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Soziointegrative Degeneration (Stanislaw Lem)


Militärwesen


Basiswissen


Eine kollektive Intelligenz wird gerade dadurch leistungsfähig, dass sich die Individuen zurückentwickeln: soziointegrative Degeneration. Der Begriff wurde erstmals im Jahr 1980 verwendet und am Beispiel des Militärs beschrieben. Von Bedeutung ist die Frage, ob sich das Phänomen auch auf reale gesellschaftliche Prozesse übertragen ließen.

Die soziointegrative Degeneration nach Lem


In einem fiktiven Sachbuch beschreibt der polnische Schriftsteller und Futurologe Stanislaw Lem (1921 bis 2006) den Prozess der Degeneration: "Zuerst wurde der Mensch aus den Reihen des Militärs und später auch aus der Rüstungsindustrie durch das Phänomen der sogenannten »soziointegrativen Degeneration« ausgeschaltet. Der Degeneration unterlag der einzelne Soldat, sobald er aufhörte, ein Vernunftwesen zu sein, mit großem Gehirn, sobald er immer kleiner und damit immer unkomplizierter wurde, also »Soldat für einmaligen Gebrauch«. [...] Am Ende hatte der Mikrosoldat so viel Verstand wie die Ameise oder die Termite. Jede tote Armee war unvergleichlich komplexer als der Bienenstock oder der Ameisenhaufen.[2, Seite 68]" Lem prognostiziert, dass auch die Führungriege des Militär von dem Prozess nicht verschont bleibt. Die Generäle werden glauben, die großen Entscheidungen zu treffen[7], doch tatsächlich werden sie stets dem Vorschlag der Computer folgen.

Vergleich mit biologischen Vorbildern


Ein Mikroarmee aus degenerierten Mikrosoldaten zeichnet sich gleichwohl durch eine hohe innere Komplexität aus: "Vom Gesichtswinkel der inneren Struktur und der gegenseitigen Abhängigkeit entsprach sie eher den sogenannten großen Biotopen der belebten Natur als ganzen Pyramiden von Pflanzen- und Tiergattungen, die in einem bestimmten Bereich als ihrem Lebensraum miteinander in ausgewogenem evolutionären Gleichgewicht der Konkurrenz, der Antagonismen, der Symbiose und daher im komplizierten Netz wechselseitiger Beziehungen koexistierte."[2, Seite 69]

Degeneration auch in der Politik


Auch im politischen, so Lem, nahm der Prozess seinen Lauf: "Jede politische Partei hatte Experten als Berater. Wie man weiß, machten die Berater der verschiedenen Parteien über dieselben Fragen ganz unterschiedliche Aussagen. Mit der Zeit nahmen sie Computersysteme zu Hilfe, und zu spät erkannte man, daß die Menschen zu Sprachrohren ihrer Computer wurden. Sie meinten, sie selbst seien es, die die Dinge überdenken und Schlüsse ziehen [...] Doch tatsächlich operierten sie mit einem vom Rechenzentrum vorfabrizierten Material, und dieses Material bestimmte die menschlichen Entscheidungen."[2, Seite 74]. Mehr unter Soziointegrative Degeneration (Soziologie) ↗

Lem's originelle Idee


Die Idee, dass sich der Mensch in der Zivilisation rückentwickeln könnte, sozusagen verdummt, ist seit spätestens dem 19ten Jahrhundert eine wiederkehrendes Motiv in der Literatur. In H. G. Wells berühmtem Roman Die Zeitmaschine (1895) beispielsweise spaltet sich die Menschheit in zwei gegenläufige Entwicklungslinien auf: die Eloi degenerieren in Luxus und Komfort zur völligen Wehrlosigkeit. Die Morlocks hingegen werden gewalttätig und durchsetzungsstark: sie halten die Eloi als Fleischvieh. Wells deutet aber an keiner Stelle an, dass die Abnahme individueller Autonomie und Intelligenz gleichsam Teil der Höhenentwicklung des Kollektivs ist. Lems origineller Gedanke ist es hier, dass die Degeneration des Individuums notwendig oder zumindest förderlich für die Entwicklung der kollektiven Intelligenz des Schwarms ist. Siehe auch Soziointegrative Degeneration (Soziologie) ↗

Fußnoten