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Das überhandnehmende Maschinenwesen


Goethe, 1821


Originalzitat


„Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen. (...) Man denkt daran, man spricht davon, und weder Denken noch Reden kann Hülfe bringen. (...) Hier bleibt nur ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere: entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen, oder aufzubrechen, die Besten und Würdigsten mit sich fort zu ziehen und ein günstigeres Schicksal jenseits der Meere zu suchen.“

Historische Einordnung


Goethe schrieb diese Zeilen spätestens im Jahr 1821. Sechs Jahre zuvor war die Ära Napoleons zu Ende gegangen. Ein Jahr zuvor, 1820, hatte der Däne Oersted gerade erkannt, dass es einen Zusammenhang zwischen Elektrizität und Magnetismus gibt. Elektromotoren, Flugzeuge, Eisenbahnen, Telefone: all das lag in noch in ferner Zukunft. Was es aber bereits gab waren erste Dampfschiffe, Manufakturen mit lauten Maschinen, der Beginn von Massenprodukten, etwa Töpferwaren aus England und ein sich abzeichnendes Stadtproletariat. Das Maschinenwesen kündigte sich damals noch zaghaft an. Als programmatische Blaupause kann das Buch über den Wohlstand der Nationen des Schotten Adam Smith angesehen werden. Die Marktwirtschaft in Verbindung mit dem Prinzip der Arbeitsteilung und dem Einsatz von Maschinen sah er als Triebfedern für den Fortschritt durch Industrialisierung. Eine einfühlsame, menschliche Geschichte aus dieser frühen Zeit der Industrialisierung ist Charles Dickens Roman „Harte Zeiten“[2]. Siehe auch Industrialisierung ↗

Mitmachen als Antwort?


Goethe war das Maschinenwesen nicht geheuer. Er sah nur zwei mögliche Reaktionen. Die erste Reaktion ist gemäß dem Motto „If you can't beat them, join them“ mitzumachen. Das heißt, den technischen Fortschritt als voranzutreiben, darin seinen Vorteil zu suchen oder das Heil für die Menschen erkennen zu wollen. Tatsächlich aber waren nicht alle Menschen vom Maschinenwesen gequält und geängstigt, wie Goethe. Viele sahen darin den Schlüssel für eine bessere Zukunft. Tatsächlich brachte das Maschinenwesen letztendlich erschwingliche Urlaube für jedermann, elektrisches Licht, bezahlbare Heizungen und zum Beispiel auch billige Bücher und damit mehr Bildung. Das Industrie- und Maschinenzeitalter war ohne Zweifel auch ein Zeitalter für einen enormen technischen Fortschritt ↗

Entsagung und Flucht als Antwort?


Als zweite Reaktion - neben dem Mitmachen - sah Goethe die Möglichkeit der Flucht. Man solle die „Besten und Würdigsten“ mitnehmen, um ein „günstigeres Schicksal jenseits der Meere“ zu suchen. Auch das taten nicht wenige Menschen. Ab etwa 1825, gründeten Sozialutopisten eine Reihe von Gemeinschaftssiedlungen, teilweise fernab der Zivilisation, um ein Leben in Einfachheit und ohne Maschinen zu führen. Das klassische Beispiel dafür sind die religiös geprägten Amish in den USA, die noch heute ganz auf Verbrennungsmotoren oder Elektrizität verzichten. Siehe dazu den Artikel zu Gemeinschaftssiedlungen auf religiöser und weltanschaulicher Grundlage ↗

Wie aktuell ist Goethes Unbehagen?


100 Jahre nach Goethes Verlautbarung über das überhandnehmende Maschinenwesen kann man rückblickend sagen, dass zumindest in den entwickelten Indutriestaaten die Industrialisierung einerseit Umweltzerstörung und den Klimawandel gebracht hat. Andererseits hat sie auch ungeahnte Möglichkeiten für Konsum, Kultur und Bildung für große Bevölkerungsschichten gebracht. Nur eine Minderheit würde heute auf den Segen von Technik und Massenproduktion verzichten wollen. Etwas Neues aber „wälzt sich heran wie ein Gewitter“ und auch das „wird kommen und treffen“: künstliche Intelligenz. Verschiedene Autoren prophezeihen seit den 1960er Jahr eine Übernahme der Macht auf der Erde durch künstliche Maschinenintelligenzen. Auch hier spüren viele Menschen ein Unbehagen, aber wie zu Zeiten Goethes wird sich die Mehrheit der Menschen eher für die Chancen auf Komfort oder kurzfristige Vorteile entscheiden und nicht für einen Verzicht auf ganze Technologien. Auch hier stellt sich die Frage, ob man mitmachen soll (Transhumanismus?) oder sich dagegen stellen soll (Bostrom-Bremse?). Siehe mehr zu diesem Gedanken im Artikel technologische Singularität ↗

Fußnoten