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Homo integratus degeneratus


Spekulative Evolution


Grundidee


Homo integratus degeneratus bezeichnet eine fiktive Unterspezies (Unterart) der ebenfalls fiktiven Menschenart Homo integratus. Ihr Kennzeichen ist die Rückbildung oder der Verzicht auf Weiterentwicklung zugunsten einer Integration in ein größeres Ganzes.

Definition


Der Homo integratus degeneratus wird für ein größeres Ganzes (Gruppe, Firma, Staat) gerade dadurch nützlich, indem er als Individuum degeneriert. Degenerieren heißt, dass er ehemals vorhandene Fähigkeiten zurückgebildet hat oder vorhandene Potentiale nicht nutzt. Wesentlich für eine Unterscheidung von einer allgemeinen Degenaration an sich ist nicht die Art der Degeneration sondern die Tatsache, dass gerade die Degeneration erst den Nutzen für das Kollektiv, das Ganze bewirkt. Dieser Gedanke geht zurück auf den polnischen Schriftsteller Stanislaw, der ihn zunächst am Beispiel von Soldaten und Offizieren im Militärwesen skizzierte. Lies mehr dazu unter soziointegrative Degeneration (Stanislaw Lem) ↗

Orwells Proleten als literarisches Beispiel


Der dystopische Roman „1984“ von George Orwell beschreibt eine stabile Diktatur. In ihr hat hat eine elitäre Oberschicht die völlige Kontrolle über die Masse der Einwohner, die sogenannten Proles (Proleten). Die Proles werden unter anderem mit Hilfe einer verkrüppelten Sprache, dem Neusprech, ihrer Denkfähigkeiten beraubt. Die Proles leben unter ständiger Überwachung und Angst und sind in ihren Lebensbedürfnissen ganz auf ihre kleinen Alltäglichkeiten reduziert. Degeneriert sind hier sowohl das intellektuelle Fassungsvermögen als auch jedes Bedürfnis Bedürfnis Selbsbestimmung. Damit sind sie gleichzeitig Opfer wie auch ein funktional stabilisierender Teil des gesamten Herrschaftsgefüges. Mehr dazu unter 1984 (Roman) ↗

Marcuses eindimensionaler Mensch als Warnung


Der Mensch in der modernen Industrie- oder Informationsgesellschaft mag punktuell beachtliche intellektuelle Leistungen vollbringen: seine Bedürfnisse sind aber von jedem Bedürfnis nach Sinn und Alternativen über das gegebene System hinaus „abgeriegelt“. Die einzige Dimension in der der Mensch noch denken kann ist die der unmittelbaren Nützlichkeit für gegebene Fremdanforderungen. Marcuse Analyse aus den frühen 1960er Jahren zeichnet das Bild eines zerstörerischen aber in sich selbst stabiles Kapitalismus, in dem die Fähigkeit zum Denken in Alternative weitgehend degeniert ist. Siehe auch Der Eindimensionale Mensch ↗

Der Mensch als bloßer Effektor-Sensor?


Ein Lieferdienst beschäftigt Menschen als Radfahrer, die zum Beispiel Pizzen von Pizzabäckerein an Kunden ausliefern. Der Radfahrer erhält über Headset ständig Anweisungen wo er hinfahren soll und was er machen soll. Keine Wegentscheidung trifft er noch selbst. Gleichzeitig wird über GPS ständig sein Standort erfasst. Der Mensch ist hier zu einem rein ausführenden Werkzeug der Firma einerseits und einem Datenlieferanten andererseits geworden. In der biologistischen Sprache des Mediziners Kazem Sadegh-Zadeh ist ein solcher Mensch ein reiner Effektor und ein reiner Sensor im Dienste eines Überwesens[8, Kapitel 1], der Machina sapiens ↗

Das Individuum kann das Ganze nie fassen


Der US-amerikanische Anthropologe A. L. Kroeber schließt eine längere Abhandlung[11] über das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft (the superorganic) mit dem Eingeständnis, dass das Individuum niemals die Lebensregungen des Überindividuums wird erfassen können: Here then, we have come to our conclusion; and here we rest. The mind and the body are but facets of the same organic material or activity; the social substance - or unsubstantial fabric, if one prefers the prhase, - the existence that we call civilization, transcends them utterly for all its being forever rooted in life. The processes of civilizational activity are almost unknown to us. The self-sufficient factors that govern their working are unresolved. The forces and principles of mechanistic science can indeed analyze our civilization; but in so doing they destroy its essence, and leave us without understanding of the very thing which we seek. The historian as yet can do little but picture. He traces and he connects what seems far removed; he balances; he intergrates; but he does nor really explain, nor does he transmute phenomena into something else. His method is not science; but neither can the scientist deal with historical material and leave it civilization, nor anything resembling civilization, nor convert it wholly into concepts of life and leave nothing else to be be done. What we all are able to do is to realize this gap, to be impressed by its abyss with reverence and humility, and to go our paths on its respective sides without self-deluding attempts to bridge the eternal chasm, or empty boasts that its span is achieved." Diese Idee wir hier abstrahiert und weiter verfolgt unter dem Stichwort Lokaloid ↗

Die Degeneration als zwangsläufige Folge der Integration?


Der vorherige Abschnitt legt es nahe, dass der einzelne Mensch im hypothetischen Überorganismus entweder bewusst oder unbewusst seine Ansprüche herabsetzt oder beschränkt. Er kann nicht anders. Damit aber wird er zum Homo integratus degeneratus. Die Degeneration springt aber nicht notwendigerweise aus einer Dekadenz, Lebensschwäche oder einer Neigung zur Dümmlichkeit. Kroeber spricht eher von Bescheidenheit (humility) angesichts der Unfassbarkeit des Überorganismus. Nimmt man diese Umstand als gegeben an, so stellt sich freilich die Frage ob man das so will: möchte man Teil eines Überwesens oder ungreifbarer abstrakter Prozesse werden, oder möchte man nicht selbst an oberster Stelle der Hierarchie der psychischen und physischen Welt stehen? Zur allgemeinen Bedeutung siehe auch Degeneration ↗

Die Seepocke als Metapher der Degeneration?


Seepocken sind winzig kleine Krebstiere. Sie leben in sehr festen, spitzen weißen Kalkhäuser. Damit bedecken sie zum Beispiel an der Nordsee Steine und Buhnen. Die Tierchen sind gut an das Leben in starker Brandung angepasst. Sie haben dort erfolgreich eine ökologische Nische erobert. Man geht davon aus, dass Seepocken früher frei bewegliche Krebse mit vielen und leistungsfähigen Sinnesorganen waren. Die Beweglichkeit und die Sinnensorgane sind heute weitgehend zurückgebildet, das heißt degeneriert. Das ganze Tier hat sich den Lebensraum Brandung erobert und dafür bezahlt mit dem Verlust ehemaliger Fähigkeiten. Siehe auch Seepocke ↗

Fußnoten