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Wissenschaft (George Orwell)


Definition


Basiswissen


Der englische Autor George Orwell (1903 bis 1950) hatte zwei Definitionen von Wissenschaft formuliert, die auch heute noch weitgehend Gültigkeit haben: a) Wissenschaft als Wissenskörper, vor allem im naturwissenschaftlichen Sinn und b) Wissenschaft als Denk- und Diskutiermethode. Beides wird hier ausführlich erläutert.

Kurzzusammenfassung


Nach Orwell gibt es zwei Hauptströmungen zur Definition von Wissenschaft: a) als Liste von exakten Wissenschaften wie Chemie und Physik oder b) als Methode zur Formulierung überprüfbarer Ergebnisse auf der Grundlage von beobachten Fakten und logischem Denken. Mit Beispielen diskutiert Orwell den gesellschaftlichen Nutzen dieser beiden Auffassungen und bezieht selbst klar Stellung für Version b.

Historischer Zusammenhang


Orwell verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in England. Seit den späten 1920er Jahren schrieb er sozial- und literaturkritische Texte zu vielen Themen. Ein zentrales Motiv seiner Arbeit war die Frage: wie kann man als Individuum zu sicherer Erkenntnis gelangen und wie wird diese Bemühung durch Manipulation von außen gestört? Wenige Monate nach dem Zweiten Weltkrieg, im Oktober 1945, setzte er sich vor diesem Hintergrund nach dem gesellschaften Nutzen "der Wissenschaft" auseinander.

Mehr Wissenschaft in der Schule!


Orwell geht zunächst auf die Forderung eines gewissen J. Stewart Cook ein, dass es gut wäre, wenn möglichst viele Mitglieder der Gesellschaft "wissenschaftlich ausgebildet" wären. Cook definiere Wissenschaft nicht näher, doch aus den Ausführungen könne man entnehmen, dass Cook unter Wissenschaften vor allem die "exakten" Wissenschaften wie Physik, Chemie versteht, also Disziplinen, die ihre Erkenntnisse unter Labordbedingungen gewinnen. Cook bemängele, dass die damals vorherrschende Erwachsenenbildung zu einseitig auf Literatur, Ökonomie und soziale Themen begrenzt sei, zum Nachteil "wissenschaftlicher Studien". Damit war für Orwell klar, dass Cook Ökonomie und Soziologie nicht zu den Wissenschaften zählt. Nach Orwell würden viele Menschen ein Mehr an Wissenschaft in der Ausbildung durchaus begrüßen, doch bliebe meist unklar, welche Bedeutung von Wissenschaft damit gemeint sei. Zu dieser Klärung wollte Orwell in seinem Essay beitragen.

Wissenschaftler über Wissenschaft


Würde man Wissenschaftler nach ihrer Definition von Wissenschaft fragen, käme dabei in etwa etwas heraus wie die Definiton b oben, also eine Methode zur Erlangung sicheren Wissens. Siehe dazu auch die Definition von Wissenschaft ↗

Populäre Vorstellungen von Wissenschaft


Fragt man Menschen aus dem täglichen Leben nach ihrer Definition von Wissenschaft, so wären nach Orwell die folgenden Vorstellungen wahrscheinlich oft darunter: etwas das in einem Labor passiert, Funktionsgraphen, Reagenzgläser, Waagen, Bunsenbrenner oder Mikroskope. Ein Biologe, Astronom, vielleicht auch noch ein Psychologe oder Mathematiker würden als Wissenschaftler gelten, nicht aber ein Staatsmann, Journalist oder Philosoph. Entsprechend ist die Forderung nach mehr wissenschaftlicher Bildung an Schulen, so Orwell, meist beschränkt auf mehr "Radioaktivität, die Sterne, oder die Physiologie des menschlichen Körpers". Die Forderung nach mehr Wissenschaft meine also meist nicht, dass ein exakteres Denken trainiert werden sollte sondern nur Faktenwissen zu eng umgegrenzten Naturwissenschaften. Diese von Orwell unterstelle Sicht von Wissenschaft wird heute auch ausgedrückt mit dem Wort Szientizismus ↗

Zuspitzung: Chemiker sind bessere Politiker


Unausgesprochen aber indirekt mitgedacht werde bei der populären Vorstellung von Wissenschaft die Idee, dass Menschen mit mehr wissenschaftlicher Bildung (Physik, Chemie etc.) automatisch auch in allen Wissensgebieten zu "intelligenteren" Urteilen kommen. Äußert sich also ein Physiker etwa über Politik, Soziologie, Moral, Philosophie oder sogar Kunst, so gilt diese Äußerung mehr als die Einschätzung eines wissenschaftlichen Laien. Orwell spitzt zu: "Ein Chemiker oder Physiker ist politisch intelligenter als etwa ein Dichter oder Jurist". Orwell warnt - 1945 -, dass bereits Millionen von Menschen so denken könnten.

Praxistest: Wissenschaftler im Dritten Reich


Orwell vergleicht die Rolle deutscher Naturwissenschaftler und deutscher Literaten nach der Machtergreifung. Trotz der oft gehörten Floskel, Wissenschaft sei international, hätten gerade Naturwissenschaftler kaum Widerstandskräfte gegen Nationalismus, deutlich weniger zumindest als etwa Schriftsteller und Künstler. Wissenschaftler arbeiteten effektiv an "synthetischem Öl, Düsenflugzeugen, Kriegsraketen oder der Atombombe". Ohne deutsche Naturwissenschaftler wäre die deutsche Kriegsmaschinerie nicht machbar gewesen. Orwell vermutet, dass die Liste von Schriftstellern oder Journalisten, die nach 1933 freiwillig oder unter Druck ins Exil gingen, wesentlich länger gewesen sei eine vergleichbare Liste von Wissenschaftlern im Sinne von Naturwissenschaftlern. Noch düsterer sei die Mitarbeit vieler deutscher Wissenschaftler an der Rassenideologie (racial science) gewesen. Orwell verweist dabei auf ein Buch: The Spirit and Structure of German Fascism, von einem Professor Brady. Zur Illustration von Orwells Thesen eignen sich die Biographien von Otto Hahn, Manfred von Ardenne, Werner Heisenberg oder Wernher von Braun ↗

Auch weltweit: Wissenschaflter arrangieren sich


Dass sich (Natur)Wissenschaftler mit moralisch fragwürdigen Herrschaftsformen gut arrangieren können sei aber nicht auf Nazi-Deutschland beschränkt. Auch in England hätten Naturwissenschaftler wenig Probleme, sich mit einem menschenunwürdigen Kapitalismus zu arrangieren. Orwell verweist dabei auf die hohe Zahl von Naturwissenschaftlern, die in den Adelsstand erhoben wurden, im Vergleich zu der sehr kleinen Zahl so geadelter Literaten (z. B. Tennyson). Siehe auch Moral und Wissenschaft ↗

Kann Naturwissenschaft schaden?


Nicht Naturwissenschaft an sich ist schädlich, so Orwell, sondern die Verengung der Bildung auf Chemie, Physik etc. zum Nachteil von Literatur und Geschichte etwa ist schädlich: der Effekt auf durschnittlich veranlagte Menschen wäre eine Verengung der Denkwege und die Ausbildung einer Arroganz gegebenüber Wissensgebieten außerhalb des eigenen Denkhorizontes. Die politischen Reaktionen eines verengt naturwissenschaftlich gebildeten Menschen wären wahrscheinlich, so Orwell, etwas weniger intelligent als die eines schreibunkundigen Bauern mit einem Mindestmaß an geschichtlichem Instinkt.

Welche Schluss sollte man ziehen?


Zum Ende des kurzen Essays empfiehlt Orwell [...] scientific education ought to mean the implanting of a rational, sceptical, experimental habit of mind. [...] Science means a way of looking at the world, and not simply a body of knowledge. Er verweist auf ein begrüßenswertes Beispiel. In den USA hätten sich mehrere Naturwissenschaftler öffentlich gegen die Weiterentwicklung der Atombombe ausgesprochen. Orwell vermutet, dass sie alle einen mehr oder minder großen kulturellen Hintergrund hatten, und etwa mit Literatur und den Künsten zumindest etwas vertraut waren. Sie waren, so Orwell, wahrscheinlich nicht im engeren Sinn des Wortes, reine Wissenschaflter.[3]

Nach dem Tod von George Orwell: P4C


George Orwell schrieb seine Gedanken zur Wissenschaft im 1945. Im Jahr 1950 starb der Autor. Welche Bewegungen hin zu einer Kultivierung wissenschaftlichen Denkens im Sinne Orwells gab es seitdem? Sehr bemerkenswert ist hier die internationale Bewegung "Philosophie for Children", oft abgekürzt als P4C. Der US-Didaktiker Matthew Lipman gründete 1974 gründete das Institute for the Advancement of Philosophy for Children (IAPC) an der Montclair State Universiy, nahe der Stadt Neu York. Mit dem Stichwort Philosophieren mit Kindern verbindet sich, ganz im Sinne von Orwell, die Absicht, die kognitiven und argumentativen Fähigkeiten von Kindern zu entwickeln. Entsprechende Initiativen und Bücher gibt es unter anderem auch in Deutschland[2], bis hinein in den Schulunterricht.

Fußnoten