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Pseudoakademisierung


Gedankenskizzen


Grundidee


Pseudoakademisierung im eigentlichen Sinn des Wortes steht für eine nur scheinbare Erfüllung akademischer Ansprüche[50]. Wenn zum Beispiel der Lehrplan für einen Leistungskurs Physik an Gymnasien die Themen Quantenphysik und Einsteins Relativitätstheorie vorschreibt, sich gleichzeitig aber viele Schüler schwer tun mit der Rechnung 4 geteilt durch ½, dann werden die akademischen Ansprüche ganz sicher nur scheinbar erfüllt[53]. Der folgende Artikel zeigt an Beispielen aus der Mathematik und Physik, was man unter eine Pseudoakademisierung verstehen kann.

Pseudoakademisierung in der Schule


Schülern in der Klasse 6 sogenannte Box-Plots aus der Statistik erklären zu wollen[40], halte ich für pseudoakademisch. In der Klasse 12 schwere Aufgaben zur Quantenphysik zu rechnen, wenn Schüler gleichzeitig nicht sicher wissen, dass Kraft mal Weg Arbeit gibt, ist ebenso pseudoakademisch. In diesem Artikel möchte ich[36] einige reale Fälle von deutschen und belgischen[37] Schulen beschreiben, um greifbar zu machen, was Pseudoakademisierung meinen kann. Die Pseudoakademisierung führt dabei zu einem zerstörerischen Unterrichtstil, der viele Schüler dauerhaft überfordert, Lehrer eigentlich frustrieren sollte und manche Schüler in ein Studium als Sackgasse führt[38][39]. Weiter deute ich an, warum eine Akademisierung an sich nicht schlecht sein muss, aber es durchaus eine Pseudoakademierung als Problem gibt. Zunächst möchte ich einige Beispiele aus meiner Erfahrung als Leiter einer Lernwerkstatt in Aachen geben[1].

Fallbeispiel 1: Integralrechnung ohne Division


2023: ein Schüler im vorletzten Jahr vor dem Abitur bearbeitet im Grundkurs Mathematik in Nordhrhein-Westfalen Themen zur Integralrechnung. Es ging um die Ideen des Integrals und der Stammfunktion, deren Herleitung aus einer Ober- und Untersumme, den Unterschied zwischen Flächenbilanz und Flächenbetrag und einiges mehr. Gleichzeitig konnte derselbe Schüler Aufgaben wie 4 geteilt durch 0,5 oder 30 mal 0,1 oder die Lösung einer Gleichung wie 0,5·x-8=50 auch mit beliebig viel Zeit alleine nicht lösen. Derselbe Schüler erreichte in einer Klassenarbeit zur Integralrechnung die Note 3+. Dies ist kein Einzelfall[20]. Wenn Schüler in der höheren Mathematik[44] gute Noten erzielen, gleichzeitig aber große Probleme mit dem Stoff aus den Klassen 5 bis 8 haben, liegt nur scheinbares Können vor.

Fallbeispiel 2: Bohrsches Atommodell ohne Kreisbewegung


2024: ein Schüler im letzten Jahr vor dem Abitur behandelte im Leistungskurs Physik Themen wie die Bohrschen Postulate, die Streuung von Alphateilchen an einer Goldfolie (Rutherford), den Millikan-Versuch, den Franck-Hertz-Versuch, den Welle-Teilchen-Dualismus, Interferenz, stehende Wellen oder auch Materiewellen. Derselbe Schüler[2] konnte alleine nicht berechnen, wie lange ein Stein aus 2 Meter Höhe benötigt, um auf den Erdboden zu fallen. Er vermengte Formeln zur beschleunigten Bewegung mit Formeln zur unbeschleunigten Bewegung ohne dies alleine zur merken. In schriftlichen Arbeiten erreichte er stabil die Note 2.

Fallbeispiel 3: Textaufgaben ohne Wortverständnis


2014: Ein Schüler der Klasse 9 hatte ein Naturtalent für Zeichnen. Ohne Vorlage konnte er naturgetreu und äußerst detailliert Landschaften, Personen und technische Geräte zeichnen. So kam ich auf die Idee, dass er die Texte von Textaufgaben in gezeichnete Skizzen übersetzen sollte, um den Gesamtzusammenhang in seiner bevorzugten Denkweise betrachten zu können. Dabei kam heraus, dass die Wendung "am Fluss entlang" für ihn völlig unverständlich war. Er schwankte zwischen Deutungen wie "senkrecht zum Fluss", "irgendwie schief zum Fluss", "parallel zum Fluss" und anderen Varianten. Als ich das Zeichnen von Skizzen als Methode zur Entschlüsselung von Texten auch mit anderen Schülern nutzte, wurde bald klar, dass er kein Einzelfall war. Präpositionen wie "hindurch", "herum", "jenseits", "abseits", Verben wie "vermindern", "erhöhen", "durchdringen", "dritteln", Substantive wie "das Anderthalbfache", "Quotient", "Gewinn", "Häufigkeit" und Wendungen wie "je desto" oder kurze Worte wie "pro" stiften oft bis in die Oberstufe Verwirrung. Erwachsene überschätzen oft drastisch das Wortverständnis von Kindern, ein Phänomen das bereits in den 1920er Jahren in den USA beschrieben wurde[3]. Wo Kinder in der Klasse 9 mit Hilfe des Satzes des Pythagoras die Länge einer Raumdiagonalen berechnen sollen, aber unsicher bei Wendungen wie "quer durch die Mitte" oder "diagonal" sind, droht wieder, dass am Ende der Schein mehr ist als das Sein. Siehe auch Rechnen und Sprache ↗

Fallbeispiel 4: Sachaufgaben ohne Allgemeinwissen


2016: eine Schülerin aus der Klasse 9 sollte eine anspruchsvolle Textaufgabe zum Küstenschutz lösen. In einem längeren Fließtext wurde der Aufbau eines klassischen Deiches mit Worten wie Deichquerschnitt, Deichkrone, Deichfuß, Trapez, Querschnitt, Sturmflut, Springtide und Böschungswinkel beschrieben. Die Schülerin wollte die Aufgabe zunächst ganz alleine bearbeiten, kam aber nach etwa 15 Minuten nicht weiter. Dabei war ein großer Teil eines DIN-A4-Blattes schon mit Formeln beschrieben. Im Gespräch wurde dann klar, dass sie einen Deich für ein kleines Gewässer in einem Park, also einen Teich, hielt. Von Gezeiten hatte sie bewusst noch nie gehört. In Stichproben unter anderen Schülern der Lernwerkstatt fanden wir dann heraus, dass sogar erwachsene Personen aus Aachen einen Deich mit einem Teich verwechselten. Der springende Punkt hier ist, dass die Schulbücher und Lehrer oft Wissen voraussetzen, dass bei vielen Personen nicht vorhanden ist[45]. Siehe auch Allgemeinwissen ↗

Fallbeispiel 5: Bernoulli-Ketten ohne Würfellogik


2018: an diesen Fall aus dem Jahr 2018 erinnere ich mich noch sehr lebhaft. Ein Schüler in der Abiturvorbereitung konnte mit Hilfe eines Taschenrechners sehr schnell und sehr gut schwierige Aufgaben der höheren Mathematik rund um Bernoulliketten und die Binomialverteilung lösen. Ein Beispiel: wenn bei der Produktion von Nägeln die Ausschussrate bei 1,2 % liegt, wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass in einer Stichprobe von 20 Nägeln mindestens 3 Nägel fehlerhaft sind? Beschreibe einen Hypothesentest dafür, dass sich die Ausschussrate in der Produktion signifikant erhöht hat. Solche Aufgaben löste der Schüler mit einem Taschenrechner blitzschnell und fast immer korrekt. Die Frage aber, mit wie vielen Sechsen man ungefähr rechnen könne, wenn man 200 faire Spielwürfel auf einen Tisch werfe, konnte er auch nach längerem Überlegen nicht beantworten[54]. Das Grundverständnis, dass die Wahrscheinlichkeit von einem Sechstel letztendlich eine gute Schätzung für die relative Häufigkeit von Sechsen bei großen Anzahlen von Würfen angibt, hatte er nicht erfasst[4]. Die Pseudoakademisierung besteht hier darin, dass der Schüler immer ähnlich wiederkehrende Aufgaben der Höheren Mathematik mit einer Art Mustererkennung lösen könnte, dabei aber kein Verständnis der tatsächlichen Prinzipien entwickelt hat.

Fallbeispiel 6: Analysis mit fertigen Graphen


2010: Ich erinnere mich noch gut an viele anstrengende Abende meiner eigenen Studienzeit in den 1990er Jahren. Im Physik-Praktikum mussten wir ohne die Hilfe von Computern umfangreiche Messdaten (zum Beispiel zur Kundtschen Röhre) mit "krummen Zahlen" überall in Graphen darstellen. Diese Graphen mussten sauber und exakt sein. Große Probleme bereite mir damals die geschickte Einteilung der Koordinatenachsen, also die Skalierung und die Umrechnung der Messwerte in entsprechende Millimeter auf den Achsen des Koordinatensystems. Aber nach einigen Wochen entdeckte ich immer mehr Methoden und Konzepte, wie alles viel einfacher geht. Ohne diese mühsame lange Arbeit wäre ich nie zu den Erkenntnissen gekommen, die ich heute mühelos nutzen kann. Eine solche mühsame Arbeit wird Schülern und Studenten heute aber oft abgenommen. Wenn Schulbücher oder Lernsoftware zu bestimmten Aufgaben fertig skalierte Koordinatensysteme anbieten, in die man nur noch Punkte eintragen muss, kann das Problem der geschickten Skalierung umschifft werden. Das Ergebnis sind dann oft sehr professionell aussehende Darstellungen, angefertigt von Studenten des Maschinenbaus, die es alleine nicht mehr hinbekommen, eine y-Achse so zu skalieren, dass sich ein Wertebereich von 0 bis 3,4 Millionen optimal auf eine Länge von genau 5,2 Zentimetern verteilt.[21]

Fallbeispiel 7: der Gauß-Algorithmus im Schlaf gelernt?


2024: der sogenannte Gauß-Algorithmus zum Lösen linearer Gleichungssysteme[22] ist Gegenstand der Mathematik in der Oberstufe. Oft wird er als Teil der Vektorrechnung (Schnittpunkte von Geraden) oder der Analysis (Steckbriefaufgaben) eingeführt. In unserer Lernwerkstatt in Aachen beobachten wir, wie zwischen der ersten Erwähnung des Verfahrens und seiner Anwendung in schwierigen Zusammenhängen oft nur eine Schulstunde liegt. Als einzige Anleitung haben die Schüler ein einzelnes isoliert an der Tafel vorgerechnetes Beispiel gezeigt bekommen. Sie haben in ihren Heften und im Schulbuch oft keine ausführliche Anleitung. Dass aber so etwas Detailreiches wie der Gauß-Algorithmus nur dann zu ehrlichen Erfolgserlebnissen führt, wenn man viele Aufgaben dazu möglichst alleine durcharbeitet, zeigt unter anderem ein Lehrbuch der Mathematik für Studenten an Fachhochschulen[23]. Dort folgen auf eine ausführliche Erklärung mit viel Text mehrere Seiten mit Aufgaben (und Lösungen). Wo die praxisbewährten Lehrbücher für Studenten gut 30 bis 50 Aufgaben ansetzen, sollen Schüler Richtung Abitur die Fertigkeit in wenigen Tagen erlangen. Die Pseudoakademisierung wird auch hier durch Taschenrechner gefördert. In schriftlichen Prüfungen muss der Gauß-Algorithmus oft nur sehr eingeschränkt gekonnt werden. Kann man den Algorithmus nicht, droht kein großer Punkteverlust. Mit dem intensiven Üben verloren geht dabei oft die Chance auf klassische Aha-Erlebnisse[55].

Fallbeispiel 8: Microsoft Word nebenher


2024: in den 1990er Jahren arbeitete ich in den Tagebauen des rheinischen Braunkohlenreviers. Die Tabellenkalkulation Excel und das Textbearbeitungsprogramm Word waren damals für mich Neuland, überhaupt graphische Benutzeroberflächen. Ich nahm also an mehreren innerbetrieblichen Fortbildungen teil. Ich erinnere mich noch gut, wie ich ganze Klickfolgen aufschrieb, um etwa einen Text als fettt zu formatieren, wie man Fußnoten mit automatisch erzeugten Seitenzahlen anlegt oder automatisch Inhaltsverzeichnisse einfügt. Ging die Dozentin zu schnell voran, hatte ich sofort den Faden verloren und bekam in den Übungen nichts mehr hin. Es dauerte durchaus einige Woche, bei täglicher Anwendung des gelernten Stoffes, bis ich mich einigermaßen routiniert fühlte. Auch heute noch scheint man Erwachsenen zuzugestehen, dass sie zum Erlernen dieser Office Software mehrere Wochen brauchen dürfen[24]. Und Schüler? Anfang 2024 entschied sich eine Schülerin der Oberstufe eine Mathematik-Facharbeit zu dem anspruchsvollen Thema Berechenbarkeit zu schreiben. Mit Word hatte sie bis dahin keine Erfahrung. Der Lehrer gab ihr eine kurze individuelle Einführung. Ab dort sollte sie sich bis zum Abgabetermin acht Wochen später alleine einarbeiten. Dass in solchen Situationen oft die Eltern dabei helfen[25] oder Nachhilfeinstitute oder sogar Ghost-Writer[26] für viel Geld[27] oder auch (ChatGPT)[28] ist unserer Erfahrung nach ein offenes Geheimnis. Wieder können so eindrucksvolle Arbeiten auf scheinbar akademischem Niveau entsehen, ohne dass dabei wirklich etwas gelernt wurde.

Fallbeispiel 9: Empathie mit Nebenwirkungen


2022: wer nicht selbst Kinder mit einer ausgeprägten Dyskakulie kennt, kann sich das Ausmaß der Probleme nur schwer vorstellen. Eine ansonsten intelligente und aufgeweckte Zweitklässlerin zählte drei Spielzeugtiere immer wieder neu ab, wenn ich eines der Tiere leicht von seiner alten Stelle auf dem Tisch weg bewegte. Ihr war nicht klar, dass die Anzahl nichts mit der Art zu tun hatte, wie ich die Tierfiguren hinstellte. Nach zwei Monaten Training sagte das Kind dann plötzlich voller Stolz: "Das hat ja gar nichts damit zu tun, wo die Tiere stehen, wie viele es sind. Es sind immer drei, egal wie man sie hinstellt"[29]. Bei einer wiederum völlig normalen, interessierten und intelligenten Schülerin mit Dyskalkulie in der Oberstufe versagten jedoch alle meine Fähigkeiten. Ihr Lehrer stellte sie oft bloß, rief sie an die Tafel und verunsicherte sie so stark, dass die Schülerin oft weinend bei mir im Unterricht saß[30]. Den gegenteiligen Weg, nämlich den der Empathie ging eine andere Lehrerin. Sie bot einer Schülerin mit Dyskalkulie an, dass sie die Hausaufgaben von irgend einer anderen Person erstellen lassen könne und die Ergebnisse dann im Unterricht vorträgt. Tatsächlich fand sich im näheren Bekanntenkreis der Schülerin auch eine Lehrerin der Mathematik, die die Hausaufgaben für die Schülerin erledigte. Das Beispiel ist authentisch, ich hatte selbst mit der Lehrerin telefoniert. Das darf man nicht so verstehen, als seien hier Lehrer und Schüler Betrüger mit böser Absicht. Wo eine private Hilfe bei Dyskalkulie oft über 200 Euro im Monat kostet und die Schulen selbst keine professionelle Hilfe bieten, bleibt den Lehrern und Kindern oft nichts anderes übrig. Aber wieder entsteht so eine Pseudoakademisierung: wer Abitur hat, hat eine Allgemeine Hochschulreife, kann damit zum Beispiel auch Elektrotechnik studieren. Auf dies Idee mit Elektrotechnik kommen nun die wenigsten Abiturienten mit einer starken Dyskalkulie. Aber ein Studium der Psychologie ziehen gerade Kinder mit eigenen großen Lernproblemen oft in Erwägung. Und hier mache ich oft die Beobachtung, dass Schüler ihre eigenen Fähigkeiten drastisch überschätzen[38], sich ein Gefühl des Könnens oft viel zu früh einstellt[31]: wenn ich in Mathe eine Vier hatte, dann kriege ich das auch im Studium hin!

Fallbeispiel 10: Boxplots für Jungforscher


2017: seit spätestens dem Jahr 2017 tauchten sogenannte Boxplots häufiger im Unterricht der Klassen 5 und 6 auf[40]. Wenn man etwa für jede von 20 Nüssen das Gewicht in Gramm einzeln misst, kann man die Daten übersichtlich in einem Boxplot darstellen. Dabei treten Worte wie Quartil, Median, arithmetisches Mittel und Antenne auf. Bezeichnend für eine Akademisierung ist hier die Verwendung von vielen Fremdworten[46]. Insbesondere wurde das Wort Durchschnitt in den letzten Jahren zunehmend durch arithmetisches Mittel verdrängt[41]. Nun haben wir in der Lernwerkstatt in Aachen festgestellt, dass Kinder der Klasse 6 die Idee einer Durchschnitts (oder arithmetischen Mittels) bestenfalls im Ansatz verstehen können. Man kann einige einfache Fragen stellen, um den Grad des Verständnisses einzuschätzen: wenn die 20 Nüsse im Schnitt 4 Gramm wiegen, heißt das, dass dann die meisten der Nüsse vier Gramm schwer sind? Kann es sein, dass gar keine Nuss wirklich 4 Gramm wiegt? Für welche Aufgabe aus dem echten Leben braucht man den Durchschnitt? Ich hätte damit in der 6ten Klasse meine Probleme gehabt. Ich erinnere ich noch gut an diese Zeit[42]. Nun sollen die Kinder aber plötzlich den Unterschied zwischen Median und arithmetischem Mittel kennen und wissen, wann was aussagefähiger ist. Und die Kinder sollen anschauliche Grammzahlen zu hoch abstrakt verdichteten Aussagen zusammenführen. Wozu? Im "echten Leben" kommen Boxplots zum Beispiel in wissenschaftlichen Veröffentlichungen[43] oder im Alltag der statistischen Qualitätskontrolle vor. Was sie sagen sollen, ist weit entfernt von der Lebenswirklichkeit von Sechstklässlern.

Weitere Fallbeispiele und Spielarten für eine Pseudoakademisierung


a) Formeln in der Physik werden auf einfache Sonderfälle reduziert[48], gegebene Werte in Arbeiten werden direkt in der passenden Einheit angegeben[49], statt anspruchsvoller Textaufgaben oder Rechnungen kann man auch über das Beschriften von Skizzen Punkte erzielen[52].

Ein Gefühl: alleine in der Eiger-Nordwand


Eine Schülerin aus der Oberstufe beschrieb um das Jahr 2011 ihre Empfindung einmal mit einem Gleichnis: sie kommt sich ständig so vor, als hänge sie alleine in einer gefährlichen Steilwand ohne dass sie jemals gelernt hat, wie man klettert oder seinen Weg im Gebirge findet. Das Bild ist passend. In unserer Lernwerkstatt in Aachen stehen wir täglich neu vor der Situation, dass wir etwas so Abstraktes wie die bedingte Wahrscheinlichkeit[5] anschaulich an einem einfachen Zahlenbeispiel erklären sollen. Und dann wird auf einmal die Frage, wie viel 14 Prozent von 400 sind zu einem eigenen Projekt innerhalb der Stunde. Emotional ist das oft sehr heikel. Besonders ehrgeizigen Schülern wird dann oft bewusst, wie wenig sie von Grundlagen können. Früher ührte diese Erkenntnis bei uns in der Lernwerkstatt oft zu Tränen, inzwischen habe ich gelernt, die Situation abzumildern. Das Bild von der Eiger-Nordwand aber passt. Ich vermittele dann Zuversicht wo ich selbst Herzrasen kriege. Ein Bild, das ich selber gerne verwende ist das vom dünnen Eis. Die Schulen verleiten Schüler durch gute Noten zu der Annahme, dass sie ein Thema "können". Tatsächlich fehlt denselben Schülern oft jede Voraussetzung, um abseits von passend zurechtgeschnittenen Prüfungen[6] eigenständig arbeiten zu können. Das führt zu der Paradoxie, dass ich umso nervöser werde, je besser ihre Noten sind. Ich sehe die Kinder dann gedanklich weit entfernt und alleine auf einer dünnen Eisfläche stehen. Wenn sie einbrechen, sind sie alleine.

Akademische Bildung als sinnvoller Denk- und Arbeitsstil


Die Beispiele bisher sollten zeigen, wie sehr ein akademischer Bildungsanspruch und die Wirklichkeit auseinanderklaffen können. Was aber heißt überhaupt akademisch im Bezug auf Bildung in einer Schule oder Hochschule? Zunächst heißt akademisch nur, dass etwas in einem Bezug zu einer Hochschule, vor allem einer Universität steht[7]. Das alleine kann aber für eine Definition im Bezug auf Bildung noch nicht genügen. So würde man jemanden der eine Ausbildung zum Elektriker an einem Hochschulinstitut gemacht hat noch nicht akademisch gebildet nennen, sondern eher praktisch ausgebildet. Und während man auch ohne eine akademische Bildung durchaus logisch und faktengeleitet denken kann[8], kommt für das akademische Denken doch irgendetwas hinzu. Man wird nämlich nicht nur dazu ausgebildet, für sich alleine logisch und faktenbasiert zu denken, sondern in einer Gruppe oder Umgebung zu arbeiten, in der Theorien und Wissen stark arbeitsteilig entwickelt und überprüft werden. Das setzt bestimmte Denk- und Handlungsweisen, eine spezielle Fachsprache und die Einhaltung von Standards voraus, die im Alltag meist kaum eine Rolle spielen. Diese Art von akademischem Denken ist tatsächlich vorrangig an Universitäten zu finden:


Wer akademisch gebildet ist, sollte zum Beispiel verstehen können, was Empirismus, Verifizierung oder Peer-Review meinen. Wer akademisch gebildet ist, sollte wissen, wie man Fakten in Fachveröffentlichungen finden kann, wie man mit Hilfe eines Abstracts (Kurzzusammenfassung) herausfindet, wovon eine Veröffentlichung handelt. Wer akademisch gebildet ist, sollte im Idealfall selbst einmal etwas veröffentlicht haben, sollte wissen, wie man im eigenen Fachgebiet richtig zitiert. Das Wesentliche für das Akademische ist die Fähigkeit, in einem universitären Umfeld als Teil einer Gruppe wissenschaftlich mitarbeiten zu können. Eine akademische Bildung - positiv verstanden - ist also eine Bildung, die darauf abzielt, dass die Lernenden an einem universitäten Forschungsbetrieb teilnehmen können. Siehe mehr dazu unter akademisch ↗

Akademische Bildung am Beispiel der Mathematik und Physik


Zu den allgemeinen Merkmalen eines akademischen Denkens kommen in einzelnen Fachgebieten dann noch oft sehr besondere Kenntnisse und Fertigkeiten hinzu. In der Mathematik sind das vor allem Kenntnisse der sogenannten Höheren Mathematik[10]. Dazu zählen zum Beispiel die Idee des Grenzwertes, Kenntnisse verschiedener Beweisverfahren, ein routinierter Umgang mit Vektoren, ein tiefes Verständnis der Statistik und Stochastik. In der Physik sollte man bei akademisch gebildeten Personen einen sehr guten Umgang mit der Mathematik voraussetzen. Hinzu kommt für die Physik noch die Fähigkeit zum Arbeiten mit Einheiten, die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Denkmodellen wechseln zu können und eine Kenntnisse aktueller Forschungsfragen. An Fachwissen vorausgesetzt werden Grundkonzepte wie die Wellentheorie, die Quantenphysik, die statistischen Mechanik und insbesondere die gesamte klassische Physik.

Beispiele für eine Akademisierung an Schulen


Über die Jahrzehnte, findet ein immer größerer Teil des Schulunterrichts in einem zunehmend akademischen Stil statt. Einerseits werden die Inhalte des Unterrichts immer akademischer vermittelt. Und andererseits streben immer mehr Schüler stark akademisierten Unterrichtsformen zu, etwa indem sie auf Gymnasien anstatt auf Realschulen lernen. Hier stehen einige Beispiele für Stilelemente, die auf eine Akademisierung des Schulunterrichts verweisen könnten:


Eine solche Akademisierung muss nicht schlecht sein. Wo sie auf entsprechend interessierte und befähigte Kinder trfft, ist sie richtig. Wer akademisch Denken und arbeiten kann, hat damit auch Fähigkeiten, die in manchen Berufen durchaus von Nutzen sind. In unserer Lernwerkstatt in Aachen hatten und haben wir immer wieder Schüler vom Vorschulalter bis hin zum Studium, die genau diesen Zugang suchen[56]. Die Frage ist, ob von dieser kleinen Gruppe akademisch veranlagter oder geprägter Menschen auf die Mehrheit geschlossen werden sollte[18].

Aus Akademisierung wird Pseudoakademisierung


Was wir seit der Gründung unserer Lernwerkstatt im Jahr 2010 beobachten, und inzwischen spürbar zunehmend, ist eine paradoxe Anhebung der scheinbaren Anforderungen bei gleichzeitiger Absenkung von de facto eingeforderten Kenntnissen. Das möchte ich mit einigen zugespitzen Aussagen beschreiben:


Was wir in unserer Lernwerkstatt immer öfters beobachten ist, dass Prüfungen und Leistungskontrollen im Unterricht nur Inselfertigkeiten abfragen, die man im Sinne eines Bulimielernens kurzfristig auswendig lernen kann. So entsteht der Eindruck, dass die Kinder auch abstrakte und akademische Inhalte gut können, während sie de facto nicht wirklich etwas verstanden haben. Dass die Kinder dabei weder die akademisierten Inhalte lernen noch die Grundlagen können, zeigen vielleicht die zunehmend schlechten Ergebnisse der Pisa-Studien[15] und die Klagen von Hochschulen[6]. Und dass eine positiv verstandene Akademisierung einer Pseudoakademisierung weicht, wird vielleicht gerade dadurch noch einmal unterstrichen, dass auch die Zahl der besonders guten Schüler in Mathematik stark zurückgeht. Die nur scheinbar akademischen Inhalten werden nicht mehr wirklich in einem akademischen Stil besprochen.

Pseudoakademisierung als Vorwurf in der Berufsausbildung


Der Vorwurf der Pseudoakademisierung wird seltsamerweise meist nur im Zusammenhang mit Ausbildungsberufen oder im Sinne einer zu hohen Abiturientenquote diskutiert. Diese verengte Sicht greift aber zu kurz. Akademisch als Adjektiv heißt zunächst nur, dass etwa in Bezug zu einer Hochschule steht, früher oft auch abwertend im Sinne von erstarrt und pedantisch gebraucht[32]. Akademisierung als Substantiv hingegen heißt, dass Berufe wahlweise[33] oder ausschließlich über eine Hochschulausbildung zugänglich sein sollen oder hochschulnahe Titel für Berufsabschlüsse vergeben werden (Berufsbachelor, Berufsmaster). Befürworter einer solchen Akademisierung versprechen sich davon eine Aufwertung beruflicher Ausbildung[34]. Kritiker sprechen von Pseudoakademisierung und fürchten, dass die Aussicht auf akademische Titel Schüler von einer Ausbildung, etwa im Handwerk abhalte[35]. Hier ist unklar, weshalb die Autoren von einer Pseudoakademisierung und nicht vielleicht treffender von einer Überakademisierung sprechen. Wenn in einer beruflichen Bildung, zum Beispiel zum Berufsmaster, tatsächlich akademische Ansprüche eingehalten werden, so gibt es dort keine Pseudoakademisierung. Der Vorwurf würde erst zutreffen wenn bei einer Ausbildung zu einem Berufsmaster akademische Ansprüche nicht erfüllt wird und durch den Titel lediglich der Schein erzeugt werden soll. Soll ein solcher Schein erzeugt werden? Tatsächlich fanden sich in mehreren Internetbeiträgen zum Thema Pseudoakedmisierung keine entsprechenden Vorwürfe. Meist wurde nur beklagt, dass bereits das Ziel der Akademisierung falsch sei. Eine Pseudoakademisierung im eigentlichen Sinn des Wortes aber ist ausschließlich eine scheinbare Erfüllung akademischer Ansprüche.

Das Akademische ist nur eine von vielen "höheren Bildungen"


Man spricht von höherer Bildung und meint damit oft das Abitur und ein Studium, nicht aber zum Beispiel die Entwicklung von künstlerischen oder handwerklichen Fertigkeiten. Das halte ich für irreführend. Indem wir eine Rangordnung der Bildungsabschlüsse benutzen, bei der ein Abitur höher bewertet wird als eine erfolgreiche Berufstätigkeit, werden Menschen auf die akademische Schiene geführt, die dort nicht hingehören[18]. Eine akademische Ausbildung im engeren Sinn sollte Menschen auf die Mitarbeit im Wissenschaftsbetrieb vorbereiten. Wie viele Menschen arbeiten aber später im engeren Sinn wissenschaftlich? Es sind maximal wenige Prozent oder Promille. Doch indem man so tut, als sei eine akademische Ausbildung die höchste Form jeder Bildung, gerät man in eine Sackgasse. Ein guter (Natur)Wissenschaftler muss wissen, was der Sinn einer mathematischen Ableitung ist und wie man schwierige Gleichungen numerisch lösen kann. Ein guter Handwerk muss das nicht wissen. Das Lösen von Gleichungen ist nicht die natürliche Höherentwicklung handwerklicher oder künstlerischer Fertigkeiten. Wir tun aber so. Schon in den Klassen 5 bis 8 wird der Schulstoff, zumindest in der Mathematik, stark mit formalen Methoden (nicht aber mit Sach- und Textaufgaben), Fremdworten und an lebensfremden Beispielen vermittelt. Kinder haben dann kaum eine Chance, eine handwerkliche oder künstlerische Begabung an sich zu erkennen oder zu entwickeln. Alle werden daran gemessen, wie gut sie akademisch lernen können. Das wird vielen nicht gerecht.

Bei uns läuft alles gut: eine bildungspolitische Resonanzkatastrophe?


Schenkt man Bildungspolitikern Glauben, so sind alle nötigen Maßnahmen für eine ständige Verbesserung der Bildung eingeleitet. Und das seit Jahrzehten. Es werden Digital-Pakete geschnürt, zugewanderte Kinder erhalten Deutschkurse, Förderprogramme stützen auch schwächere Kinder und so weiter. Dass vieles vielleicht gar nicht gut läuft, dringt "nach oben" nicht mehr durch. Das ist möglicherweise für große Organisationen typisch - und gefährlich.

In den 1980er Jahren war der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman an der Untersuchung eines der größten Ungklücke der Raumfahrt beteiligt. Eine bemannte Raumfähre explodierte kurz vor der Landung. Feynman kam nach vielen Monaten Ermittlungstätigkeit zu dem Schluss, dass die Leitung der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA systematisch die Kommunikation von Problemen ignoriert habe. Warnende Stimmen von Ingenieuren wurden bewusst, gezielt und dauerhaft unterdrückt. Nach einigen Versuchen, so Feynman, hätten die Ingenieure aufgehört, Probleme "nach oben" weiterzugeben. In den Führungsetagen blieb man dann in dem Glauben, dass alle noch so hoch gesteckten Ziele erreichbar seien. Bis es letztendlich zur Katastrophe kam. Feynman hielt das Art von Resonanzkatastrophe typisch für größere Organisationen[11].

Kann es sein, dass Bildungspolitiker nach außen weitgehend heile Welten oder doch zumindest ausreichende Korrekturmaßnahmen verkaufen möchten, und sich intern in ihren Ministerien taub gegenüber den Klagen von Lehrern, Schülern, Eltern oder auch Arbeitgebern oder Hochschulen[12] stellen? Und kann es sein, dass dieser Zustand über Jahrzehnte dazu geführt, dass die "Leute unten im System" irgendwann aufgehört haben zu klagen? Zu einem so konstruierten realitätsblinden Optimismus siehe auch den Artikel zum Effekt der Pollyanna ↗

Wie könnten Schritte weg von der Pseudoakademisierung aussehen?


Trifft es zu, dass die Mängel an unserer gegenwärtigen Schulbildung auch von einer zu starken Akademisierung stammen, so könnten viele kleine Schritte eine Korrektur hin zu einem realitätsnäheren Unterricht sein. Die Grundidee wäre, dass man wieder stärker trennt zwischen wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Ausbildung[16].


Schlussgedanke


Lässt man den Blick über die Zeit seit etwa 1800 schweifen, so hat unser Schulsystem bis vielleicht 1950 sehr gute Dienste geleistet. Es ermöglichte breiten Schichten der Bevölkerung solide Kenntnisse für den Alltag und Beruf. Bis vielleicht 1980 garantierte eine Akademisierung der Bildung, dass immer mehr geeignete Kinder die Chance auf eine akademische Ausbildung bekamen. Aber vielleicht war irgendwann zum Ende des letzten Jahrtausends eine Art Sättigung erreicht: die weitere Akademisierung von Bildung führt dann nicht mehr zu mehr "aktivierbaren Kindern". Was sich dann vielleicht durchprägte war eine inhaltliche Überforderung einer schleichend wachsenden Zahl von Kindern. Nach ganz fest kommt plötzlich ganz locker[19]. Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, mit den Mittel der KI und mit dem Reichtum, den unsere Gesellschaften angehäuft haben, Bildung einmal ganz neu "von der grünen Wiese her" zu denken.

Fußnoten


Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/53f23881-en
Leider fehlt es dermaßen an Fertigkeiten zu Grundrechenarten. Im Unterricht arbeiten ca. 5 Kinder aktiv mit und der Rest dreht Däumchen.
Zur Vorbereitung auf den letzten Baustein und die heutige Lernzielkontrolle gab es genau ein Arbeitsblatt, das zu Beginn alle bearbeiten sollten bevor sie mit dem richtigen Baustein loslegen. Dieses Blatt konnten die Kinder eine ganze Woche lang bearbeiten und wir haben es im großen Teil im Unterricht besprochen bzw. gab es Musterlösungen. Ich habe aus diesem Blatt 3 von 4 Aufgaben einfach abgeschrieben und die Zahlen minimal verändert. Ich weiß nicht, wie ich es noch einfacher für die Kinder machen soll. Das Ergebnis ist katastrophal." Dazu passend hören wir von anderen Schülern zunehmend oft, dass Mathe-Arbeiten mit einem Klassendurchschnitt von 4 bis 5 ausfallen.