Abstraktion
Denkschritt
Definition
Das lateinische Wort Abstrahieren heißt wörtlich übersetzt so viel wie abziehen[1]. Die Abstraktion bezeichnet einen Denkprozess, der von einer Fülle von Merkmalen der Vorstellungsganzen eines oder mehrere Betandteile abgesondert werden[1], und zwar solche die man für nicht wesentlich[1] oder bloß individuell (subjektiv)[3] hält. Die Abstraktion führt oft zur Bildung übergeordneter Begriffe[2]. Man kann aus der Fülle der verschiedenen Erscheinungen des Wetters auf Begriffe wie Wirbelsturm oder Nebel kommen. Dazu stehen hier kurz Beispiele.
Abstraktion als Teil der Induktion
Die meisten Flüssigkeiten dehnen sich aus, wenn man sie bei ansonsten gleichen Umständen erwärmt: als Induktion bezeichnet man einen Denkschritt, der eine Anzahl von Einzelbetrachtungen auf das Gemeinsame hin untersucht und dieses dann sozusagen abstrahiert. Die Abstraktion ist ein Teil der Induktion (Philosophie) ↗
Das Ergebnis der Abstraktion ist der Begriff
Wenn man aus vielen individuellen Einzeltieren das ihnen gemeinsame abzieht, so kann man zum Beispiel zum Begriff "Hund" kommen. Das sind dann in etwa alle vierbeinigen Tiere mit Schwanz, Fell und Zähnen, die bellen können etc. Diese gemeinsamen Merkmale zieht man ab von den vielen individuellen Tiere. Besonderheiten einzelner Individuen, wie etwa fehlende Gliedmaße, Stummheit (kann nicht bellen) oder besondere Muster im Fell zieht man nicht hinüber zum allgemeinen Begriff. Das Ergebnis der Abstraktion ist dann der allgemeine Begriff ↗
Abstraktion und das Makroskop
Geht man nachts durch die Straßen einer erleuchteten Stadt wird man kaum auf die Idee kommen, dass das Muster des Lichtermeers ähnliche Formen hat wie ein Neuron in einem Gehirn. Erst wenn man dazu unwesentliche Details (Häuser, Bäume etc.) entfernt und das Wesentliche in einem größeren Zusammenhang sieht (etwa aus dem Weltraum), erkennt man auch die größeren Muster. Gedankliche Methoden zum Erkennen größerer Zusammenhänge bezeichnete der französische Biologe Joel de Rosnay (geboren 1937) als Makroskop ↗
Fußnoten
- [1] 1905, als Voraussetzung jeder Denktätigkeit: "Abstraktion (lat., wörtlich »Abziehung«) bedeutet im Gegensatze zur Determination (s. d.) diejenige Geistestätigkeit, durch die aus einem Vorstellungsganzen (z. B. der Vorstellung eines Einzeldinges) ein oder mehrere Bestandteile abgesondert und für sich zum Gegenstande des Denkens gemacht werden. Die A. in diesem allgemeinsten Sinn ist die Grundlage und Voraussetzung alles Denkens, da dasselbe von vornherein die Wirklichkeit nur dadurch auffassen kann, daß es aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Eigenschaften und Beziehungen der Dinge einzelne heraushebt und zum Inhalt seiner Begriffe von den Dingen macht. Weiterhin aber bemächtigt sich die A. auch der Begriffe selbst und erzeugt aus ihnen neue, natürlich inhaltsärmere Begriffe. Dabei kann das Verfahren ein doppeltes sein, je nachdem die bloße Unterscheidung der Bestimmungen eines Objekts oder Begriffs oder die Vergleichung desselben mit andern Veranlassung zu der abstrahierenden Begriffsbildung gibt. Auf dem erstern Wege der isolierenden A. gelangen wir z. B. zur begrifflichen Bestimmung der einzelnen (in Wirklichkeit verbundenen) Eigenschaften eines Dinges; dagegen kommt die vergleichende A. vorzugsweise bei der Klassifikation (s. d.) der Naturgegenstände zur Geltung, indem die Begriffe der Arten, Gattungen etc. durch stufenweise A. des einer Mehrzahl von Objekten Gemeinsamen entwickelt werden. Es ist im Wesen der A. begründet, wenn man die abstrakte Betrachtungsweise im allgemeinen als eine einseitige ansieht, die dem vollen Inhalte der Wirklichkeit nicht gerecht wird, aber doch kann das Denken nur auf diesem Weg in die Zusammenhänge der Dinge allmählich eindringen. Während also im allgemeinsten Sinne jeder Begriff abstrakt genannt werden könnte, so wird doch gewöhnlich diese Bezeichnung auf solche Begriffe eingeschränkt, die sich nicht auf Dinge, sondern auf Eigenschaften, Zustände oder Beziehungen von Dingen beziehen, und deren Inhalt also nicht selbst als ein Seiendes, sondern nur als Bestimmung eines Seienden vorgestellt werden kann. Der Gegensatz ist konkret (s. d.). Vgl. Begriff, Generalisation." In: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 59. Online: http://www.zeno.org/nid/20006188427
- [2] 1907, nicht subjektiv, nur Wesentliches: "Abstraktion ist die Ausschließung des Individuellen und das Beibehalten des Wesentlichen und des Allgemeinen bei der Bildung eines Begriffes. Man unterscheidet quantitative und qualitative Abstraktion. Die quantitative Abstraktion bezieht sich auf die Form des Gegenstands, d. h. auf die Verbindung seiner Teile zu einem Ganzen; durch sie entstehen alle Raum- und alle Zeitbegriffe. Die qualitative Abstraktion dagegen führt zur Bildung geeigneter Gattungsbegriffe." Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 1907, S. 9. Online: http://www.zeno.org/nid/20003575985
- [3] 1911, Begriffsbildung: "Abstraktion (lat.), Absehung von bestimmten konkreten Einzelheiten eines Begriffs, um aus den dann übrigbleibenden gleichen Merkmalen mehrerer Begriffe einen neuen höhern Begriff (Abstractum) zu bilden." In: Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 1. Leipzig 1911., S. 8. Online: http://www.zeno.org/nid/20000882089
- [4] 1913, auf Latein: "bstrāctio, ōnis, f. (abstraho), I) das Fortschleppen, Entführen, coniugis, Dict. Cret. 1, 4. – II) übtr., als philos. t.t., die Abstraktion, Boëth. Arist. anal. post. 1, 14: Plur., Boëth. in Porphyr. 1. p. 54." In: Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Hannover 81913 (Nachdruck Darmstadt 1998), Band 1, Sp. 37. Online: http://www.zeno.org/nid/20002185962
- [5] 1907: "abstrahieren (lat. abstrahere), abziehen, absehen, heißt der Denkprozeß, durch den wir die Anschauungen von Einzeldingen unter bestimmten Gesichtspunkten durch Vergleichung untereinander vom Individuellen und Zufälligen befreien und die ihnen gemeinsamen wesentlichen (s. d.) Merkmale zu allgemeinen Begriffen zusammenfassen. So verfährt z.B. jedes Gebiet der Mathematik und der Naturwissenschaft, um zu seinen Begriffen zu gelangen." In: Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 1907, S. 8. Online: http://www.zeno.org/nid/20003575969
- [6] 1911: "Abstrahieren (lat.), ab-, wegziehen; von etwas absehen; das Wesentliche einer Erscheinung vom Zufälligen sondern. Abstrákt, abgezogen, allgemein, bloß gedacht (Gegensatz: konkret). Abstrakte Wissenschaften, reine Wissenschaften, wie Philosophie, Mathematik, im Gegensatz zu den angewandten. Abstrakte Zahl, unbenannte Zahl." In: Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 1. Leipzig 1911., S. 8. Online: http://www.zeno.org/nid/20000882070
- [7] Wie die Physik so weit abstrahiert, dass sie die Welt der Sinneserfahrung weitgehend ausblendet, beschrieb der Physiker Max Planck auf einem Vortrag aus dem Jahr 1908: "Welcher Physiker denkt heutzutage bei der Elektrizität noch an geriebenen Bernstein oder beim Magnetismus an den kleinasiatischen Fundort der ersten natürlichen Magnete? Und in der physikalischen Akustik, Optik und Wärmelehre sind die spezifischen Sinnesempfindungen geradezu ausgeschaltet. Die physikalischen Definitionen des Tons, der Farbe, der Temperatur werden heute keineswegs mehr der unmittelbaren Wahrnehmung durch die entsprechenden Sinne entnommen, sondern Ton und Farbe werden durch die Schwingungszahl bzw. Wellenlänge definiert, die Temperatur theoretisch durch die dem zweiten Hauptsatz der Wärmetheorie entnommene absolute Temperaturskala, in der kinetischen Gastheorie durch die lebendige Kraft der Molekularbewegung, praktisch durch die Volumenänderung einer thermometrischen Substanz bzw. durch den Skalenausschlag eines Bolometers oder Thermoelements; von der Wärmeemfpidnung ist aber bei der Temperatur in keinem Fall mehr die Rede. Genau ebenso ist es mit dem Begriff der Kraft gegangen. Das Wort „Kraft“ bedeutet ursprünglich ohne Zweifel menschliche Kraft, entsprechend dem umstand, daß die ersten und ältesten Maschinen: der Hebel, die Rolle, die Schraube, durch Menschen oder Tiere angetrieben wurden, und dies beweist, daß der Begriff der Kraft ursprünglich dem Kraftsinn oder Muskelsinn, also einer spezifiischen Sinnensempfindung, entnommen wurde. Aber in der modernen Definition der Kraft erscheint die spezifische Sinnesempfindung ebenso eliminiert, wie in derjenigen der Farbe der Farbensinn." In: Max Planck: Die Einheit des physikalischen Weltbildes. Vortrag, gehalten am 9. Dezember 1908 in der naturwissenschaftlichen Fakultät des Studentenkorps an der Universität Leiden. Die Idee, dass man Erkenntnis vor allem oder nur durch die Ausschaltung aller persönlichen, subjektiven Empfindungen erlangen könne nennt man in der Erkenntnistheorie Objektivismus ↗