Höherentwicklung
Evolution
Basiswissen
Vom Einzeller über Vielzeller über Affen him zum zivilisierten Menschen: die Idee eines stetigen Fortschreitens zu immer „höheren“ Entwicklungsstufen ist ein gängiges Denkbild im Zusammenhang mit der Idee einer Fitness im Sinn Evolution. Hier wird zunächst die reine Bedeutung der Worte „höher“ und „Entwicklung“ im Sinn einer Tendenz gedeutet.
Höherentwicklung in der Evolution
Die klassische Vorstellung eine Höherentwicklung über geologische Zeiträume hinweg ist die Idee einer stufenweise Evolution vom Einfachen (Einzeller) zum Komplexen (Tiere, Menschen). Man spricht auch von einer Orthogenese, eine rechten Entwicklung. Dabei ist keineswegs eindeutig, was genau höher meint (mehr Zellen? mehr Organe? mehr Viefalt?) und ob diese Entwicklung zuverlässig in eine Richtung führt[6]. Tatsächlich gibt es auch Beispiele einer Rückentwicklung. Die stufenweise Entwicklung von übergeordneten Wesen bestehen aus Teilwesen wird hier bezeichnet als Metabiontogenese ↗
Anagenese als Höherentwicklung in der Biologie
Das griechischstämmige Wort Anagenese lässt sich wörtlich übersetzen als eine Entstehung (genese) hin zu etwas Höheren (ana). In der Biologie versteht man darunter die Weiter- oder auch Höherentwicklung eine biologischen Art ohne dass es dabei zu einer Entstehung neuer Arten kommt. Ein Beispiel ist die nunmehr seit gut 200 Tausend Jahren sich vollziehende Entwicklung des Homo sapiens. Siehe auch Anagenese ↗
Weltprozess als Höherentwickung in der Geschichte
Im 19ten Jahrhundert erlangte das Wort Weltprozess eine gewisse Beliebtheit. Als Weltprozess verstand man eine in der Geschichte selbst angelegte Tendenz hin zu einem Endziel. Streit entstand dann um die Frage, ob sich der Mensch diesem Prozess hingegeben soll oder sich ihm zu widersetzen hat. Siehe dazu den Artikel Weltprozess ↗
Sozialdarwinismus und Höherentwicklung
Im frühen 20ten Jahrhundert wurde der Sozialdwarinismus in Laienkreisen zu einer weithin akzeptierten These: durch das Wirken einer darwinistischen Evolution tendieren die im Wettstreit und Krieg liegenden Menschengruppen hin zu ständig höherer Fitness und damit einhergehend auch zu ständig mehr kultureller Reife. Ausgehend von Deutschland, führte der konsequent umgesetzte Sozialdwarinismus letzten Ende zu den Katastrophen des Ersten und Zweiten Welktiegs. Siehe auch Sozialdarwinismus ↗
Das Problem der Messbarkeit
Möchte man von einer Entwicklung zum höheren hin sprechen, tut man gut daran, sich ein Maß, das heißt ein Kriterium, zu überlegen, nach dem man zwischen höher und tiefer unterscheiden kann. Ist ein Pottwal höher entwickelt als sein hundeähnlicher Vorfahre? Sind komplexe Gesellschaften wie etwa der Stadtstaat Singapur höher entwickelt als ein Indianerstamm im Amazonas? In dem empirischen Wissenschaften wird gefordert, dass man solche Begriffe hin zur Eindeutigkeit führt, man spricht von einer Operationalisierung. Was in diesem Sinn mindestens nötig ist, ist die Definition einer Rangfolge von niedrig hin zum hohen. Für den Begriff der Höherentwicklung benötigt man statitisch gesprochen eine Ordinalskala [mehr und weniger sind eindeutig bestimmbar] ↗
Arten und Aspekte von Höherentwicklung
- Die Höherentwicklung ist sozusagen in der Materie selbst angelegt Entelechie ↗
- Die Höherentwicklung ist eine inhärente Eigenschaft der Evolution Orthogenese ↗
- Die Höherentwicklung wird von einem Endziel her „angezogen“ Teleologie ↗
- Die Höherentwicklung ist eher zufällig und nicht zuverlässig Darwinismus ↗
- Die Höherentwicklung als politisches Leitideal Sozialdarwinismus ↗
- Die Höherentwicklung von Erkenntnis Philosophia perennis ↗
- Die Höherentwicklung als Geschichte Weltprozess ↗
- Die Höherentwicklung, Evolution von Komplexität ↗
Fußnoten
- [1] Ulrich Kull: Die Höherentwicklung der Lebewesen und ihre Bedeutung für den Evolutionsvorgang. In: Naturwissenschaftlicher Verein Darmstadt N.F. 6 (1982), Seiten 15-36.
- [2] Jagers op Akkerhuis: Evolution and Transitions in Complexity: The Science of Hierarchical Organization in Nature. Springer. 2018. ISBN: 978-3319829142.
- [3] Dass es im Kosmos eine gesetzmäßige Entwicklung zu mehr Komplexität geben könnte (conspicuously absent is a law of increasing “complexity”) behandelt ein Artikel aus dem Jahr 2023: Michael L. Wong, Carol E. Cleland, Daniel Arend Jr., Robert M. Hazen: On the roles of function and selection in evolving systems. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS). 2023. 120 (43) e2310223120. Online: https://doi.org/10.1073/pnas.2310223120
- [4] Günter Dedié: Die Kraft der Naturgesetze – Emergenz und kollektive Fähigkeiten von den Elementarteilchen bis zur menschlichen Gesellschaft. 2. Auflage. tredition 2015.
- [5] 1904, in einem Lexikon: "Alle höheren Tierformen stammen schließlich von vier bis fünf Vorfahren ab, vielleicht haben sich Pflanzen und Tiere aus einer Urform entwickelt (l.c. S. 652). Die Gesetze der Variation sind also: »Wachstum nebst Fortpflanzung, Erblichkeit, die fast in der Fortpflanzung enthalten ist; Variabilität zufolge indirecter und directer Wirkungen der Lebensbedingungen, und Gebrauch und Nichtgebrauch; ein so hohes Vermehrungsmaß, daß es zum Kampf ums Dasein führt, und infolgedessen zur natürlichen Zuchtwahl die Divergenz des Charakters und Erlöschen der minder verbesserten Formen enthält«" Das Zitat stammt aus einem sehr umfangreichen, naturphilosophen Artikel zur Evolution. In: Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 319-325. Online: http://www.zeno.org/nid/20001787640
- [6] Dass Evolution manchmal, aber nicht immer zu einer Höherentwicklung sondern auch zu einer Rückentwicklung führen kann, bemerkte bereits im Jahr 1898 der Engländer Herbert Spencer: "Evolution is commonly conceived to imply in everything an intrinsic tendency to become something higher. This is an erroneous conception of it. In all cases it is determined by the co-operation of inner and outer factors. This co-operation works changes until there is reached an equilibrium between the environing actions and the actions which the aggregate opposes to them—a complete equilibrium if the aggregate is without life, and a moving equilibrium if the aggregate is living. Thereupon evolution, continuing to show itself only in the progressing integration that ends in rigidity, practically ceases. If, in the case of the living aggregates forming a species, the environing actions remain constant, the species remains constant. If the environing actions change, the species changes until it re-equilibriates itself with them. But it by no means follows that this change constitutes a step in evolution. Usually neither advance nor recession results; and often, certain previously-acquired structures being rendered superfluous, there results a simpler form. Only now and then does the environing change initiate in the organism a new complication, and so produce a somewhat higher structure." In: Herbert Spencer Part of: The Principles of Sociology, 3 vols. (1898). The Principles of Sociology, vol. 1 (1898)." Dort der Abschnitt §50. Online: https://oll.libertyfund.org/titles/spencer-the-principles-of-sociology-vol-1-1898