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Pollyanna


Als Kommunikationsstil


Basiswissen


Pollyanna ist der Titel eines Kinderbuches von 1913 aus den USA. Das Wort steht im Englischen in Anlehnung an die Titelheldin des Buches auch für eine naiv optimistische Haltung von Menschen oder für eine entsprechenden Stil der Kommunikation. Ein entsprechendes Wort fehlt im Deutschen. Das ist hier am Beispiel von Aussagen zur Klimapolitik vorgestellt.

Pollyanna als Kinderbuch


Das Kinderbuch Pollyanna erzählt die Geschichte der elfjährigen Waisen Pollyanna. Nach dem Tod ihrer Eltern kommt sie zu ihrer strengen, pflichtbewussten und freudlosen Tante. Pollyanna spielt das „Such die Freude“-Spiel. Damit steckt sie ihre Tante und das ganze Dorf an. Als Pollyanna durch einen Unfall bedingt nicht mehr gehen kann, wird ihre Lebenseinstellung auf eine schwere Probe gestellt. Doch mit Hilfe der inzwischen verwandelten Dorfbewohner findet sie zurück zu ihrem alten Optismus.

Pollyanna als realitätsblinder Optimismus


Übersetzungseiten im Internet übersetzen das englische Wort Pollyanna heute als "grundlos optimistisch" (Leo.org), "unverbesserlichen Optimisten" (dict.cc), "blauäugig, unschuldig" (WordReference.com) oder als "Frohnatur, rosarote Weltsicht" (Tureng.com). Vergleichbare Bezüge im deutschen Sprachraum sind die schwedischen Fernsehserien "Bullerbü" und "Pippi Langstrumpf" (ich mach mir meine Welt, wie sie mir gefällt). Anders als im originalen Kinderbuch, wird das Wort Pollyanna damit heute nicht mehr nur als eine erstrebenswerte positive Grundhaltung benutzt. Das Wort hat heute die Bedeutung eines realitätsblinden Optimismus angenommen. Das englische Wörtbuch dictionary.com macht das deutlich: "Pollyanna, noun: an excessively or blindly optimistic person. Adjective, (often lowercase), also Pollyannaish: unreasonably or illogically optimistic". Siehe auch realitätsblind ↗

1986: Pollyanna in Großen Organisationen


Am 28. Januar 1986 explodierte in 15 Kilometern Höhe und 73 Sekunden nach dem Start die US-amerikanische Raumfähre Challenger. Zur Aufklärung der Ursachen wurde eine Kommission gebildet, in der auch der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman mitarbeitete. In einem Buch[14] erzählte er von dieser Tätigkeit. In einem eigenen, längeren Kapitel mit dem vielsagenden Titel "Phantastische Zahlen" beschreibt er die unterschiedliche Darstellung ein und derselben Realität in Abhängigkeit von der betrachteten Führungsebene. Techniker und Ingenieure hätten die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Funktionen oder Bauteile der Challenger auf etwa 1:200 bis 1:300 geschätzt. Nach denselben Funktionen oder Bauteilen befragt hätte eine Führungskraft, Feynman spricht von einem Manager, die Zahl 1:100000 genannt. Zwischen den beiden Schätzen liegt ein Faktor von mehr als 300! Während Techniker und Ingenieure also die Wahrscheinlichkeit für eine Fehler als recht hoch einschätzen, stellt ihn das Management als sehr gering dar. Feynman ging damals der Vermutung nach, dass es einen politischen Druck von der US-Regierung gegeben haben soll, die Raumfähre unter allen Umständen zu starten. Möglicherweise um eine kognitive Dissonanz aufzulösen, passen dann Manager im Umfeld der hohen Erwartungshaltungen die Realität den an sie herangetragenen Wünschen an: wenn die Raumfähre starten muss, dann darf die Unfallgefahr nicht zu hoch sein. Siehe auch kognitive Dissonanz ↗

2023: Pollyanna in der Klimapolitik


"Glauben Sie persönlich, dass die gegenwärtige Politik der SPD ausreicht, um Deutschland vor einem Wohlstandsverlust durch den Klimawandel zu bewahren? Ja oder nein." Diese Frage stellte ich im Mai und Juni der klimapolitischen Sprecherin der SPD (Nina Scheer). Eine Antwort blieb bisher aus. In der online Version der TAZ (Tageszeitung) wurde der SPD als Partei vorgeworfen, dass sie durch personelle Verfilzung mit der Energie- und Automobilwirtschaft in ihrer Klimapolitik behindert werden. Die Vorwürfe in dem Artikel waren detailliert und konkret[4]. Frau Scheer reagierte darauf mit einem Gastkommentar in derselben Zeitung[5]. Dort ging sie aber nicht auf die konkreten Vorwürfe ein sondern listete viele Maßnahmen der SPD zum Klimaschutz auf. An keiner Stelle deutete sie an, dass die Maßnahmen möglicherweise nicht ausreichend sind.

Der Artikel las sich so, als ob die SPD alles nötige eingestielt habe, man selbst als Leser nichts weiter zu tun habe und vor allem keinen Wohlstandsverzicht zu befürchten habe. In ähnlicher Weise antwortet auch die SPD-Bundestagsabgeordnete des Autoren dieser Zeilen hier auf konkrete Mails: anstatt konkrete Fragen mit ja oder nein zu beantworten, erhalten die oft langen Antworten bezuglos Listen von eigenen Maßnahmen und Zielen. Dieses systematische Ausblenden von unbequemen Fakten bei gleichzeitiger aggressiver Verbreitung eines unreflektieren Optimismus ist nicht strafbar[7]. Es ist vielleicht sogar eine bewusste Strategie bis hinaus zur Ebene des Bundeskanzlers[13]. Es trägt aber Züge von Populismus (ich sage, was die Leute hören wollen), von Demagogie (ich manipuliere sie in meine Richtung) sowie von Orwellschem Doppeldenk ↗

Zur Brisanz des Themas: Klimaforscher sagen voraus, dass im Jahr 2026 das 1,5 °C-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens erstmals verfehlt werden könnte[2]. Das kann zu weiteren chaotischen bis katastrophalen Zuständen führen[3]. Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres sieht uns auf "dem Highway zur Klimahölle[6]". Die Klima-Aktivistin Luisa Neubauer stellt nüchtern fest: "dreams are their reality"[11].

Die Klimaforschung sagt recht eindeutig voraus, dass sich das Zeitfenster zur Abwendung unkontrollierbarer Folgen rapide schließt. Inzwischen werden zunehmend auch apokalyptische Szenarien ernsthaft untersucht[3]. Klimaforscher tendieren dazu die gegenwärtigen Maßnahmen für nicht ausreichend zur Abwendung eines Klimachaos zu halten. Das muss auch Frau Scheer bekannt sein, da diese Information nicht nur in Fachzeitschriften sondern auch in Alltagsmedien verbreitet ist. Das aber einzugestehen wäre gleichzeitig ein Eingeständnis einer wirkungslosen Klimapolitik der gegenwärtigen Regierungskoalition. Wie löst Frau Scheer diese kognitive Dissonanz [?] ↗

Als klimapolitische Sprecherin der Partei SPD hat Nina Scheer die Aufgabe, die Politik ihrer Partei in einem guten Licht darzustellen. Als Abgeordnete des Bundestages für den Kreis Lauenburg ist sie gemäß Artikel 38 des deutschen Grundgesetzes eine "Vertreterin des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Sie muss damit drei Loyalitäten bedienen: die gegenüber ihrer Partei, die gegenüber dem "ganzen Volk" und die gegenüber ihrem Gewissen. Das kann zu Loyalitätskonflikten führen.

Pollyanna: Insolvenzverschleppung in der Politik?


Für Unternehmen ist die deutsche Rechtssprechung eindeutig: gerät ein Unternehmen in die Zahlungsunfähigkeit oder in die Überschuldung haben die geschäftsführenden Personen die rechtliche Pflicht, das nach außen zu verkünden. In der Politik gibt es keinen vergleichbaren rechtlich zwingenden Mechanismus: Politiker haben keine rechtliche Verpflichtung, unbequemen oder unpopuläre Tatsachen zu nennen. Es gibt auch keine rechtliche Verpflichtung analog zum Beipackzettel von Medikamenten, die „Risiken und Nebenwirkungen“ etwa zum Ausbau von Autobahnen oder des Flugverkehr nennen zu müssen. Auch die Pflicht von Nahrungsmittelherstellen, potentiell gefährliche Inhalte (Laktose, Gluten etc.) nennen zu müssen, gilt für Politiker nicht. Dass der Abrieb von Autoreifen, Autobgase und Fahrzeuglärm statistische gesehen viele Menschen töten (Asthma, Lärmstress), muss eine Klimaschutzsprecherin der SPD nicht automatisch mit erwähnen, wenn sie die Erhöhung der Fernpendlerpauschale begrüßt. Es ist bemerkenswert: Politiker dürfen sich auf eine einseitige Darstellung beschränken, wo im Wirtschaftsleben immer mehr Vorgaben gemacht werden. Was die Nutzung unserer Ressourcen angeht, sind wir als Menschheit und auch in Deutschland vielfach überschuldet (Stichwort Erdüberlastungstag). In Anlehnung an das Wirtschaftsleben müsste die Regierung hier einen Insolvenzantrag stellen. Doch in der Politik bleibt sie straffrei, die Insolvenzverschleppung ↗

2037: Pollyanna als Dystopie


"Erwärmung der nördlichen Halbkugel schafft der Landwirtschaft neue Möglichkeiten! Weinbau an Norwegens Fjorden in Sicht! Deichbau gegen steigende Meeresspiegel bringt zahllose neue Arbeitsplätze! Man hatte uns erzogen, nur das Positive zu sehen - bis es zu spät war." So blickt ein fiktiver Erzähler aus einem dystopischen Zukunftsroman auf seine Jugend vor dem Jahrtausendwechsel zurück. Die Neigung der Politik, reale Gefahren in positive Sichten umzuwandeln war auch schon 1996 auffällig[12].

Pollyanna: eine manipulative Strategie oder Selbttäuschung?


Der englische Autor George Orwell frug sich in den 1930er und 1940er Jahren, ob die Machtelite seines Heimatlandes dumm oder bösartig manipulierend sei. Ich möchte hier Orwells Originalworte im Ganzen wiedergeben: "One thing that has always shown that the English ruling class are morally fairly sound, is that in time of war they are ready enough to get themselves killed. Several dukes, earls and what nots were killed in the recent campaign in Flanders. That could not happen if these people were the cynical scoundrels that they are sometimes declared to be. It is important not to misunderstand their motives, or one cannot predict their actions. What is to be expected of them is not treachery, or physical cowardice, but stupidity, unconscious sabotage, an infallible instinct for doing the wrong thing. They are not wicked, or not altogether wicked; they are merely unteachable. Only when their money and power are gone will the younger among them begin to grasp what century they are living in.[8]" Orwell sagt also, dass die englische Führungsschicht moralisch intakt war. Bewiesen hat sie das damit, dass sie sich auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges willig opferte. Was Orwell dieser Führungsschicht vorwarf war keine moralische Verfehlung sondern "Dummheit", "unbewusste Sabotage", einen "ein untrüglicher Instinkt das falsche zu tun". Es fällt mir allerdings schwer, im Falle von führenden Politikern, zudem mit akademischer Ausbildung, zu glauben, dass sie die drohende Gefahr nicht sehen. Zu deutlich weisen anerkannte Fachleute ständig darauf hin. Zweckoptimismus?

Zweckoptimismus als Gruppendenk


Sagen Personen in der Öffentlichkeit, was sie denken? Oder folgen sie eher einem Zweckoptimus? Betrachten wir dazu zwei Beispiele. Der US-amerikanische Talkmaster Tucker Carlson unterstützte mit großer demgagogischer Wirkung den US-amerikanischen Republikaner Donald Trump. In einem Gerichtsverfahren zeigte sich dann, dass er selbst nicht viel von Trump hielt[9]. Dass prominente Personen nicht immer an das glauben, was sie sagen, zeigte im Jahr 1945 auch der deutsche Generalleutnant Kurt Dittmar. Während des Zweiten Weltkrieges hatte er im Namen des Oberkommando des Heeres (OKH) Radioansprachen gehalten. Darin befeuerte er den Glauben an den Endsieg Deutschlands. Als er nach der Gefangennahme durch US-amerikanische Truppen verhört wurde, räumte er ein: "Im Grunde habe ich nie angenommen, dass wir siegen[10]". Hier stellt sich die Frage, warum Menschen bewusst Dinge verbreiten, an die sie nicht glauben. Zweckoptimismus? George Orwell beschäftigte sich über seine gesamte schriftellerische Zeit hinweg mit der Frage nach Wahrheit und Rechtschaffenheit. Er sah vor allem Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe als ein sehr starkes Motiv an. Man sagt nicht, was man selbst für richtig hält, sondern was die Gruppe voranbringt. Siehe dazu auch den Artikel zum Gruppendenk ↗

Fußnoten