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Normalität


Soziologie


Basiswissen


Normalität hat zwei ähnliche aber nicht deckungsgleiche Bedeutungen: Normalität kann rein beschreibend das sein, was üblicherweise, das heißt meistens, vorkommt. Normalität kann zum anderen aber auch eine wertende Forderung sein. Diese zwei Aspekte auseinander zu halten spielt unter anderem in der Soziologie eine wichtige Rolle. Das ist hier kurz vorgestellt.

Normalität als reine Beschreibung (deskriptiv)


Wenn man im Herbst unter einem Laubbaum eine größere Menge von Blättern aufsammelt und anschließend von jedem Blatt einzeln die Länge misst, wird man meist festellen, dass die Länge der meisten Blätter recht nah an der gemeinsamen durchschnittlichen Länge aller Blätter liegt. Je weiter eine Länge vom Durchschnitt entfernt liegt, desto seltener kommt diese Länge vor. In der Statistik spricht man von einer sogenannten Normalverteilung. Sehr viele Merkmale aus der Natur und Technik sind oft sehr gut normalverteilt. Typische Beispiele sind die Länge von Flügeln von Fliegen oder der Intelligenzquotient von Menschen. Wesentlich für den Gedanken hier ist, dass Normalität hier nur beschreibend, das Fachwort dafür ist präskriptiv, verwendet wird. Normalität wird weder wertend (evaluativ) noch vorschreibend (präskriptiv) verwendet. Für diese rein beschreibende Bedeutung siehe auch den Artikel zum Adjektiv deskriptiv ↗

Normalität als Forderung (präskriptiv)


Das Metzeler Philosophie Lexikon[1] fordert eine strikte Trennung der zwei sehr unterschiedlichen Bedeutungen von Normalität: der rein beschreibenden (deskriptiv) und der festlegenden, vorschreibenden (präskriptiv) Bedeutung. So werde beispielsweise in der Psychologie eine zunächst nur deskriptiv beschriebene Anomalie schnell auch als Pathologie, das heißt als Krankheit aufgefasst[2]. Tatsächlich steht auch in der Umgangssprache das Wort normal oft gleichermaßen für die reine Beschreibung als auch die Forderung, dass das Normale auch eingehalten werden soll: „Dieser Lärm in der Stadt! Das ist doch nicht normal!“ beinhaltet sowohl die Festellung einer als laut empfundenen Stadt wie auch die Wertung, dass dies nicht gut sei. Diese zweite Bedeutung von Normalität, die fordernde, nennt man auch präskriptiv ↗

Der naturalistische Fehlschluss


Die Natur ist ein einziger Kampf ums Überleben. Nur die stärksten und die am besten Angepassten überleben: diese Aussage ist zunächst ein Interpretation über die beobachtete Natur. Sie kann faktisch richtig oder auch falsch sein. Aus solch einer echten oder vermeintlichten Tatsache auch auf einen Wert, also ein Soll zu schließen ist logisch jedoch nicht zwingend: weil die Natur ein einziger Kampf ist, muss auch im Sozialen und auch zwischen den Staaten der Welt das Recht des Stärkeren gelten. Das frühe 20te Jahrhundert hat gezeigt, wohin ein solches sozialdarwinistisches Denken führen kann. Der hier gemachte - logisch nicht zwingende - Schluss heißt in der Philosophie naturalistischer Fehlschluss ↗

Soziologie: ausreichend viel Normalität bündelt Kräfte


Normalität im Sinne einer geringen Abweichung vom Mittelwert kann für soziale Gruppen ein Weg hin zu einem starken inneren Zusammenhalt sein. Die Mitglieder teilen dann oft eng definierte gemeinsame Werte wie ökologisch korrektes Verhalten, eine Ablehnung von Ausländern oder ein gemeinsames Interesse an einer Sportart. Jede Abweichung von der gemeinsamen Normalität wird dann oft geahndet. Äußere Kennzeichen wie Kleidung und Sprache dienen oft als Erkennungsmerkmal so definierter Gruppen. Der Nutzen für die Gruppe ist oft eine Bündelung der Kräfte hin auf ein Ziel (z. B. Klimaaktivisten). Die präskriptiv eingeforderte Normalität erzeugt eine sogenannte Gruppenkohäsion ↗

Soziologie: zu viel Normalität führt zur Resonanzkatastrophe


Wo der Zwang einer Gruppe zur Normalität abweichende Sichten zu stark unterdrückt oder ignoriert, folgt oft Realitätsblindheit. Ein gutes Beispiel sind Artikel aus Regionalzeitungen wie zum Beispiel den Aachener Nachrichten der frühen 2020er Jahre zum Thema Klimaschutz. Die von den Artikeln dargestellte gesellschaftliche „Normalität“ wird getragen von einem weit geteilten Dreiklang von Aussagen:


Diese Aussagen findet man in Talkshows, auf Blogs, in Aussagen von Politiker oder Personen aus der Wirtschaft. Sie werden von Privatpersonen in der ein oder anderen Version ständig wiederholt und bestätigen sich gegenseitig. Es ensteht eine kollektive Realität. Demgegenüber stehen abweichende Meinungen wie zum Beispiel die des Klimaforschers Mojib Latif. Im Sommer 2022 äußerte er sich resigniert über die 27. Weltklimakonferenz in Scharm el Scheich in Ägypten: „Das 1,5 Grad-Ziel können Sie abhaken. Ich sehe im Moment, ehrlich gesagt, auch nicht die zwei Grad.[3]“ Bei mehr als 2 Grad weltweiter Erwärmung sehen Klimaforscher katastrophale Folgen[4]. Entscheider aus Politik und Wirtschaft sowie ein großer Anteil von Privatpersonen hält dieser abweichenden Sicht ihre Normalität entgegen, dass Klimaschutz auch ohne Konsumverzicht möglich ist. Das Phänomen einer kollektiven Fehleinschätzung der Realität nennen Soziologen auch Gruppendenk ↗

Evolution: zu viel Normalität ist Stillstand


Der Molekulargenetiker Carsten Bresch schildert in einem populärwissenschaftlichen Buch die Rolle von Mutationen in der Evolution. Mutationen sind Änderungen von Erbinformationen, die in den meisten Fällen nachteilig für die betroffenen Organismen sind[5]. Doch in wenigen Fällen führen sie zu kleinen Verbesserungen, etwa einem Enzym, mit dem ein Mensch Milch verdauen kann[6]. Der Normalität des korrekten Genstranges steht die Anormalität der Mutation gegenüber. Wie auch in der Soziologie, müssen auch in der Evolution Normalität und Abweichung passend austariert sein. Bresch schreibt dazu: „Mutation ist eine zweischneidige Angelegenheit: Auf der einen Seite werden durch sie viele defekte Organismen hervorgebracht, auf der anderen Seite bieten ja nur Veränderungen die Möglichkeit zur Verbesserung einer noch unvollkommenen Funktion. Die Fehler der Replikation sind so Antrieb aller biologischen Evolution.“ Siehe auch Variation (Biologie) ↗

Fußnoten