A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z 9 Ω
Das Banner der Rhetos-Website: zwei griechische Denker betrachten ein physikalisches Universum um sie herum.

Gruppenselektion

Biologie

© 2016 - 2025




Basiswissen


In einer Gruppe verhalten sich einzelne Individuen so, dass der evolutionäre Erfolg der gesamten Gruppe erhöht wird. Sie tun das auch dann, wenn sie als Individuum gesehen einen evolutionären Nachteil davon haben. Im Extremfall opfert sich ein Individuum ohne Nachkommen hinterlassen zu haben für ein nicht-verwandetes Individuum der eigenen Gruppe[9]. Wenn diese Strategie in einer Gruppe über evolutionär lange Zeiträume bestand hätte, spräche man von einer Gruppenselektion. Das ist hier näher erklärt.



Bildbeschreibung und Urheberrecht
Vier Orkas erzeugen gemeinsam und koordiniert eine große Welle. Die Welle soll die Eisscholle zerbrechen oder so stark ins Schwanken bringen, dass der Krabbenfresser (eine Robbenart) ins Wasser rutsch und gefressen werden kann. Gruppen, die solche komplexen Strategien ausführen kommen, haben gegenüber Gruppen ohne solche Strategien klar einen Vorteil in der darwinistischen Evolution. © Callan Carpenter ☛


Klassische Definition


Im Sinne der Biologie ist Gruppenselektion definiert als eine Art "natürlicher Auswahl die an allen Individuen einer Gruppe gleichzeitig angreift. Alternativ kann an auch definieren, dass bei einer Gruppenselektion die Merkmale so evoluieren, dass die Fitness (im Sinne eines Fortpflanzungserfolges) einer Gruppe besser wird. Mathematisch heißt das, dass die Fitness der Gruppe höher oder niedriger ist als die durchschnittliche Fitness aller ihrer Individuen.[13] Ganz sicher tritt die so definierte Gruppenselektion bei eusozialen Lebensformen wie etwa Superorganismen von Ameisen auf.[11]

Historie


1871: Darwin


Bereits Charles Darwin warf die Frage auf, wie es sein kann, dass man sowohl bei Menschen wie auch in der Natur selbstlose Individuen findet. Sie opfern sich und die Ressourcen ihrer Nachkommen für andere mehr egoistische Individuen auf. Theoretisch müssten ihre Gene ja aussterben, was sie aber anscheinend nicht tun: Im Jahr 1871 schreibt Charles Darwin: „Es lässt sich nicht zweifeln, dass ein Stamm, welcher viele Glieder umfasst, die in einem hohen Grade den Geist des Patriotismus, der Treue, des Gehorsams, Muths und der Sympathie besitzen und daher stets bereit sind, einander zu helfen und sich für das allgemeine Beste zu opfern, über die meisten andern Stämme den Sieg davontragen wird, und dies würde natürliche Zuchtwahl sein.“

1896: Veblen


Schon seit ihrer Entstehungszeit in den 1840er Jahren war die biologische Theorie der Evolution eng verbandelt mit wirtschaftlichem und sozialen Denken. Der US-amerikanische Ökonom Thorstein Veblen forderte, dass evolutionäre Prinzipien auch zum Verständnis des Wirtschaftslebens genutzt werden. Im Jahr 1896 schrieb er, dass „der Kampf ums Überleben, angewandt auf soziale Entwicklungen, eher ein Kampf zwischen Gruppen und Institutionen als ein Wettkampf zwischen Individuen der Gruppe“ ist. (the struggle for existence, as applied with the field of social evolution, is a struggle between groups and institutions rather than a competition … between the individuals of the group.[4]) Und im Jahr 2018 deuten Evolutionsbiologen das Phänomen eines beharrlich erfolgreichen Populismus ähnlich: "was interessiert sind Konflikte um begrenzte Ressourcen, die Verteidiung der eigenen Gruppe, die Abgrenzung gegenüber fremden Gruppen und die Regulierung der Fortpflanzung.[5]" Als politisches Konzept ausgearbeitet wurde die Idee eines ewigen Wettkampfes sozialer Gruppen durch den Sozialdarwinismus ↗

1962: Wynne-Edwards


In den 1960er Jahren war das Problem noch immer nicht gelöst, wie Altruismus, also Selbstlosigkeit bestehen kann. In diesem Jahr wurde dann der eigentliche Begriff der Gruppenselektion geprägt: "Man spricht von Gruppenselektion, wenn 'Gruppen von Individuen einer Art, die gefährliche Kämpfe vermeiden, gegenüber anderen solchen Gruppen, in denen gefährliche Verletzungskämpfe die Regel sind, einen selektiven Vorteil haben. Die Gruppenselektion fordert das Beste für die Gruppe, während die Individualselektion auf dem Fitness-Gewinn einzelner Individuen beruht.'"[12]

Ökonomie als Gruppenselektion


Charles Darwins (1809 bis 1882) Ideen zur Evolutionstheorie waren stark durch die ökonomischen Ideen von Robert Malthus (1766 bis 1834) beeinflusst. Malthus hatte argumentiert, dass der Kampf um begrenzte Ressourcen prägend für die Entwicklung von menschlichen Gesellschaften sei[6]. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter (1883 bis 1950) sah dann im Absterben von Firmen und Branchen eine Art darwinistischer Selektion, die er "schöpferische Zerstörung" nannte[7]. Fasst man Unternehmen als Gruppen von Menschen auf, so konkurrieren auch hier Gruppen gegeneinanander. Und zumindest in Marktwirtschafen greifen mehr oder minder darwinistische Prinzipien. Dieser Gedanke ist die Kernidee des Wissenschaftsgebietes evolutionäre Ökonomie ↗

Altruismus als Ausgangsproblem


Bahnreisende kennen das Problem: hält ein Zug an einem größeren Bahnhof, bilden sich schnell Menschentrauben um die Türen der Bahnwaggons. Jeder einzelne möchte möglichst schnell in den Zug gelangen, zum Beispiel um einen freien Sitzplatz zu ergattern. Durch die Menschentrauben aber können ankommende Reisende schlechter aussteigen. Es bilden sich Stausituationen, in den Gängen kommt es zu Verstopfungen. Insgesamt dauert der gesamte Einstiegsprozess länger, als würden die zusteigenden Fahrgäste mit kleinen Zwischenräume nach und nach in den Zug einsteigen. Aber kein einzelner zusteigender Fahrgast hätte einen Vorteil davon, wenn er sich im Sinne des Gesamtwohls hinten anstellt und nicht drängelt, wenn es gleichzeitig noch viele Drängler gibt. Der Ehrliche ist der Dumme: wer beim Einsteigen in Zügen rücksichtsvoll ist, wird in den Zügen fast immer die schlechtesten Plätze erhalten. Übertragen auf eine evolutive Situation wäre die Folge, dass gemeinwohlorientierte Individuen weniger Nachkommen in ein reproduktives Alter bringen können als aggressive Egoisten. Damit würden sich aber die Gene für das Gemeinwohl mit der Zeit von alleine durch negative Selektion aus dem Genpool beseitigen. Gemeinwohlorientiertes Verhalten wäre evolutionär gesehen keine stabile Strategie. Eng mit diesem Problem verwandt ist die Entstehung von Altruismus ↗

Fußnoten


  • [1] Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. I. Band. Zweite Auflage. Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus. E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1871, Kapitel 5, S. 144, doi:10.5962/bhl.title.1419
  • [2] Wynne-Edwards: Animal Dispersion in Relation to Social Behaviour. Oliver & Boyd, 1962.
  • [3] Richard Dawkins: 1976: Das egoistische Gen. Spektrum, Akad. Verl., Heidelberg/Berlin/Oxford 1994, ISBN 3-86025-213-5 (Originaltitel: The Selfish Gene. Übersetzt von Karin de Sousa Ferreira).
  • [4] Jean Boulton: Why is Economics not an Evolutionary Science? Reprint of the original version from 1898 with an introduction by Jean Boulton) E:CO Issue Vol. 12 No. 2 2010 pp. 41-69.
  • [5] R. McDermott, P. K. Hatemi: To Go Forward, We Must Look Back: The Importance of Evolutionary Psychology for Understanding Modern Politics. In: Evolutionary Psychology, 16(2). 2018. Dort heißt es über den Populismus: "topics of concern typically devolve to conflicts around resource allocation, in-group defense and out-group discrimination, and attempt to regulate sex and reproduction". https://doi.org/10.1177/1474704918764506
  • [7] Lamar B. Jones: Schumpeter versus Darwin: In Re Malthus. Southern Economic Journal, vol. 56, no. 2, 1989, pp. 410–22. JSTOR, https://doi.org/10.2307/1059219
  • [8] Kurt Tucholsky, 1930, über den heraufziehenden Faschismus: "Und wenn alles vorüber ist –; wenn sich das alles totgelaufen hat: der Hordenwahnsinn, die Wonne, in Massen aufzutreten, in Massen zu brüllen und in Gruppen Fahnen zu schwenken, wenn diese Zeitkrankheit vergangen ist, die die niedrigen Eigenschaften des Menschen zu guten umlügt; wenn die Leute zwar nicht klüger, aber müde geworden sind; wenn alle Kämpfe um den Faschismus ausgekämpft und wenn die letzten freiheitlichen Emigranten dahingeschieden sind –: dann wird es eines Tages wieder sehr modern werden, liberal zu sein." In: Ignaz Wrobel (Alias von Kurt Tucholsky). die Weltbühne, 28.10.1930, Nr. 44, S. 665, wieder in: Lerne Lachen. In: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 270-271. Online: http://www.zeno.org/nid/20005818478
  • [9] In unserer Verwandtschaft sind mehr unserer Gene als in uns selbst (For all of us, there are more of our genes in our relatives than in ourselves.) In: Jay R. Feierman. Dieser Gedanke führte zu der Idee, dass Altruismus, das heißt der Verzicht auf eigene Vorteile zugunsten anderer, vielleicht nur eine versteckte Form von Gen-Egoismus sein könnte (We evolved to put family first by kin-selection, as explained above, given that our genes are ‘selfish’ but widely distributed among our kin.). In: Religion’s Possible Role in Facilitating Eusocial Human Societies. A Behavioral Biology (Ethological) Perspective. In: Studia Humana. Band 5 (2016): Heft 4 (Dezember 2016).
  • [10] Ob sich eine darwinistische Auffassung der Gruppenselektion auch auf wirtschaftliche und kulturelle Organisationen anwenden lässt, wird betrachtet in: Peter Kappelhoff: Selektionsmodi der Organisationsgesellschaft: Gruppenselektion und Memselektion. In: Duschek, S., Gaitanides, M., Matiaske, W., Ortmann, G. (eds) Organisationen regeln. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2012. Der Blickwinkel ist dabei die sogenannte Evolutionsökonomik ↗
  • [11] Zur Gruppenselektion von Superorganismen aus Ameisen "Die natürliche Selektion greift hier auf der Ebene der Kolonie, die einzelne Ameise hat ihre Individualität größtenteils aufgegeben." In: Daniel Kronauer. Interview mit Anna Lorenzen. Spektrum der Wissenschaft. 9.25 (September 2025). Dort auf Seite 56.
  • [12] Wynne-Edwards, V. C. (1962). Animal Dispersion in Relation to Social Behaviour. London: Oliver & Boyd.
  • [13] Zur Definition heißt es: "group selection, in biology, a type of natural selection that acts collectively on all members of a given group. Group selection may also be defined as selection in which traits evolve according to the fitness (survival and reproductive success) of groups or, mathematically, as selection in which overall group fitness is higher or lower than the mean of the individual members’ fitness values." In: Rogers, Kara. "group selection". Encyclopedia Britannica, 21 Jul. 2016, https://www.britannica.com/science/group-selection. Accessed 12 August 2025.
  • [14] Eine frühe Studie zum Austausch von Genen zwischen Gruppen: Wright, S. 1932. The roles of mutation, inbreeding, crossbreeding and selection in evolution. Proceedings of the 6th International Congress of Genetics: 356–366.