Materie
Physik
Basiswissen
Das Wort Materie ist sprachlich verwandt mit dem Wort Mutter. Die gedankliche Verbindung liegt in der Idee des Urstoffes, aus dem etwas entsteht. In der Philosophie meint Materie so viel wie die außerhalb des Bewusstseins existierenden Dinge. In der Physik verbindet man mit dem Begriff Materie oft bausteinartig kleine Dinge, aus denen sich die ganze Welt zusammensetzt. Der Begriff ist jedoch sehr problematisch.
Eingrenzung
Der Materiebegriff wird von Physikern nicht einheitlich verwendet. In dem meisten Fällen deckt er sich aber gut mit Alltagsvorstellung: Alles was Raum einnimmt und Masse hat kann man als Materie bezeichnen. Oft verbindet man damit auch die Idee kleinster Bausteine wie Elementarteilchen oder Atome. Das aber führt zu Problemen.
Beispiel: Goldkugel
Eine Goldkugel besteht aus Materie. Sie braucht soundsoviele cm³ Raum und hat eine eindeutige Masse von soundsovielen kg. Auch ein einzelnes Goldatom wäre in diesem Sinn Materie. Seine Masse macht sich zum Beispiel über Rückstoßeffekte bemerkbar. Dass ein Atom auch Raum einnimmt kann man auf modernsten Aufnahmen von Elektronenmikroskopen sehen. Problematisch wird es aber etwa bei einem Elektron. Man weiß nicht, ob ein Elektron eine Ausdehnung hat oder ein mathematischer Punkt ist. Siehe dazu Elektronendurchmesser ↗
Materie als eine Art Baustein oder Urstoff
Das Wort Materie wurde im 19ten Jahrhundert zunächst als Gegensatz zur Form gedacht[2][3][4] und immer auch mit einem Widerstand gegen eine Eindringung oder Verdrängung verbunden[3], oft auch als Gegensatz zu etwas Geistigem[4]. Eng verbunden mit dem Wort Materie war die Vorstellung von einem elementaren Stoff, aus dem alle anderen Dingen zusammgensetzt seien. 1856 steht in einem Lexikon zum damals aktuellen Forschungstand: "bis heute sind jedoch die Naturwissenschaften noch zu keiner Urmaterie vorgedrungen, sondern zu 64 Ur-Materien oder Grundstoffen der Körperwelt[4]". Das Lexikon verweist von dort dann auf das Stichworte Elemente und meint damit chemische Elemente ↗
Materie in der klassischen Physik: bis etwa 1905
Seit dem frühen 17ten Jahrhundert hat sich in der Naturphilosophie (Physik) der Gedanke immer weiter verbreitet, dass unsere Welt ganz aus kleinsten Materiebausteinen aufgebaut ist. Alle Gase, Flüssigkeiten und Feststoffe der belebten und unbelebten Welt würden sich demnach aus diesen Bausteinen zusammensetzen. In Analogie zur strengen Regelmäßigkeit der Planetenbewegungen am Himmel, glaubte man auch, dass die Materiebausteine ausschließlich einfachen Kraft- und Bewegungsgesetzen gehorchen. Ein Beispiel für so ein Gesetz wären die Formeln für einen elastischen oder inelastischen Stoß. In strenger Denk-Konsequenz gelangt man letztendlich zum Weltbild des "Materialismus": alles besteht nur aus Materie. Geistiges, wie etwa die Idee eines freien Willens, waren nur Folgeerscheinungen des ständigen Spieles der Materie. Dieses Weltbild dominierte die Wissenschaft bis etwa zur Jahrhundertwende um 1900. Manche Menschen waren fasziniert von der Idee, dass letztendlich der ganze Ablauf der Welt vorausberechenbar sein könnte. Andere sahen im Materialismus den Menschen zu einem bloßen Roboter reduziert. Ein berühmtes Sinnbild für den Materialismus ist der Laplace-Dämon ↗
Erste Zweifel: gibt es neben Materie andere Urdinge?
Schon Newton nahm an, dass die Wirkung der Schwerkraft (Gravitation) sich mit unendlicher Geschwindigkeit im Weltraum ausbreite. Es war aber völlig unklar, woher denn die Sonne etwa "wissen" solle, dass in ihrer Nähe eine Erde war und eine Anziehungskraft wirken muss. Woraus bestand der Raum zwischen den Himmelskörpern, sodass Kräfte übermittelt werden könnten? Im 19ten Jahrhundert entwickelte sich dann die Idee, dass zwischen den Materiebausteinen Kraftfelder wirken. Man sprach von elektrischen Felder und Gravitationsfeldern. Mit den Feldern tauchte die Frage aus, ob sie selbst Masse haben oder Raum beanspruchen. Sind sie bloß ein Denkkonstrukt oder existieren sie auf irgendeine Weise tatsächlich? Die Frage ist bis heute ungeklärt. Man gewöhnte sich wieder an den Gedanken, dass die Welt vielleicht nicht nur aus Materie besteht, sondern auch aus immateriellen Dingen.
Materie in der Quantenphysik
Ab etwa 1900 entdeckte man in einer Reihe von Versuchen dann das, was wir heute Atome, Elektronen und Protonen nennen. Diesen sehr kleinen Bausteinen war sicher Masse (messbar in kg) zuzuschreiben. Sie schienen auch eine Raumausdehnung zu haben, waren also damit eindeutig materiell. Man stellte sie sich als kleine Kügelchen oder sonstwie geformte Dinge vor, die sich stetig (ohne Sprüng) durch Raum und Zeit bewegen können. Aber auch dieses modellhaft Bild geriet bald ins Schwanken: Im sogenannten Doppelspaltexperiment schoss man Elektronen durch Spalten in einer Wand auf eine Detektorfläche. Die Verteilung, wo die Elektronen am Detektor ankamen, ließ sich aber in keinster Weise mit der Idee kleiner Materiebausteine herleiten. In diesem Versuch können sich die Elektronen unmöglich wie vernünftige Materie verhalten. Viel eher müssen sie gleichzeitig auch Welleneigenschaften haben. Sie müssten auf einen Schlag wissen, wie die Welt um sie herum auch in größerer Entfernung aussieht. Das alles führt zu vielen Widersprüchen, die heute meistens unbesprochen einfach stehen gelassen werden. Der Materiebegriff ist heute sehr unscharf. So spricht man auch von masse- oder raumloser Materie ohne aber näher darauf einzugehen, wie man sich das vorstellen sollte.
Materie in der Schulphysik
In der Schulphysik wird in den unteren Klassen meist stillschweigend ein klassisches Bild von Materie verwendet: Kugeln folgen den den Stoßgesetzen, Planeten bewegen sich gemäß Kepler, Elektronen fließen nach festen Formeln durch Leiter und so weiter. Spätestens in der Oberstufe aber tauchen dann Formeln auf, die etwa Protonen eine Wellenlänge zuordnen. Licht wird einerseits als Welle betrachtet, andererseits spricht man von Lichtteilchen, den Photonen. Teilchen- und Welleneigenschaften tauchen nebeneinander auf. Man muss akzeptieren, dass es kein anschauliches Modell mehr von Materie gibt. Es scheint so etwas wie Atome und noch kleinere Materieteilchen zu geben, sie verändern ihren Zustand aber oft so, als seien sie zwischendurch eher wellenartig gewesen. Die Wellen selbst geben dabei aber nur noch Wahrscheinlichkeiten an, wo man die Teilchen wann antreffen könnte. Die moderne Physik besteht in weiten Zügen aus der Mathematik von Wellen in Verbindung mit Wahrscheinlichkeiten.
Fußnoten
- [1] Erwin Schrödinger Erwin: Was ist Materie? Die Doppel-CD enthält den aufDeutsch gehaltenen Vortrag Was ist Materie aus dem Jahr 1952 sowie den englischsprachigen Vortrag Do Electrons think? aus dem Jahr 1949. ISBN:978-3-932513-30-5.
- [2] 1798, Materie im Gegensatz zu Stoff und Form: "Dasjenige, woraus ein Körper zusammen gesetzt ist, das was einem Körper die Ausdehnung und widerstehende Kraft gibt. Die einfache Materie oder die Elemente, welche sich nicht weiter auflösen lässet, und aus deren Vermischung alle übrige zusammen gesetzte Materie entstehet […] im Gegensatze der Form, d.i. der Art und Weise ihrer Verbindung." In: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 107-108. Online: http://www.zeno.org/nid/20000310662
- [3] 1839, physikalische Beschaffenheit: "Materie bedeutet überhaupt Stoff oder Inhalt, das Wesentliche der Körper, und wird gewöhnlich als Gegensatz der Form (s.d.) oder Gestalt gedacht. Von der Gegenwart der Materie überzeugen wir uns vorzüglich durch das Gefühl; der Widerstand aber, welchem man überall begegnet, wo in den Raum eines Körpers einzudringen versucht wird, heißt die Undurchdringlichkeit derselben. Die Materie erfüllt indeß den Raum der Körper nicht durchaus, sondern mit Unterbrechungen, welche man Zwischenräume und Poren nennt und an festen Körpern mit bloßem Auge oder durch Vergrößerungsgläser leicht wahrnimmt; bei flüssigen Körpern aber schließt man auf die Gegenwart von Zwischenräumen daraus, weil es keine Flüssigkeit gibt, welche nicht andere Körper in sich aufnehmen könnte. Als eine andere allgemeine Eigenschaft der Materie lehrt die Erfahrung die Theilbarkeit derselben anerkennen, welche mitunter außerordentlich weit geht, wie z. B. bei den höchst dehnbaren Metallen (s. Dehnbarkeit) und den leuchtenden und riechenden Stoffen." In: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 80. Online: http://www.zeno.org/nid/20000843814
- [3] 1856, Materie als Urstoff, als Bautein, aus dem Formen entstehen können: "Materie (vom lat. mater d.h. Mutter?), ein Ausdruck, der in der Geschichte der Philosophie, in allen Wissenschaften und Künsten sowie im gemeinen Leben oft genug, aber in sehr verschiedenen Bedeutungen vorkommt, z.B. als das Nichtgeistige im Gegensatz zum Geistigen, der Stoff im Gegensatze zur Form, der Gehalt im Gegensatze zur Gestalt, ferner gleichbedeutend mit Gegenstand, Thema u.s.w. Wird der Ausdruck M. im Gebiete des Geistes gebraucht, so beruht dies auf einer Uebertragung des gewöhnlichen Sinnes des Ausdruckes M., nämlich: das sinnlich Wahrnehmbare u. den Raum ausfüllende, der Stoff, woraus die Körper bestehen u. durch dessen Zusammenhalt die Existenz derselben bedingt ist. Die Frage nach der Ur-M. od. dem Grundstoff aller Dinge hat die Philosophen viel beschäftigt, bis heute sind jedoch die Naturwissenschaften noch zu keiner Ur-M. vorgedrungen, sondern zu 64 Ur-M.n oder Grundstoffen der Körperwelt (s. Elemente)." In: Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1856, Band 4, S. 121-122. Online: http://www.zeno.org/nid/20003427935
- [4] 1860, Stoff, Baustein für Formen: "Materie (v. lat. Materia), 1) Stoff im Gegensatz zur Form. So unterscheidet man in der Ästhetik u. Rhetorik die M., den Stoff, Inhalt eines Kunst- od. Schriftwerkes von der Form, der Gestaltung, der künstlerischen od. rednerischen Behandlung; in der Logik die M. eines Urtheils, eines Schlusses, d.h. die in ihm vorkommenden Begriffe von der Form ihrer Verknüpfung. Damit hängt der Gebrauch des Wortes 2) in der Metaphysik u. Physik zusammen, insofern diese die Frage zu beantworten suchen, welche Stoffe den Dingen in ihren veränderlichen Gestaltungen zu Grunde liegen. So haben schon die ältesten griechischen Naturphilosophen, ohne gerade das Wort M. anzuwenden, bald eins, bald mehre der sogenannten Elemente (Wasser, Luft, Feuer, Erde) entweder mit od. ohne Berufung auf ein als Kraft wirkendes Princip als die Stoffe bezeichnet, aus welchen die Dinge entstehen; eine bestimmte Bedeutung gab dem Begriff der M. (unter der Bezeichnung Hyle) Aristoteles, indem er sie für das, was die Möglichkeit der Dinge enthält (Esse potentia), im Gegensatz zur Form (Eidos, Morphe) als dem, was die Dinge wirklich sind (Esse actu), für das allgemeine Substrat des Werdens u. somit für eins der Realprincipien erklärte, auf welche er die natürliche Entstehung u. die künstliche Hervorbringung der Dinge zurückführen zu müssen glaubte." Und so weiter mit vielen Beispielen. In: Pierer's Universal-Lexikon, Band 11. Altenburg 1860, S. 1-2. Online: http://www.zeno.org/nid/20010411011
- [5] 1904: "Materie, s.v.w. Stoff, Inhalt." In: Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 6 Stuttgart, Leipzig 1908., S. 333. Online: http://www.zeno.org/nid/20006083153
- [6] 1905, Kraftwirkung, Masse "Materĭe (lat. materia), im allgemeinen gleichbedeutend mit Stoff, also im Gegensatz zur Form zunächst das Sachliche, Gegenständliche, der Inhalt im Unterschiede von der Art und Weise der Erscheinung, Gestaltung, Behandlung. In der Naturwissenschaft alles, was eine Kraft ausüben, d. h. Umwandlung einer Energieform in eine andre (s. Energie) bewirken kann. Da wir selbst eine Kraft (Muskelkraft) ausüben können und dabei die Empfindung haben, daß unsre Person (unser Ich) die Kraft ausübt, so denken wir uns in jedem Fall einer Kraftwirkung ein Wesen, das existiert wie unser Ich, als Träger der Kraft, da es uns nur so möglich ist, die Kraftwirkung zu »begreifen«, d. h. sie in Gedanken selbst auszuüben. Und so wie unser Ich ein unteilbares Wesen (Individuum) ist, so können wir uns auch die Träger der Kräfte nur als unteilbare Wesen (Atome) vorstellen, die M. muß also aus Atomen zusammengesetzt sein. Beweisen kann man die Existenz solcher Atome nicht, es ist indes in manchen Fallen unmöglich, auch nur eine einfache Beschreibung der Erscheinungen zu geben, ohne von Atomen zu sprechen" Und für die Physik: "Als das wesentlichste Merkmal der M. gilt ihr die Masse (bez. das Gewicht), weil diese allein bei allen Naturprozessen unvermehrt und unvermindert bleibt und somit dem logischen Postulat der Konstanz der M. entspricht; im übrigen wird die Naturwissenschaft weniger durch die abstrakten Forderungen des Denkens als durch das Bedürfnis der Erklärung der Erfahrungstatsachen geleitet, und daher ist der naturwissenschaftliche Begriff der M. nicht feststehend, sondern in beständiger Umbildung begriffen." Sowie in der Philosophie: "In der Philosophie bezeichnet M. in unbestimmterm Sinne das im Raum vorhandene, sicht- und tastbare Reale überhaupt (also materiell soviel wie körperlich), dann bestimmter die beharrende Grundlage (das substantielle Substrat) der Körperwelt im Gegensatz zu den wechselnden sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen. Im Begriff der M. sind also zwei Grundbestimmungen enthalten, daß sie unvergänglich ist und zugleich den zureichenden Realgrund der Gesamtheit aller äußern Erscheinungen bildet." Und so weiter. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 13. Leipzig 1908, S. 430-431. Online: http://www.zeno.org/nid/20007062060
- [7] 1907, z. B. Masse, Ausdehnung im Raume, Form, Volumen, Gewicht: "Materie (lat. materia, gr. hylê), Stoff, bedeutet allgemein philosophisch zunächst im Gegensatz zur Form das Ungeformte, Ungestaltete, Sachliche, das uns durch die Qualität der Sinnesempfindung gegeben ist, den Raum- und Zeitinhalt. So unterscheidet man z.B. die Materie eines Raumes von seiner Gestalt, die Materie eines Kunstwerkes von der dadurch ermöglichten Darstellung. Ebenso allgemein stellt Kant (1724-1804) der Form unserer sinnlichen Empfindungen (nämlich dem Raume und der Zeit) ihre Materie gegenüber, d.h. was wir durch die Empfindungen des Gehöre, Gesichts usw. im[347] Raume und der Zeit wahrnehmen, und ebenso schied er materielle Sittengesetze, welche vorschreiben, nach welchen Objekten wir streben sollen, von den formalen, die sich nur auf die Verhältnisse, wie unser ille sich entscheidet, beziehen. – Im engeren metaphysischen Sinne bezeichnet Materie den Inhalt der Erscheinungen. Eine ausreichende und feststehende Erklärung dieses Inhaltes ist bisher nicht gelungen. Die Philosophen haben je nach ihrer Gesamtansicht anderes darunter verstanden. Die Hylozoisten (Thales, Anaximandros, Anaximenes, Herakleitos) betrachteten einen oder mehrere der durch die Erfahrung bekannten oder hypothetisch angenommenen sinnlichen Stoffe (Wasser, Apeiron [s. d.], Luft, Feuer usf.) als Grundprinzip und schieden den Stoff noch nicht von bewegenden Kräften, sondern sahen diese als mit ihm eins an. Die Scheidung des Stoffs von der bewegenden Kraft vollzogen zuerst Empedokles (484 bis 424), der vier Elemente (Erde, Wasser, Luft und Feuer) und zwei bewegende Kräfte Liebe und Haß (philia u. neikos) annahm, und Anaxagoras (500-428), der sich die Materie aus unendlich vielen qualitativ bestimmten Stoffteilchen (spermata) bestehend dachte und als bewegende Kraft einen weltordnenden Geist (nous) ansetzte. Die Atomisten (Leukippos und Demokritos, 5. u. 4. Jahrh. v. Chr.) stellten zuerst die Theorie auf, daß die Materie aus qualitätslosen, durch Gestalt, Ordnung und Lage sich unterscheidenden kleinsten Bestandteilen, den Atomen, bestände. Platon (427-347) setzte den Stoff als das Nichtseiende in Gegensatz zu den Ideen (den allgemeinen Begriffen), denen das substanzielle Dasein innewohnt; auch die Metaphysik des Aristoteles (384-322) beruht auf dem Gegensatz von Stoff und Form. Die Materie, der Stoff, ist das, was nur der Möglichkeit nach existiert (dynamis), die Form dagegen das Wirkliche (energeia), die Veränderung ist der Übergang aus jener in diese. Über das Verhältnis von Materie und Form stritt das ganze Mittelalter; ein Teil der Philosophen nahm eine Bestimmung der Materie durch die Form, der andere eine Entwicklung der Form aus der Materie an. Durch Cartesius (1596-1650) ward die Materie wieder neu bestimmt; da er den Gegensatz zwischen Denken (Geist) und Ausdehnung für einen metaphysischen, für den zweier Substanzen ansah, so erklärte er die Materie für die ausgedehnte Substanz im Gegensatz zum Geiste, der denkenden Substanz. Demgemäß leitete er alle körperlichen Vorgänge aus räumlich-mechanischen Veränderungen ab. Leibniz (1646-1716) setzte an Stelle der Ausdehnung[348] die Raumerfüllung, die nur durch tätige Kraft erfolgen kann, und fand die einzig tätige Kraft im Vorstellen. So gestaltete er die realen Dinge zu Seelenmonaden mit Vorstellungsgkräften um; die Materie war ihm daher nichts Reales, sondern nur die verworrene Vorstellung eines Aggregats von Monaden. Der Materialismus (s. d.) suchte im Gegensatz zu dem Leibnizschen Idealismus alles geistige Leben aus leiblichen Funktionen zu erklären und das ganze Dasein in Materie aufzulösen. Er stützte sich besonders auf die durch die Naturwissenschaft erneuerte alte Hypothese der Atome, welche zwar materiell, aber auch zugleich physisch unteilbar sein sollten. Kant (1724-1804) ließ dasjenige, was der Materie als dem im Raum Beweglichen eigentlich zu Grunde liege, auf sich beruhen, suchte aber die Undurchdringlichkeit und Kohäsion der Materie dynamisch durch anziehende und abstoßende Kräfte zu erklären. Die Identitätsphilosophie von Hegel (1770-1831) und Schelling (1775-1854) konstruierte die Materie aus einer Spannung relativ geistiger Kräfte oder Potenzen und erklärte Geist und Materie als an sich identisch, nur verschieden in der Erscheinung. Herbart (1776-1841) ließ die Materie aus nichtausgedehnten mit der Kraft der Selbsterhaltung ausgestatteten Realen bestehen, die in gewissen Fällen zu chemischer Vermischung gelangen sollen. – An der Materie, der Substanz der Physik und Chemie, finden wir Masse, Ausdehnung im Raume, Form, Volumen, Gewicht, aber sie selbst fassen wir damit ebensowenig wie durch Teilung in kleinste Teilchen; wir bleiben dabei immer außerhalb derselben und dringen nicht in ihr Inneres ein. Dieses können wir uns nur als einen räumlich geordneten Komplex von Energien denken, und auch mit diesem Begriff sind wir nicht befriedigt; denn wir eliminieren damit eigentlich den Begriff der Materie vollständig. So stehen wir mit den philosophischen Begriffen Materie und Form, Stoff und Kraft, Substanz und Energie, die mit einander zusammenhängen, wie mit vielen anderen Begriffen am Ende der Erkenntnis. Wir arbeiten mit diesen Begriffen allenthalben, aber können sie nicht anders als psychologisch ableiten und nicht von inneren Widersprüchen vollkommen befreien, noch über eine wenig besagende inhaltlose Erklärung hinausbringen. (Siehe Ursache, Substanz.) Kraft nennen wir dasjenige an einem Dinge, was wir durch bestimmte Wirkungen auf andere Dinge erkennen, Form ist das Ergebnis der Einwirkung der Kraft, Stoff dasjenige an einem Dinge, was unmittelbar[349] in der Empfindungsqualität unserem Bewußtsein gegeben ist. Die Form liegt vor in Zahl, Zeit und Raum, der Stoff in allem, was den Inhalt derselben ausmacht. – Nach den neusten naturwissenschaftlichen Auffassungen ist die Materie tatsächlich nichts anderes als »Träger der Energie« ja vielleicht nur eine besondere Form der Energie. Die Richtigkeit dieser Annahme ist wegen des unendlich kleinen Quantums Materie, welche bei der Erscheinung der verschiedenen Strahlungen dissoziiert wird, zur Zeit noch nicht nachweisbar. Sagt man also z.B., das Radium sende materielle Strahlen aus, so ist dies so zu verstehen, daß es Strahlen entsende, welche die Eigenschaft der Masse im heutigen Sinne habe. Nun besteht nach Thomson die Materie, beziehungsweise das Atom derselben aus Einheiten der Elektrizität, aus Elektronen (s. d.), in welche die Atome bei gewaltsamer Trennung wieder zu zerfallen vermögen. Demnach versteht man unter der Strahlung des Radiums nichts anderes, als daß es Elektronen entsendet, aus deren Wirkung. auf den Äther die merkwürdigen Eigenschaften, welche es besitzt, sich ergeben. Vgl. strahlende Materie. F. A. Lange, Gesch. des Materialismus. 6. Aufl. 1896. Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie. 3. Aufl. Leipzig 1905." In: Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 1907, S. 347-350. Online: http://www.zeno.org/nid/20003585743
- [8] 1910, Gegensatz zu Geistigem: "Materie, I) Stoff zu etwas: materia. – M. zu einer Rede etc., s. Gegenstand. – II) im Ggstz. zum Geistigen: corpus." In:
- [9] 1911, Gegensatz zu Form: "Materĭe (lat.), Stoff, das Sachliche im Gegensatz zur Form, der Inhalt im Unterschied von der äußern Erscheinung und Darstellung; auch s.v.w. Eiter." In: Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 2. Leipzig 1911., S. 146. Online: http://www.zeno.org/nid/20001340603
- [10] Schopenhauer sieht in Materie einen Denkgegenstand: "Die Materie manifestiert sich nur durch ihre[652] Kräfte; sie selbst als Abstraktum ist form- und eigenschaftslos, absolut träge und passiv, das unter allem Wechsel der Qualitäten und Formen Beharrende. Die Materie ist nicht Gegenstand, sondern Bedingung der Erfahrung, das durch die Formen unseres Intellekts notwendig herbeigeführte bleibende Substrat der Vorgänge im Raum, das wir nicht mehr wegdenken können, wenn sie einmal gesetzt ist. Alle Materie ist »nur für den Verstand, durch den Verstand, im Verstande«, kein Ding an sich." In: Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 649-658. Online: http://www.zeno.org/nid/20001833499
- [11] Erwin Schrödinger: Was ist ein Naturgesetz? Beiträge zum naturwissenschaftlichen Weltbild. Scientia nova, 5. Auflage, Oldenbourg, München 1997, ISBN 978-3-486-56293-4. Dort das Kapitel: Unsere Vorstellung von der Materie. Seite 102 ff.
- [12] Materie als Sinnes-Empfindungs-Strang: "Nach dieser Auffassung [Mach, Russell, Demokrit] ist ein Stück Materie die Benennung für einen zusammenhängenden „Strang“ von Ereignissen, die sich zeitlich aneinanderreihen, woebei unmittelbar aufeinanderfolgende im allgemeinen engste Ähnlichkeit haben. Das einzelne „Ereignis“ ist ein unentwirrbarer Komplex von Sinnesempfindungen, Erinnerungsbildern, die sich daran knüpfen und Erwartungen, die sich an beide vorigen knüpfen. Der Anteil der Sinne überwiegt, wenn es sich um einen unbekannten Gegenstand handelt, etwa um einen weißen Fleck an der Landstraße, der ein Stein sein könnte, oder Schnee oder Salz, eine Katze oder ein Hund, ein weißes Hemd, eine Bluse, ein verlorenes Taschentuch." In: Erwin Schrödinger: Was ist ein Naturgesetz? Beiträge zum naturwissenschaftlichen Weltbild. Scientia nova, 5. Auflage, Oldenbourg, München 1997, ISBN 978-3-486-56293-4. Dort die Seite 132.