Lehre von den Krisen und Revolutionen, auch von der sprungartigen zeitweisen Absorption aller anderen Bewegungen, dem Mitgären des ganzen übrigen Lebens, den Brüchen und Reaktionen, also zu dem, was man Sturmlehre nennen könnte, darauf von der Verdichtung des Weltgeschichtlichen, der Konzentration der Bewegungen in den großen Individuen sprechen, in welchen das Bisherige und das Neue zusammen als ihren Urhebern oder ihrem Hauptausdruck momentan und persönlich werden, und endlich in einem Abschnitt über Glück und Unglück in der Weltgeschichte unsere Objektivität gegen Übertragung des Wünschbaren in die Geschichte zu wahren suchen.“[5]

Die Geistwerdung der Materie im Punkt Omega als Weltprozess


Der französische Theologe und Anthropologe Pierre Teilhard de Chardin veröffentlichte im Jahr 1955 ein Buch, in dem er die gesamte Geschichte des Lebens und der Materie im Kosmos als einen zwangsläufigen Prozesse deutete, der auf eine Vergeistigung der Materie hinauslaufe[11]. Auch wenn Chardin das Wort Weltprozess darin wahrscheinlich nicht nutzte, ließ sich Chardins Denken treffend damit charakterisieren. Dieser Moment hieß bei Chardin der Punkt Omega ↗

Beseelte Unternehmen als Weltprozess, 1970


In der zweiten Hälfte des 20ten Jahrhunderts entstanden eine Reihe von Theorien, die die Evolution aus naturwissenschaftlicher Sicht extrapolierten. So wie sich Zellen zu mehrzelligen Organismen zusammensetzen und diese zu Sozietäten, so soll eine nächste Stufe in der Entstehung individualisierter Staaten oder Unternehmen erklommen werden. Ein klassisches Beispiel für dieses stark kybernetisch geprägte Denken ist das Buch Energon[12] des Biologen Hans Hass. Die Zwanghaftigkeit ist das kennzeichnede des Weltprozesses. In den Worten von Hass: "die Strukturen, zu denen wir gelangen, sind weitgehend vorgezeichnet. Sie werden von anderswo diktiert. Die gesamte menschliche Machtentfaltung ist Bestandteil eines größeren Vorganges, der vom ersten Augenblick an nie Herr seiner selbst war." Bemerkenswert an Hass' Theorie ist, dass er ausdrücklich ökonomische Strukturen (Unternehmen) als eine Form von Leben betrachtet. Siehe auch Energon ↗

Die Selbstorganisation der Materie als Weltprozess, 1977


Der Evolutionsbiologe Carsten Bresch entwarf eine Theorie, derzufolge sich die Materie über mehrere sehr wahrscheinliche Stufen der Integration in immer höherer Komplexität selbst organisiert. Von Elementarteilchen, über Atome, Polymere, Protobionten, Einzeller, Vielzeller, Gruppen, über ein hypothetisches Monon (planetares Wesen) geht die Entwicklung fast zwangsläufig ins kosmische. Bresch schreibt: „Die Evolution des Universums beruht auf dessen kosmischen Anfangsbedingungen und den darin gegebenen Eigenschaften der Materie. Durch sie wird eine Fülle von Zufallsereignissen zu einem Netzwerk in bestimmter Richtung verwoben. Die so entstehenden Muster wirken auf andere Materie und führen fortschreitend bisher Unabhängiges zu neuer Verflechtung und immer wirkungsstärkerer Struktur. Vom Chaos zu einem intellektuellen, intergalaktischen Übermuster weist der Pfeil dieser Entwicklung…“[16]. Mehr zu dieser Idee einer kosmischen Höherentwicklung steht im Artikel Integration (Biologie) ↗

Der Kybiont als globales Überwesen im Weltprozess, 1997


1997 veröffentlichte der Biologie Joel de Rosnay seine Vision eines planetaren Überwesens, des Kybionten[13]. Der Mensch ist darin ein Homo symbioticus, der seine letztendliche Bestimmung als Teil eines größeren Ganzen darin gefunden haben wir. Wie auch Hans Hass, sieht de Rosnay hier eine weltprozessartige Zwangsläufigkeit. In der Einleitung zu seinem Buch schreibt er: "Es gibt nämlich Naturprinzipien, die sehr viel stärker sind als diejenigen, von denen unsere Gesellschaften geleitet werden. Prinzipien [...] die zur Entstehung der Moleküle, Zellen, Insekten oder Menschen führen". Lies mehr dazu unter Kybiont ↗

Die technologische Singularität, 2013


Bereits 1958 erstmals erwähnt[14] bezeichnet technologische Singularität heute den Moment, in dem die Menschheit die Kontrolle über den Gang ihrer eigenen Geschichte verliert und an Maschinenintelligenz abgibt[14]. Dass das so kommt, wird von vielen Autoren im Sinne eines Weltprozesses als nahezu zwangsläufig angesehen. Einige Autoren sehen uns schon jenseits dieses Singularität, andere verorten sie irgendwo im 21ten Jahrhundert. Mehr dazu unter technologische Singularität ↗

Was sind ähnliche Denkkonzepte wie das des Weltprozesses?


Das Wort Weltprozess verbindet eine Art regelhaften Ablauf der (vor allem menschlichen) Geschichte mit einem daraus resultierenden und vorgezeichnet Endzustand. Hier stehen einige damit verwandte Denkweisen.


Was sind dem Weltprozessdenken gegenläufige Denkweisen?


Das Wort Weltprozess wird von den hier betrachteten Autoren in der Tendenz als ein zwangsläufig ablaufender Prozess mit vorgefassten Endresultat verstanden. Der Mensch kann sich im Kleinen dagegen stellen oder sich in den Prozess einfügen, ändern wird das am Ende wenig. Die Idee, dass menschliche Entscheidungen einen wesentlichen Unterschied im Gang der Geschichte und auch im Endzustand der Welt bewirken könnten wäre eine Art Gegenkonzept zum Denken in einem Weltprozess.


Was ist Prozessphilosphie?


Das Wort Prozessphilosophie hat keinen direkten Zusammenhang zur Idee eines Weltprozesses. Prozessphilosophie grenzt sich vielmehr ab gegen eine Substanzphilosophie. Während die Substanzphilosophie beständige Substanzen (Materie, Geist) als prägend für die Welt ansieht, sieht man in der Prozessphilosophie eher Vorgänge, Abläufe also Prozesse, als maßgeblich an. Ein herausragender Vertreter ist der Mathematik Alfred North Whitehead. Siehe dazu den Artikel zur Prozessphilosophie ↗

Fußnoten


[12] Hans Hass: Energon. Das verborgene Gemeinsame. Fritz Molden (Verlag). 1970. Siehe auch Energon ↗