Zeilingers Kant-Forderung
Quantenphilosophie
Grundidee
So wie Immanuel Kant eine philosophische Grundlage für die klassische Physik geschaffen hatte, so ist es heute nötig, dass eine philosophische Grundlage für die Quantenphysik erschaffen wird. Dazu braucht es einen Kopf mit dem Format eines Denkers wie Immanual Kant. Das regte bereits im Jahr 2006 der spätere Physik-Nobelpreisträger Anton Zeilinger an. Eine Auswahl von Zeilingers Gedanken ist hier mit Querverweisen vorgestellt.
Zur Person: Professor Zeilinger
Professor Anton Zeilinger ist ein international anerkannter Naturwissenschaftler auf dem Gebiet der Quantenphysik. Er wirkte vor allem in Wien. Im Jahr 2022 erhielt er den Nobelpreis für Physik. Bemerkenswert an Anton Zeilinger ist, dass er die Quantenphysik mit philosophischen Fragen verbindet. Einer seiner Kernidee ist, dass die Befunde der Quantenphysik ein ganz neuartiges, philosophisches Fundament benötigen. Dieses Fundament scheint nach Zeilinger einen Denker vom Format eines Immanuel Kant zu benötigen.
Kernaussage
„Ich sag immer, und versuche meine philosophischen Freunde, ein Bißchen, und das muss man ja heute sagen auch Freundinnen, es gibt ja auch Philosophinnen, zum Glück, versuche ich ein Bißchen zu motivieren, indem ich sage, der Immanuel Kant hat etwas geliefert wie eine philosophische Basis für die klassische Physik. Und wir brauchen einen Immanuel Kant der Quantenphysik. Wir brauchen da jemanden, der uns einen neuen Weg zeigt. Dass der Weg nicht einfach sein wird ist klar, denn wir suchen das immerhin schon fast ein Jahrhundert lang.“
Einstein sah Licht als echte Teilchen
Zu Einsteins Arbeit aus dem Jahr 1905, mit dem Titel Über einen die Erzeugung und Umwandlung des Lichts betreffenden heuristischen Standpunkt: „Es ist der erste Vorschlag von Quanten, die wirklich als Teilchen existieren sollen […] Und Einstein sagte, nein, es soll Lichtteilchen geben und hatte da durchaus ein sehr realistisches Bild. Er sah diese Teilchen vor sich die da durch den Raum fliegen wie das halt Teilchen machen.“ Siehe auch Licht als Teilchen ↗
Einsteins Licht-Teilchen heute überwunden
Zeilinger sieht die moderne Quantenphysik jenseits einer Vorstellung klassisch gedachter Teilchen von Licht: „Und wenn Sie fragen, wo gehen wir heute über Einstein hinaus, dann sind es genau diese realistischen Bilder. Die akzeptieren wir heute in der Quantenphysik nicht mehr.“ Siehe auch Photon ↗
Warum Einstein gegenüber der Quantenphysik skeptisch blieb
Auf die Frage, warum Albert Einstein zeitlebens nicht ganz zur Quantenphysik stehen konnte, antwortet Anton Zeilinger: „Weil sie, wie wir heute sagen, einem realistischen Weltbild widerspricht; weil sie zwei Eigenschaften hatte, die er nicht mochte. Das eine war, dass es in der Quantenwelt einen Zufall gibt, der über das hinausgeht, was wir im täglichen Leben und auch in der klassischen Physik akzeptieren. Und das Zweite ist die Tatsache, dass wir in der Quantenphysik nicht mehr davon ausgehen können, dass die Dinge die wir beobachten, in der Form ehe wir beobachten und unabhängig von unserer Beobachtung existieren. Einstein wollte, dass da draußen eine Welt ist und wir gehen passiv durch diese Welt, wir beobachten die halt.“ Einsteins Position nennt man auch Realismus ↗
Anton Zeilinger zur Uhrwerk-Metapher der Physik
Im 18ten und 19ten Jahrhundert hatte sich in der klassischen Physik die Idee entwickelt, dass die Welt wie die Mechanik eines Uhrwerks abläuft. Dazu Anton Zeilinger: „Dieses Uhrwerk-Bild, genau das funktioniert nicht. Das funktioniert auf der Quantenphysik absolut nicht mehr.“
Grundlagenforschung interessiert
In dem Interview kam die Frage auf, welchen Nutzen die Quantenphysik habe. Darauf Zeilinger: „Das ist eine Frage, die wird mir viel eher von Journalisten gestellt als von sozusagen Durchschnittsbürgern. Ich stelle fest, dass die Menschen sich einfach interessieren, wie funktioniert die Welt, was steckt dahinter. Das ist viel wichtiger als ob man dass für etwas technisch brauchen kann. Auch die Quanten kann man brauchen, aber das ist sekundär. Primär ist etwas zu lernen darüber, was dahinter steckt.“ Wen diese Frage aus der Sicht der Physik interessiert, dem sei ein Buch aus der Zeit Einsteins sehr empfohlen Grundlagen der Naturwissenschaften (Exner) ↗
Einzelquanten verhalten sich a-kausal
„… dass wir für ein einzelnes Quantenteilchen heute sagen, dass für sein Verhalten keine kausale Erklärung angegeben werden kann. Nur für viele gemeinsam, aber das einzelne verhält sich rein zufällig.“ Siehe auch a-kausal ↗
Alle Elementarteilchen verhalten sich quantenhaft
Auf die Frage was ein Quant sei, antwortet Zeilinger: „Die Quantentheorie ist eine umfassende Theorie. Das heißt, alle Teilchen, alle Elementarteilchen verhalten sich nach diesen Quantengesetzen. […] Das wesentliche an Quanten ist, dass sie unteilbar sind. Das heißt, man kann nicht mehr näher, weiter hineinschauen.“
Ist die Quantentheorie elementar?
Einstein hat immer gefordert, es müsst eine Theorie geben, aus der die Quantentheorie abgeleitet werden kann und die selbst unser Kausalbedürfnis befriedigt. Dazu Anton Zeilinger: „Es war lange die Diskussion, ob die Quantentheorie, die eine statistische Theorie ist, die endgültige Antwort ist, oder ob es etwas gibt, eine Theorie die darunter liegt, die die Dinge kausal erklären kann. Und Einstein hat dazu etwas beigetragen. Er hat gemeint, es müsste eine solche Theorie geben. Heute wissen wir dass es eine solche Theorie entweder nicht gibt oder, ich sage immer, wenn es sie gibt, dann ist sie noch viel verrückter als die Quantentheorie.“
Quanten und Lebewesen
Auf die Frage, ob Quanten auch bei Menschen, Tieren und Pflanzen eine Rolle spielen antwortet Anton Zeilinger: „Ob jetzt dieses zufällige Verhalten von Einzelquanten und auch anderer dieser Phänomene in uns eine Rolle spielen, ist eine offene Frage. Die Grundannahme der Biologen ist, dass das nicht der Fall ist, besonders auch im Gehirn zum Beispiel.“ Die Vorstellung, dass etwa Geist und physikalisch gedachte Materie aufeinander einwirken können, heißt in der Philosophie interaktiver Dualismus ↗
Einsteins Spuk und die Fernwirkung
Angesprochen auf sein Buch mit dem Titel Einsteins Spuk im Zusammenhang mit der Verschränkung (EPR), führt Zeilinger aus: „[…] das Verhalten von zwei Teilchen, die miteinander in Wechselwirkung getreten sind […] die aneinander gestoßen sind und jetzt auseinander fliegen. Und Einstein hat beobachtet, theoretisch, das war damals experimentell nicht möglich dass die Messung an einem der beiden den Zustand, der Zustand ist nichts anderes als die Summe der Eigenschaften, den Zustand des anderen instantan beeinflusst, also schneller als mit Lichtgeschwindigkeit. Und das wollte er nicht. Das hat er spukhaft genannt. […] Das Problem ist hier weniger die Kausalität. Der Zusammenhang ist eindeutig. Die erste Messung ist rein zufällig, dafür gibt es keine kausale Erklärung. Aber aufgrund dieser Beobachtung kann ich genau kausal vorhersagen, was die Eigenschaften des zweiten Teilchens sind. Nur es widerspricht Einsteins Relativitätstheorie. […] Leider hat er nicht mehr gelebt, als Leute gezeigt haben, dass es das tatsächlich gibt.“ Siehe auch EPR ↗
Schrödingers Katze
Zeilinger stellt zunächst fest, dass Erwin Schrödinger den Begriff der Verschränkung eingeführt hat und dass er sich genau auch auf das EPR bezieht. Das sei jedoch nicht der wesentliche Punkte bei Schrödingers Katze: „Bei der Katze geht es um die Frage, wie große Systeme können diese Quanteneigenschaften zeigen. Ein interessanter Punkt bei Quanteneigenschaften ist, dass Systeme in einer Überlagerung von zwei Möglichkeiten sein können. […] Ein Ding ist gleichzeitig A und B. Ein berühmtes Beispiel ist, ich habe in einer Wand zwei Öffnungen, Doppelspaltexperiment, und dann gibt es gewisse Phänome dahinten, die kann ich nur dadurch verstehen, dass eine Welle durch beide Öffnungen durchgeht. Wenn man jetzt aber ein einzelnes Teilchen hat, dann frage ich, was macht es. Dann sagen die Quantenphysiker: es ist in einer Überlagerung von beiden. Und Schrödinger hat sich den Kopf zerbrochen und gefragt, wie groß kann ein Ding sein, dass diese Überlagerung zeigt. Und da hat er ein Gedankenexperiment erfunden, wo eine Katze mit einem einzelnen Atom gekoppelt ist in einer Überlagerung von tot und lebendig. Und da hat er gemeint, das ist offenkundig absurd. Also muss irgendetwas an den Überlegungen falsch sein. Nur bis heute wissen wir nicht, was falsch ist. […] Für wie große Objekte können wir das tatsächlich nachweisen. Und ich meine, da gibt es keine Grenze. Da werden wir noch unsere großen Überraschungen erleben.“ Siehe auch Doppelspaltexperiment ↗
Was genau meint Wahrscheinlichkeit?
Gefragt, ob die Warscheinlichkeit der Quantenphysik den Wahrscheinlichkeitsangaben einer Wettervorhersgage entspricht widerspricht Zeilinger klar: „Das ist genau der Punkt, um den es geht. Das ist eben nicht das Gleiche. Im Falle der Wetterprognose können wir letztlich erklären, im Nachhinein oft nur, weil wir nicht alle Daten gut genug erfassen können, warum das Gewitter hier war und nicht da. Es gibt also für das einzelne Ereignis eine Erklärung. Diese Erklärung kennen wir oft nicht und daher sind Wettervorhersagen ungenau. […] Es gibt eine eindeutige Ursache-Wirkungs-Beziehung. Im Falle des Verhaltens einzelner Quanten wäre das nicht möglich. Da kann ich auch im Nachhinein, auch wenn ich weiß, wie es ausgegangen ist, also wenn es Quantenwetter gäbe, könnte ich auch im Nachhinen nicht erklären, warum es hier geregnet hat und nicht hier. Und das ist das, was Einstein gestört hat.“ Siehe auch Wahrscheinlichkeit ↗
Quantenteleportation und Quantencomputer
Es folgt im Interview ein längerer Abschnitt über konkrete Experiment zur Quantenteleportation, zur Kommunikation mit verschränkten Quanten und zu Quantencomputern. Im Bezug auf Zeilinger philosophische Forderungen nach einem neuen Immanuel Kant scheint dieser Teil aber keinen direkt Bezug zu haben oder die Kernaussagen sind schon in anderen Zitaten enthalten. Dieser Abschnitt ist deshalb hier nicht zusammengefasst.
Ist die Quantenphysik seit Einstein in der Physik angekommen?
Anton Zeilinger: „In der Physik ist diese theoretische Beschreibung der Natur vollkommen angekommen. Das heißt, die mathematische Beschreibung funktioniert unglaublich genau. Sowohl in der Relativitätstheorie als auch in der Quantenphysik. Und da gibt es keinen Zweifel, dass wir etwas gefunden haben, das - ich hätte fast gesagt, das das Endgültige ist. Das sollte man in der Physik nie sagen.“
Ist die Quantenphysik auch in den Geisteswissenschaften angekommen?
Anton Zeilinger: „Das ist genau der Punkt. Die philosophischen Konsequenzen, die weltanschaulichen Konsequenzen sind nicht wirklich angekommen. Vielleicht noch eher für die Relativitätstheorie, für die Quantenphysik sicher noch nicht. Und da bedarf es noch einiges an Überlegungen. Ich sag immer, und versuche meine philosophischen Freunde, ein Bißchen, und das muss man ja heute sagen auch Freundinnen, es gibt ja auch Philosophinnen, zum Glück, versuche ich ein Bißchen zu motivieren, indem ich sage, der Immanuel Kant hat etwas geliefert wie eine philosophische Basis für die klassische Physik. Und wir brauchen einen Immanuel Kant der Quantenphysik. Wir brauchen da jemanden, der uns einen neuen Weg zeigt. Dass der Weg nicht einfach sein wird ist klar, denn wir suchen das immerhin schon fast ein Jahrhundert lang.“
Die Welt als Summe aller Möglichkeiten
Der Interviewer zitiert Zeilinger damit, dass Wittgenstein einmal gesagt hätte, dass die Welt das ist, was der Fall ist, was Zeilinger ergänzt habe zu: die Welt ist alles was der Fall ist und auch alles was der Fall sein kann. Dazu Zeilinger: „Was wir in der Quantenphysik beschreiben, was wir sagen können über die Zukunft […] und über zukünftige Beobachtungen und Messergebnisse, wird zusammengefasst in dem, was wir den quantenphysikalischen Zustand eines Systems nennen. Und dieser Zustand beschreibt nicht nur, was der Fall ist, nicht nur meine Ergebnisse aus der Vergangheit, sondern er beschreibt alles, was im Prinzip möglich ist in der Zukunft. Jedes allerdings nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit.“ Dieser Gedanken findet seinen mathematischen Ausdruck in einer sogenannten Wahrscheinlichkeitsfunktion.
Was korrigiert die Quantenphysik an unserem Weltbild?
Anton Zeilinger: „Das ist erstens diese Sache mit der Kausalität […] die ersetzt wird durch den Zufall. Und das Zweite ist, die […] die interessante Beobachtung, dass wenn ich jetzt eine Messung mache, und die liefert mir ein bestimmtes Resultat und dieses Resultat ist zufällig, dann könnte ich meinen, dass diese Messung mir eine Eigenschaft aufdeckt, die schon existiert hat. Wenn ich dieses Blatt Papier hochhebe, dann sehe ich, was darunter ist, das war sozusagen versteckt. Aber der Tisch mit der Maserung, das hat existiert. Das ist nicht sozusagen neu entstanden dadurch dass ich hinsehe. Bei Eigenschaften von Quantensystemen ist es so, dass die Annahme, dass das was ich beobachte vorher schon existiert hat in gewissem Sinn falsch. […] Das kommt erst in Existenz, dadurch dass ich hinsehe. Es ist nicht nur eine Änderung dessen, was vorhanden ist, sondern es nimmt diese Eigenschaft erst an.“
Heisenbergsche Unschärferelation
Anton Zeilinger: „Ein berühmtes Beispiel ist aus der Heisenbergschen Unschärfebeziehung. Dort heißt es, dass der Ort und der Impuls […] eines Teilchens nicht beides gleichzeitig genau festgelegt sein kann. Wenn ich jetzt den Ort messe […], dann finde ich es hier [zeigt mit dem Finger auf eine Stelle am Tisch]. Das heißt aber nicht, dass das Teilchen vor hier [er zeigt wieder auf dieselbe Stelle] war. Und das ist etwas ganz Erstaunliches, was philosophisch noch nicht erarbeitet ist. Die Beobachtung […] ändert nicht nur die Welt, sie ist konstitutiv, sie konstitutiert die Wirklichkeit. Und der nächste wichtige Punkt ist der, dass ich ja entscheide, welche Messung ich mache.“ Professor Zeilinger relativiert hier jedoch, dass dies seine persönliche Meinung sei. Zeilinger weiter:
Physik ist beschränkt auf Operationalisierbares
Anton Zeilinger: „In der Relativitätstheorie hat Einstein einen Riesen Sprung nach vorne gemacht dadurch dass er gesagt hat, die Frage was ist Zeit zum Beispiel oder was ist Raum ist gar nicht notwendig von einem absoluten Standpunkt zu beantworten, sondern er sagt, Zeit ist alles, was Uhren messen. Punkt. Und dann kann Zeit ein Phänomen sein, dass sich von einem Beobachter zu einem anderen ändert weil die Uhren verschieden laufen können. […] Im GPS System wird das ja direkt angewendet, dass Uhren verschieden schnell gehen. […] Man sagt, die Begriffe werden operationell definiert, durch welche Operationen man sie feststellen kann. Und wir haben auch gelernt, in der Physik, dass wir Unterscheidungen, die operationell nicht verifizierbar sind, dass wir die nicht machen sollten. Und jetzt behaupte ich, dass wir den Unterschied zwischen der der Wirklichkeit, der Realität da draußen und der Information die wir über die Realität haben, auch nicht machen können. Wir können hier keinen Trennungsstrich machen. Denn wir können über die Wirklich noch etwas aussagen über den Weg der Information, die wir besitzen. Und daher meine ich, ich weiß, dass ist relativ provokanter Vorschlag, dass Wirklichkeit und Information so etwas sind wie zwei Seiten derselben Münze, die untrennbar miteinander verbunden sind.“ Siehe auch operationalisieren ↗
Was heißt das alles für unser Weltbild des Universums?
Anton Zeilinger: „Das Universum ist ein harter Knochen. Weil, offenkundig das Universum existiert und es existierte bereits vor unserer Beobachtung und es macht natürlich keinen Sinn, vom ganzen Universum zu behaupten, das kommt nur dadurch in Existenz, dass wir mal hinsehen. Auf der anderen Seite, bei Quantenphänomenen gibt es dieses Problem. Wie das jetzt miteinander zu vereinigen ist, das weiß ich nicht, das ist eine wirklich wichtige Frage.“
Mond-Anekdote von Einstein und Bohr
Anton Zeilinger spricht über eine nicht belegte Anekdote, derzufolge Albert Einstein Niels Bohr einmal die Frage gestellt habe, ob der Mond wirklich nicht da sein, wenn man nicht hinsähe. Darauf soll Bohr Einstein aufgefordert haben, ihm das Gegenteil zu beweisen: „[…] irgendwo sind das Fragen, die man letztlich wahrscheinlich nicht entscheiden kann.“ Eine solche unentscheidbare Fragen nennt man auch eine Aporie ↗
Was ist der Beitrag der Quantenphysik zur Hirnforschung, zur Willensfreiheit?
Anton Zeilinger: „Derzeit noch keiner. Das ist eine Frage, die schon lange diskutiert wird. […] Einer der ersten, die das diskutiert haben war meines Wissens nach Pasqual Jordan, einer der Mitbegründer, der frühen Pioniere der Quantenphysik. Die Frage, ob der Zufall letztlich dazu führen könnte, dass man eine physikalische Möglichkeit der Begründung eines freien Willens hätte. Weil dann eben nicht mehr alles deterministisch abläuft.“ Siehe auch Freier Wille ↗
Empirismus, Versuche als Zugang
Zeilinger schlägt zur Frage der Willensfreiheit einen empirischen Weg vor: „Wenn es eine Rolle des Zufalls gäbe, wie würden wir das beobachten, rein pragmatisch. Und ganz egal wie diese Frage beantwortet wird, wenn sie beantwortet wird, dass die Quantenphysik und der Zufall keine Rolle spielen im Gehirn, wäre das auch eine wichtige Erkenntnis. Wenn wir das definitiv ausschließen könnten. Daran müssen wir arbeiten. Ich versuche ein wenig, über diese Probleme nachzudenken und zu schauen, wo wir experimentelle finden können. Ein Bißchen Ideen gibt es, aber wo es hinführt, wissen wir noch nicht.“
Erzwingt die Quantenphysik den Freien Wille?
Auf diese sinngemäß gestellte Frage des Interviewers antwort Zeilinger: „So weit würde ich nicht gehen, das würde ich lieber den Philosophen überlassen. Ich bin viel bescheidener, ich würde ganz einfach sagen, dass wenn wir zeigen können, dass die Quantenphysik eine nicht triviale Rolle im Gehirn spielt, dann müssten wir uns zumindest von dem Bild verabschieden, dass das da oben [tippt sich an den Kopf] eine deterministische Maschine ist. […] Und dann wird's wieder spannend, dann ist die Welt offener. Ob das jetzt einen Freien Willen ermöglicht, das ist eine ganz andere Frage, die man getrennt angehen muss. Weil, man hat da ein Problem: wenn ich auf der einen Seite behaupte, dass der Zufall in der Quantenphysik ein reiner Zufall ist, ohne eine kausale Erklärung, dann kann ich den auch für den Freien Willen nicht verantworlich machen. Wenn ich den für den Freien Willen verantwortlich machen würde, würde es ja heißen, dass es etwas gibt, ein Agens gibt, etwas das wirkt, dass Sie meinetwegen mit dem schönen Namen Bewusstsein belegen möchten, das diesen Zufall wieder beeinflusst, dann bricht eigentlich meine erste Behauptung zusammen.“ Siehe auch Zufall ↗
Das Gehirn arbeitet dezentral
Zeilinger hält es für sehr wichtig zu erkennen, dass man im Gehirn keine zentrale Steuerung findet, die Prozesse eher räumlich verteilt ablaufen: „Was die Hirnforscher offenbar ausschließen können ist, dass es im Gehirn eine lokalisierbare Zentrale gibt […]. Das ist offenbar ein sehr komplexer Vorgang, bei dem verschiedene Bereiche des Gehirns sich untereinander absprechen miteinander synchronisieren […]. Was es aber nicht ausschließt ist, dass es eine verteilte Zentrale gibt […], dass es Systeme gibt, die gemeinsam entscheiden, was Ich ist, was das Bewusstsein ist.“
Verschränkung im Gehirn?
Zeilinger führt aus, dass es verschiedene Personen gäbe, die darüber nachdenken, ob die quantenphysikalische Verschränkung im Gehirn eine Rolle spielt. Er sagt dazu klar „Ich persönlich halte das für unwahrscheinlich, weil diese Quantenzustände extrem empfindlich sind und das da oben [tippt sich an die Stirn] ist letztendlich eine warme Suppe. Das ist alles andere als ungestört, wie sich ein Quant da verhalten kann. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass nicht-lokale Phänomene der Quantenphysik da eine Rolle spielen, wenn dann eher wohl lokalisierte Phänomene. […] Aber die Dinge sind einfach jetzt nicht genau bekannt.“ Siehe auch Lokalität (Physik) ↗
Seele und Individualität
Ob Zeilinger der Idee von Seele und Individualität etwas abgewinnen könne: „Jetzt fragen Sie mich nach meiner persönlichen privaten Meinung, das hat mit mir als Physiker nichts zu tun. Was mir dazu spontan eingefallen ist ein wunderschönes Zitate von Oscar Wilde. Anybode who believes that there is the slightest difference between body and soul has neither one. Jeder der glaubt, dass es auch nur den geringsten Unterschied zwischen Körper und Seele gibt, hat keines von beiden. […] Das sind genau die interessanten Fragen, die man auch an die Zukunft stellen kann. […] Gibt es etwas, wo auch der Naturwissenschaftler sagen kann, das geht über eine materialistische Beschreibung hinaus. Spannende Frage, wie man das finden würde weiß ich nicht.“ Siehe auch Seele ↗
Was treibt den Forscher Zeilinger an?
Anton Zeilinger: „Wenn ich das wüßte. Sie fragen mich jetzt […] wie sehe ich mich selber. Das ist diese Neugier, dieses Wissen wollen, was dahinter ist, was ist hinter dem nächsten Berg, was ist da los? […] Mich treiben weniger an die konkreten Anwendungen […] diese fundamentalen Fragestellunge, die sind einfach interesssant.“ Dieses Denkinteresse ist typisch akademisch ↗
Kann Zeilinger der Gottesidee etwas abgewinnen
Hier führt Zeilinger aus, dass Einsteins Gott ein Gott war der bloß die Naturgesetze geschaffen haben, dann aber die Welt in Ruhe ließ (Theismus). Zeilinger hingegen sieht hinter der gesamten Physik mehr als nur das Physikalische, aber das ließe sich nicht beweisen, viele seiner Kollegen seien nicht dieser Meinung. Zeiling kann sich vorstellen, dass es einen Gott gibt, der in die Welt eingreift (Deismus). Als ein Problem trete dann aber auf, dass Gott den Zufall maninpulieren müsste und der Zufall dann nicht mehr zufällig sei. Er, Zeilinger, hielte sich dann lieber an Bohr, der stets mahnte, man solle Gott nicht zu viele Eigenschaften zuschreiben.
Einordnung und Ausblick
Soweit die Zitate aus dem Interview mit Professor Zeilinger. Beachtlich ist zunächst die Tatsache, dass Zeilinger keinen neuen Einstein sondern einen neuen Immanuel Kant fordert. Warum nicht Einstein? Einstein hatte durch völlig neuartiges Denken mehrere Erkenntnisbarrieren seiner Zeit überwunden und zuvor widersprüchliche Aussagen in einen stimmigen Rahmen gestellt. Genau das wäre ja Zeilinger zufolge auch für die Quantenphysik nötig. Einstein war aber kein Philosoph im erweiterten Sinn. Einstein war zwar politisch wach und engagiert (Zionismus) und auch philosophisch interessiert[3] aber Einstein verband seine Relativitätstheorie und auch seine Quantenphysik niemals zielstrebig und dauerhaft mit den Großen Fragen der Philosophie, den Fragen nach einem Freien Willen, dem Sinn und Zweck des Universums, Moral oder dem Göttlichen. Das aber tat Immanuel Kant. Immanuel Kant beschäftige sich einerseits mit begrenzt naturwissenschaftlichen Fragen[4][5], betrachtete aber solche andererseits auch verbunden mit größeren philosophischen Themen[6]. Lässt man Zeilinger Aussagen in dem hier beschriebenen Interview als Ganzheit wirken, so entsteht der Eindruck, dass Zeilinger sich von der Philosophie - und nicht von der Physik oder Mathematik - eine tiefer Erklärung der Quantenphysik erhofft. Siehe auch Philosophie der Physik ↗
Zur Quelle
Am 14. Mai 2006 strahlte der Schweizer Rundfunk SRF unter dem Titel Sternstunde der Philosophie ein Interview „Einstein auf dem Prüfstand“ aus. Das Interview führte Norbert Bischofberger. Es ist im Archiv des SFR abrufbar, allerdings nur von innerhalb der Schweiz aus. Vermutlich ist es dieses Interview das später auf Youtube unter dem Titel „Wir brauchen einen Immanuel Kant der Quantenphysik“ allgemein verfügbar gemacht wurde. Die Zitate hier stammen alle aus der Youtube-Version. Alle Textteile in Anführungszeichen („“) stammen von Anton Zeilinger direkt und wurden direkt aus dem Interview transkribiert.
Fußnoten
- [1] Anton Zeilinger: Einstein auf dem Prüfstand. In: Sternstunde Philosophie. Interview des Schweizer Rundfunks. 14.05.2006.
- [2] Paul Drechsel: Immanuel Kant als Quantenphilosoph.: Eine neue Sichtweise des Opus postumum. Amazon CreateSpace PoD. 2016. ISBN: 978-3000525032. Das Buch enthält am Anfang ein Kapitel "Zeilingers Frage an Kant" sowie am Ende ein Kapitel "Kants Antwort an Zeilinger".
- [3] Albert Einstein: Mein Weltbild. Herausgegeben von Carl Seelig. Ullstein Bücher. Erstdruck 1934 in Amsterdam. Ausgabe des Druckhaus Tempelhof, Berlin, 1955.
- [4] Immanuel Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt. Petersen, Königsberg und Leipzig 1755.
- [5] Immanuel Kant: Über die Vulkane im Monde (1785)
- [6] Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764).
- [7] Meinard Kuhlmann: Was ist real? In: Spektrum der Wissenschaft. Juli 2014. (Warum Teilchen- und Wellenbild beide versagen)