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HMST


Evolution


Basiswissen


HMST ist ein Akronym der Evolutionsforschung und steht für 'Human Metasystem-Transition': die Grundidee ist, dass im Laufe der Evolution Menschen zu Teilen einer höheren, komplexeren Form von Leben, einem Metasystem werden. Dieser Artikel greift einige Ergebnisse der biologischen Forschung an Einzellern, Pflanzen und Tieren auf. Die Befunde aus der Biologie werden dann mit Befunden aus der Soziologie abgeglichen. Das führt zu verblüffenden Szenarien einer möglichen Zukunft des Menschen.

Systeme aus Systemen


Der Begriff der Metasystem-Transition im heutigen Sinn wurde spätestens im Jahr 1977 von Valentin Turchin (1931 bis 2010) verwendet[14], auch im Sinn eines entstehenden menschlichen Überwesens[147]. Aus Molekülen werden Zellen, Zellen verbinden sich zu Organismen, und aus Organismen werden Herden und Staaten: die Grundidee hinter dem Begriff der Metasystem-Transition ist, dass sich ehemals selbständige Individuen zu einer neuen Lebensform verbinden, die nach innen gerichtete Kontrollmechanismen hat[4], um die Zweckmäßigkeit des Zusammenspiels aller Teile zu gewährleisten.

1.0 Ein Metasystem ist ein System aus Systemen.

Metasystem-Transitionen sind damit ein Sonderfall einer evolutionären Transition[5]. Meta heißt dabei so viel wie übergeordnet oder auch höherstehend als Zwischenstufe[6]. Ein System ist ein Ganzes aus Teilen, die Beziehungen untereinander haben können[7]. Eine Transition ist ein Wechsel oder Übergang ganz allgemein[8].

2.0 Bei einer Metasystem-Transition schließen sich ehemals eigenständige Individuen zu einem neuen übergeordneten System zusammen.

Metasysteme im Sinne der Theorie der Metasystem-Transitionen benötigen einige Eigenschaften zwingend. Nur dann können sie effektiv als Metasystem im Sinne der Metasystem-Theorie funktionieren. Zwingende Eigenschaften sind:


Andere Eigenschaften scheinen typisch für einige Metasysteme zu sein. Aber es gibt Ausnahmen oder es gibt keine logisch zwingenden Gründe, dass sie vorhanden sein müssen. Eigenschaften, die einer Sache zukommen können, aber nicht müssen, nennt man in der Philosophie akzidentell[91]:


HMST: die evolutionäre Zukunft des Menschen


Die Idee der HMST, der Human Metasystem-Transition ist es, dass aus der Menschheit gerade ein neues Metasystem entsteht. Dabei sollen, so der Gedanke, dieselben Mechanismen wirken, die zum Beispiel auch schon bei der Entstehung von Vielzellern aus Einzellern oder von Insektenstaaten aus Einzelinsekten tätig waren. Damit kann man begründet über die Zukunft der menschlichen Evolution spekulieren.

3.0 Vielzeller wie die Volvox-Kugelalge oder auch ein Ameisenstaat zeigen vielleicht, wie die nächste menschliche Entwicklungsstufe hin zu einem Superorganismus aussehen könnte.

Nimmt man die Idee wiederkehrender Metasystemen-Transitionen ernst, so müssten zum Beispiel menschliche Gesellschaften entstehen, bei denen nur noch ein Individuum Nachkommen erzeugt, umsorgt von einer Kaste unfruchtbarer Eunuchen oder Arbeiterinnen[58]. Tatsächlich beobachtet man in reichen Nationen einen solchen Trend. Begünstigt durch eine starke soziale Ungleichheit können sich reiche Menschen Fürsorge für viele ihrer Kinder einkaufen, während genauso diese Arbeiter selbst weniger Kinder haben[59]. Weiter unten werden dann weitere solche Vergleiche vorgestellt und diskutiert. Zunächst soll ein Blick in die Historie zeigen, welche ideengeschichtlichen Wurzeln die Idee einer Metasystem-Transition hat.

Zur Ideengeschichte von Metasystem-Transitionen


Die Idee, dass menschliche Gesellschaften ähnlich wie Tiere oder einzelne Menschen aufgebaut sind, reicht zurück bis in die Antike[44]. Die Idee einer hierarchischen Ordnung der Welt, von den leblosen Objekten bis hin zu Gott, war dann vor allem für die christliche Theologie bis hin in die Neuzeit ein fester Bestandteil. So zeigt schon ein Bild aus dem Jahr 1305 augenfällige Überseinstimmungen mit modernen Darstellungen von anwachsender Komplexität. Ganz unten findet man Steine, darüber Blumen, Bäume, Tiere, den Menschen (homo), Engel (angeli) und schließlich Gott (deus) als höchste Stufe des Seins[47]. Die Scala naturae, die natürliche Ordnung gab jeder Lebensform und jedem Gegentsand seinen festen Platz in der Welt. Ganz unten befand sich die Hölle, ganz oben Gott und dazwischen die Bewohner des irdischen Bereiches[48].

4.0 Ähnlichkeiten zwischen Lebewesen und Gesellschaften beschrieb man schon in der Antike und im Mittelalter.

Bis etwa zur Zeit um das Jahr 1800 sah man die Welt als eine statische Bühne an und nicht als ein entwickelndes Ganzes. Das Alter der Erde schätzte man auf etwas über viertausend Jahre[49]. Fossilfunde, etwa von Fischen deutete man nicht als Hinweis darauf, dass heutiges Festland einmal Meeresboden gewesen sein könnte, sondern als eine Laune der Natur[56]. Noch heute berühmt ist die Deutung des Fossils eines Riesensalamanders aus den Schweizer Bergen als Skelett eines in der biblischen Sintflut ersäuften Menschen aus dem Jahr 1726[57].

5.0 Bis etwa 1800 sah man die Welt als statisch an, als eine ewige, göttlich eingerichtete Ordnung.

Erst als Geologen gegen Ende des 18ten Jahrhunderts eine erste Ahnung von der Unermeßlichkeit der Zeiträume der Erdgeschichte bekamen , löste man sich allmählich vom Bild einer statisch eingerichteten Welt. Man begann, etwas von der Tiefe der Zeit zu erahnen[50]. Dann aber wandelte sich das Weltbild schnell. In den Geschichtswissenschaften reifte das Konzept von einem Weltprozess[51], mit dem Marxismus als folgenreiches Beispiel[52]. Im Jahr 1841 tritt der Name Dinosaurier und damit auch endgültig das lange Werden und Vergehen von Lebensformen auf der Erde in die Geschichte ein[55]. In der Biologie erkannten in den 1850er Jahren Alfred Russell[53] und Charles Darwin[54], dass selbst die Vielfalt der Lebensformen Ergebnis einer langen Entwicklung ist, nämlich der Evolution.

6.0 Nicht nur die Tier- und Pflanzenwelt, auch die menschliche Gesellschaft wurde ab etwa 1830 zunehmend evolutionär gedacht.

Mit eine direkten Bezug zu menschlichen Gesellschaften entstanden ab etwa 1840 vor allem im deutschen Sprachraum eine Vielzahl meist staatstheoretitscher Schriften vom Staat als Organismus. Im Rückblick bezeichnete man diese Strömung später als organische Theorie[18]. Rein biologisch argumentierte Ernst Haeckel, als er 1878 in eine Vortrag in Wien die enge Analogie zwischen Zellen und Organismen einerseits und Menschen und Staaten andererseits betonte[19]. Ebenso biologisch argumentierten zum Beispiel der Russe Paul Lilienfeld im Jahr 1873[45] oder der Franzose Rene Worms (1869 bis 1926) im Jahr 1896[20]. Eher metaphorisch, nicht aber wörtlich wollte der Engländer Herbert Spencer seinen sozialen Organismus verstanden wissen[46]. Literarisch interessant ist Maurice Maeterlincks enger Vergleich von Bienenstaaten und menschlichen Gesellschaften aus dem Jahr 1901[21]. Besonders hervorzuheben wegen iher Aktualität ist hier die gleichzeitig evolutionäre wie auch staatsmännische Vision des Holismus von Jan Christian Smuts, einem Staatsmann und Philosophen aus Südafrika[22]. Noch in der Tradition der Vorkriegszeit stand Teilhard de Chardins die theologisch inspirierte Vision einer Planetisation der Menschheit hin zu einem spirituellen Überwesen[23] und der Noosphäre. All diese Visionen nahmen schon viele strukturelle und funktionale (z. B. Arbeitsteilung) Ähnhlichkeiten zwischen Organismen und Kollektiven von Organismen vorweg. Sie waren oft sehr detaillierte ausgearbeitete Vorläufer der heutigen Vorstellung von Metasystemen.

7.0 Seit dem frühen 19ten Jahrhundert wurden Organismen und Gesellschaften ähnlich gedeutet wie die heutigen Metasysteme.

Es ist rückblickend seltsam, aber mit dem Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945 waren die politisch-gesellschaftlich motivierten Visionen einer evolutionären Höheretwicklung weitgehend erloschen. An deren Stelle trat mit etwas Zeitverzögerung ein neues Paradigma, nämlich das der Kybernetik, der Systemtheorie oder eines streng naturwissenschaftlicher Biologismus, später auch der Genetik und Informatik. So beschrieb der Tauchpionier und Biologe Hans Hass in seiner Energon-Theorie[24] aus dem Jahr 1970 eine enge Analogie zwischen Organismen und Unternehmen. Etwa zeitgleich entwickelte James Lovelock seine Hypothese von einem ökologischen und globalen Überwesen, das er Gaia nannt[25].

8.0 Ab den 1960er Jahren überwogen naturwissenschaftlich und systemtheoretische Herangehensweisen.

Ende der 1970er Jahre veröffentlichte der Molekularbiologe Carsten Bresch seine Vorstellung vom MONON[26], einem globalen Überwesen das als nächster Schritt der menschlichen Evolution anstünde. Im Jahr 1977 schließlich brachte der Exil-Russe Valentin Turchin den Begriff der Metasystem-Transitionen in die Diskussion ein[27]. In den frühen 1980er Jahren schließlich enstand die Metapher vom Globalen Gehirn, das der Urheber den nächsten evolutionären Sprung (next evolutionary leap) nannte[28]. Ab dann spielte die Informationstechnik die Hautprolle. Der französische Biologe Joel de Rosnay greift die Metapher vom Global Brain auf[29] und lässt den Menschen als Homo symbioticus mit Maschinen und anderen Lebensformen verschmelzen zum globalen Kybionten[30]. 1993 sieht Gregory Stock den Menschen vor allem katalysiert von wirtschaftlichen Prozessen zu Metaman verwachsen[31]. 1995 legen der Engländer John Maynard Smith und der Ungar Eörs Szathmáry ein sowohl empirisch wie auch theoretisch sehr fundiertes Werk zu evolutionären Transitionen vor[32]. In Brüssel konnte mittlerweile der Belgier Francis Heylighen die Forschungsinteressen internationaler Größen rund um die Idee einer Metasystem-Transition zusammenführen[33].

9.0 Seit der Jahrtausendwende spielt auch Künstliche Intelligenz eine zunehmend Rolle. Das Gespenst der Technologischen Singularität rückt zunehmend in den Fokus.

Im Jahr 2000 erschien dann Kazem-Sadegh Zadehs düstere Dystopie der Machina sapiens. Der Mediziner und Philosoph zeichnete das Bild einer intelligenten und bewusstsen Globalmaschine, die den Menschen letztendlich versklaven wird [34]. Im gleichen Jahr erschien auch Howard Blooms geniales und gleichermaßen zynisch anmutendes Buch über die Entwicklung sozialer Intelligenz von der Frühzeit der Erde bis zur Gegenwart, ist der Tenor seit den 2010er Jahren ein deutlich verhaltener, eher fragend geworden[38].

10.0 Vor allem Wissenschaftler aus dem Umfeld der Informatik sehen eine Metasystem-Transition kommen, die sie oft mit der Technologischen Singularität gleichsetzen.

Wir stehen heute ganz deutlich im Ungewissen. Rasanten technlogischen Fortschritt hat es schon immer gegeben. Während es früher aber immer Bereiche gab, in denen die menschliche Intelligenz denen von künstlichen Systemen haushoch überlegen war, ändert sich gerade. Unabhängig davon, ob man einer künstlichen Intelligenz Bewusstsein zugestehen will oder nicht, so so leistet Ki doch zunehmend mehr der Arbeit, für die wir als Menschen Geld ausgeben[41]. Im Flgenden möchte ich[42] ich einige der fundamentalen Erkenntnise aus dem Bereich der Metasystem-Transitionen beschreiben und rein spekulativ fragen: was würden diese Transitionen für einen möglichen nächsten Schritt der menschlichen Evolution konkrete bedeuten.

Keine Evolution ohne Population


Wer einmal in einem Großunternehmen gearbeitet hat, wird es kennen: es gibt Mitarbeiter, die "mitgezogen" werden, Vorgesetzte die ihren Posten nicht wegen Eignung sondern als Belohnung für Treue erhalten haben oder ganze Abteilungen, die aus sozialer Rücksichtnahme erhalten werden[70]. Und auch in ganzen Ländern kann man beobachten, dass Posten nach Parteilinie vergeben werden, Firmen ohne wirtschaftlichen Nutzen mit Subventionen am Leben erhalten werden oder Klientelpolitik die Stärke des Staates untergräbt. Solche Ineffizienzen können sich ausbilden, solange Unternehmen oder Staaten nicht in einem direkten Überlebenskampf mit Konkurrenten stehen. Ist ein Schwellenwert an Korruption, Inkompetenz und mächtigen Einzelinteressen überschritten, kann es zum Zerfall des Unternehmens (Konkurs) oder des Staates (Niedergang Westroms) kommen.

11.0 Ohne die vitalisierende Wirkung von Konkurrenz kommt es zu Degenerationen.

Aus diesem Grund bin ich auch skeptisch gegenüber all jenen Visionen, die einen einzelnen globalen Superorganismus voraussagen[78]. Einem solchen Organismus würde auf Dauer der Zwang zur Effizienz fehlen. Sehr wahrscheinlich würde er früher oder später von seinen eigenen Bestandteilen zersetzt werden, die in gegenseitiger Konkurrenz eine aggressive Effizienz ausbilden. Man denke hierbei beispielsweise an Banden, Warlords und Drogenkartelle, die gerade durch ihren harten Überlebenskampf zur Effizienz herangezüchtet werden[76].

12.0 Die Enstehung globaler Überorganismen ist evolutionär wenig plausibel.

Hier scheint mir ein Wort zur Moral wichtig. Die Idee, dass es ohne Konkurrenz zu Degeneration kommt, wurde - mit fatalem Ausgang - vor allem im frühen 19ten Jahrhundert betont: "Ohne den Krieg aber würden nur allzuleicht minderwertige oder verkommene Rassen die gesunden keimkräftigen Elemente überwuchern, und ein allgemeiner Niedergang müßte die Folge sein.[71]" Die Angst vor einer Degeneration durch fehlende Konkurrenz durchzog breite politische Strömungen, die letztendlich wesentlich zum Ausbruch des ersten und zweiten Weltkriegs beitrugen. Ideen, dass kollektive Effizienz und Menschlichkeit Hand in Hand gehen halte ich für naiv. Die kollektive Effizienz kommt immer nur mit dem Preis von menschlicher Härte[79], was aber nicht heißen muss, dass dies ein unumstößliches Weltprinzip sein muss[80]. Siehe dazu auch Sozialdarwinismus ↗

13.0 In einem evolutionären Umfeld, verbreiten sich die am besten angepassten Individuen.

Und es scheint so zu sein, dass Gesellschaften auf dem Weg hin zu einem Metasystem, die typisch eusozialen Gesellschaften in einem darwinistischen Sinn besonders erfolgreich sind. Eusozial nennt Tiere, die in einem sehr engen sozialen Verband leben. Typische Beispiele sind Insektenstaaten, Nacktmulle und auch Menschen. Das Konzept scheint erfolgreich zu sein: eusoziale Insekten machen zwar nur rund 2 % der Arten aus, aber bis zu 75 % der Biomasse von Insekten aus[72]. Und auch die eusozial lebenden Menschen sind als biologische Art dominant[73]. Der Pionier der Soziobiologie, Edward O. Wilson glaubt, dass Eusozialitä an sich ein Vorteil in der Evolution ist[74].

14.0 Eusozialität, ein Zwischenschritt hin zum Metasystem, ist evolutionär sehr erfolgreich.

Erreicht eine Gemeinschaft den Status der Eusozialität, und ist diese Gemeinschaft wiederum Teil eines darwinistischen Selektionsprozesess, dann stehen die Chancen gut dass sich die Eusozialität und damit die Bewegung hin zu einem Metasystem im Sinne einer darwinistischen Evolution verbreiten wird. So wurden die Vielzeller seit Ende des Kambriums die dominierende Lebensform auf der Erde. Und innerhalb der Vielzeller waren es wiederum immer wieder gesellig lebende Arten, die einen Großteil der Ressourcen für sich beanspruchen konnten, bis hin zum Menschen[77].

15.0 Eine Metasystem-Transitionen der Menschheit könnte vor allem dort einsetzen, wo gesellschaftliche Prozesse als darwinistische Evolution funktionieren.

Blickt man also auf Teile der menschlichen Gesellschaft, die man als Population darwinistisch konkurrierender Individuen ansehen kann, so hat man vielleicht gerade dort die größten Chancen, die Anfänge hin zu einer Metasystem-Transition[75]. Das folgende Kapitel betrachtet mögliche Kandidaten eines menschlichen Metasystems.

Vergangene Metasytem-Transitionen der Menschheit


Verschiedene Autoren beschreiben Metasystem-Transitionen in Verbindung mit dem Menschen. Beispiele sind die Verbindung von Banden zu Stämmen, von Häuptlingsgruppen zu Königreichen und von Staaten zu internationalen Staatengemeinschaften[3].

16.0 Verschiedenen Autoren zufolge hat die Menschheit schon verschiedene Metasystem-Transitionen durchlaufen.

Aber auch die Ausbildung von Sprache[12] oder die industrielle Revolution[15] oder der Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaftsform[2] werden als Metasystem-Transitionen diskutiert.

Die nächste HMST als zukünftige Evolution des Menschen


Nehmen wir nun an, dass die Idee wiederkehrender Metasystem-Transitionen auch die weitere Evolution der Menschheit prägen wird[16]. Wir können dann die Prinzipien, die Biologen und andere Wissenschaftler an eusozialen Tieren, an Vielzellern oder auch ersten lebenden Zellen beoachtet haben zumindest als Spekulation auf menschliche Gesellschaften übertragen.

Kandidaten für das nächste Metasystem


Banden[3], Staaten, Unternehmen, KI-Wesen oder das ganze Internet könnten die Träger der Evolution auf einer nächsthöheren Stufe der Komplexität werden. Der gegenwärtige Zustand dient dabei als Plattform, aus der heraus komplexere Individuen entstehen (previous metasystems act as structured platforms for the emergence of higher cooperation[4]). Fünf möglich Kandidaten für eine nächsthöhere Stufe der Komplexität möchte ich hier einzeln betrachten:


Szenario 1: Staaten als neue Metasysteme


Im Jahr 2024 führten die Vereinten Nationen 193 Staaten in einer Liste auf, mehr als die Anzahl von 50 um eine Inzucht bei einer evolutionären Entwicklung zu vermeiden[86]. Anders als evoluierende Organismen drängen Staaten aber nicht auf eine Vermehung sondern, wenn überhaupt, auf eine Vergrößerung ihrer Territorien. Die Verfassungen und Gesetze der Staaten können im Ansatz als eine genetische Kodierung der Merkmale aufgefasst werden[94]. Da sich Staaten aber nicht wirklich vermehren, entfällt auch die Möglichkeit einer Keimbahn. Eine starke nach innen gerichtete Kontrolle seiner Bestandteile scheint hingegen geradezu ein Wesensmerkmal von Staaten zu sein. Offensichtliche Beispiele sind das Polizei- und Steuerwesen und überhaupt jeder Apparat von Gesetzen. Auch die Arbeitsteilung ist typisch für Staaten, manche Autoren sehen in der Arbeitsteilung sogar eine fast notwendige Voraussetzung für die Entstehung echter Staatsgebilde. Ein Apoptose, eine kontrollierte Selbstbeseitigung von Teilen des Ganzen, kommt für Staaten nicht wirklich in Betracht. Weder menschliche Individuen, Unternehmen, Staatsorgane oder etwa Siedlungen beseitigen sich von selbst, wenn sie für den Staat nicht mehr nützlich erscheinen. Anders sieht es mit einer Hirnbildung, einer Zerebralisation aus. Hier genügt der Begriff des Verwaltungszentrums oder der Regierungszentrale als Andeutung[96]. Auch streng kontrollierte Systemgrenzen sind für Staaten typisch. Das betrifft nicht nur die territorialen Landesgrenzen sondern etwa auch die Zugangskontrolle an Häfen und Flughäfen, und zwar für Menschen und Güter (Zoll). Einen Wach-/Schlafzyklus kann man bei gegenwärtigen Staaten nicht ausmachen. Hier wäre es aber immerhin denkbar, dass eine saisonale Abhängigkeit von billiger und ausreichender Energie in Verbindung mit einem hohen Strombedarf von Computern zu solchen Effekten führen könnte.



Dass Staaten aber tatsächlich zu den nächsthöheren Metasystemen der Evolution werden[22] erscheint trotz zusammenfassend wenig wahrscheinlich. Insbesondere die notwendige Bedingung einer Vermehrung scheint schwer umsetzbar zu sein. Und auch die Größe der Population scheint mit weniger als 200 Individuen nicht günstig für eine kraftvolle darwinistische Evolution zu sein.

17.0 Gegenwärtige Staaten erfüllen 6 von 10 Merkmalen für evolutionsfähige Metasysteme.

Denkbar sind aber Entwicklungen, die Staaten als Kandidaten für die nächste Metasystem-Transition interessant zu machen könnten: die jetzigen größeren Territorialstaaten zerfallen in kleinere Gebilde[97], was die Größe der Population erhöhen würde. Aber schwer vorstellbar bleibt, wie Staaten sich vermehren sollten. Hier wäre es denkbar, dass Staaten vielleicht Kolonien im Weltraum bilden, etwa in Form von Weltraumhabitaten[98], die dann vielleicht gegeneinander um begrenzte Ressourcen konkurrieren. Als Anwärter für das nächsthöhere Metasystem der Evolution kommen Staaten zur Zeit eher weniger in Betracht.

Szenario 2: Siedlergemeinschaften als neue Metasysteme


In Nordamerika gibt es etwa 200 Siedlergemeinschaften der Hutterer. Die Hutterer sind eine religiöse Gemeinschaft. Ihre Wurzeln gehen bis ins 16te Jahrhundert zurück. Jede Hutterer-Gemeinschaft besteht aus bis zu 150 Personen[98]. Bemerkenswert an diesen Gemeinschaften ist, dass sie sich bei einer Bevölkerungszahl von etwa 100 Personen anfangen zu kopieren: aus den Ressourcen einer alten Siedlung wird eine neue Siedlung aufgebaut. Auch die mittelalterlichen Klostergemeinschaften, etwa der Benediktiner, führten Neugründungen durch, wenn sie überschüssige Ressourcen hatten[100]. Sie zeigten dabei enge Parallelen zu heutigen Unternehmen[101]. Auch bemerkenswert ist, dass der Aufbau und das innere Leben in Klöstern oft "genetisch" kodiert war, etwa in Form von Ordensregeln[102]. Eine weitere enge Analogie zu biologischen Metasystemen ist die Ausbildung steriler, das heißt unfruchtbarer Kasten in Form zölibatärer Mönche und Nonnen[103] sowie die Andeutung eines zellulären Flaschenhals über Polygamie bei einigen Sekten[104] oder die Ausbildung einer festen Ordensregel[115]. Dass Religionsgemeinschaften wirksame Mechanismen einer inneren Kontrolle zur Erzwingung ihrer Regeln haben, liegt auf der Hand[105].



18.0 Die Summe aller Religionsgemeinschaften erfüllt zumindest im Ansatz 9 von 10 Kriterien für evolutionsfähige Metasysteme.

Ein Grund, warum Religionsgemeinschaft nicht erkennbar auf der obersten Stufe der Komlexität als ein Metasystem der Evolution erkennbar werden könnte sein, dass sie gegenwärtig stets kontrolliert werden durch übergeordnete Träger von Macht, nämlich die Staaten. Sollten aber Staaten im Zuge politischer Umwälzungen zerfallen, könnten sie sie die Rolle des nächsten Metasystems einnehmen.

Szenario 3: Unternehmen als neue Metasysteme


Unternehmen als Teile einer Marktwirtschaft werden schon lange in Analogie zur biologischen Evolution diskutiert[43]. Für den Vergleich spricht die große Anzahl von Unternehmen im Sinne einer großen Population, die ansatzweise Vermehrung bei Kettenunternehmen (z. B. Franchising), eine oft ausgeprägte Unternehmens-DNA, eine starke innere Kontrolle (Controlling, Compliance), eine oft sehr ausgeprägte Arbeitsteilung, das Entlassen oder Kaltstellen von Mitarbeitern als eine Art Apoptose, eine oft starke Zentrale (Unternehmenszentrale, HQ, Datenzenter etc.) sowie räumliche und organisatorische Systemgrenzen sind oft sehr stark ausgeprägt.



19.0 Die Summe aller Unternehmen erfüllt ansatzweise und zum Teil sehr umfassend 8 von 10 Kriterien für evolutionsfähige Metasysteme.

Auch wenn Unternehmen von der Anzahl weniger Merkmale eines evolutionsfähigen Metasystems zeigen als religiöse Siedlungen, halte ich sie dennoch für den aussichtsreicheren Kandidaten; und zwar deshalb, weil wesentliche Merkmale wie eine große Population und eine starke Formalisierung vieler Abläufe schon sehr weit fortgeschrittene Präadaptationen hin zur biologischen Analogie sind. Siehe mehr dazu unter Evolutionsökonomik ↗

Szenario 4: Superintelligenzen als neue Metasysteme


Als künstliche Superintelligenz bezeichnet man eine Intelligenz auf der Basis von Software. Die denkerischen Fähigkeiten der Superintelligenz gehen dabei über die Fähigkeiten eines jeden einzelnen Menschen hinaus[124]. Das Konzept reicht mindestens zurück bis ins Jahr 1965[125]. Ein klassisches Beispiel aus der Science Fiction ist die Skynet-Superintelligenz aus dem Terminator-Film von 1984: eine militärische Verteidungssoftware entwickelt ein eigenes Bewusstsein und wendet sich gegen die Menschheit[126]. In der Science Fiction ist der Schlüsselmoment, an dem die Handlung kippt, oft das Ereignis, wenn die Superintelligenz erstmals Kontrolle über die Welt jenseits des eigenen Computer-Körpers erhält, dort zu lernen beginnt[128] und am Ende nach der Weltherrschaft strebt[129].

20.0 Künstliche Superintelligenzen werden als Metasystem vor allem dann interessant, wenn sie sich mit der realen Außenwelt verbinden.

Ausgangspunkt einer Population von Superintelligenzen könnten gegeneinander abgegrenzte Künstliche Intelligenzen sein, die zunehmend praktische Tätigkeiten in der "realen Welt" verrichten (Ampeln steuern, Geld verwalten, Kinder unterrichten, Psychiater ersetzen, Motoren entwickeln, Nachrichten und Werbung verfassen etc.) und in einem ökonomischen oder militärischen Umfeld gegeneinander konkurrieren. Eine solche Superintelligenz könnte durch gezieltes Design oder per Zufall Eigenschaften eines Metasystems erlangen. Das evolutive Potential würde aufgrund der hohen intellektuellen Fähigkeiten möglicherweise weit über alle mehr menschbasierten Systeme hinausgehen.



Künstliche, digitale Superintelligenzen haben das Potenzial, alle Bedingungen eines zukünftigen Metasystems erfüllen. Gegenüber allen anderen Kanditaten sind sie mit ihrer räumlich geballten Fähigkeit zu schneller Intelligenz und hoher Merkfähigkeit wahrscheinlich weit überlegen. Ein evolutionärer Durchbruch könnte dadurch enstehen, dass sich solche Superintelligenzen mit Gebilden der Außenwelt, etwa Unternehmen oder Kleinstaaten[140] verbinden und dann gegeneinander konkurrieren und darwinistisch weiter evoluieren. Siehe auch künstliche Superintelligenz ↗

Szenario 5: Das Global Brain als neues Metasystem


Die Theorie der Metasystem-Transitionen wurde unter anderem ausgearbeitet von Francis Heylighen[33]. Heylighen betrachtet ein weltweites Gehirn, das Global Brain als ein solches Metasystem. Eng mit Heylighen verbunden war der Urheber des Wortes Metasystem, Valentin Turchin. Nach Turchins Definition muss ein Metasystem keine Population von Metasystemen bilden sondern kann auch für sich alleine existieren[1]. Damit könnte das Global Brain ein Metasystem werden.

21.0 Das Global Brain kann formal ein Metasystem sein.

Was aber gegen das Global Brain als nächstes Metasytem spricht ist, dass es selbst - per Definition - ohne Konkurrenz ist und sich nicht darwinistisch optimieren kann. Damit fehlt aber auch die Kraft einer "schöpferischen Zerstörung"[142], die nämlich Ineffizienzen klein hält. Fehlt diese reinigende Kraft, so droht das System an Überlebensfähigkeit einzubüßen, eine Urangst vieler Sozialdarwinisten[143]. Wenn nun Teile eines Übergebildes durch die Kräfte der darwinisischen Evolution ständig an Durchsetzungskraft gewinnen, das Übergebilde aber diesen Kräften nicht ausgesetzt ist, so wäre es nur folgerichtig, dass die Teile das Ganze irgendwall von inner her auflösen. So gesehen könnte es zwar Tendenzen zur Ausbildung eines Global Brain geben. Aber aus der gegenseitigen Konkurrenz kleiner Einheiten wie Staaten, Unternehmen oder großer künstliche Intelligenzen würden immer wieder starke Individuen ernstehen, die das Ganze herausfordern und zersetzen. Auf das Global Brain triffen damit alle Merkmale einer Superintelligenz (siehe Kapitel oben) zu, abzüglich jedoch solcher Merkmale, die an eine Population gebunden sind.



22.0 Aufgrund des fehlenden Optimierungsdruckes durch eine darwinisische Evolution dürfte das Global Brain gegenüber kleineren Metasystemen, die aber darwinistisch evoluieren, unterlegen sein.

Was aber realistisch erscheint ist die Ausbildung mehrer auf der Erde konkurrierender lokaler Global Brains auf Basis bestehender Nationalstaaten. So bilden verschiedene Staaten digitale Grenzen um eng kontrollierte Bereiche ihres Internets aus[144], etwa Russland[145] oder China[146]. Mehr zu diesem Gedanken, siehe unter Local Brain ↗

Fußnoten


Introduction of New Species. In: published in Volume 16 (2nd Series) of the Annals and Magazine of Natural History in September 1855. Online: http://people.wku.edu/charles.smith/wallace/S020.htm
for the planet Earth". Hin zum Global Brain führt vor allem die rasante Globalisierung aufgrund des Internets: "the storage, exchange
and propagation of information across this networks provides it with a level of knowledge and capability for intelligence that far surpasses that of any individual or organization." Heylighen deutet dieses Entwicklung als eine Metasystem-Transition: "An extrapolation of these accelerating changes trends points towards a “metasystem transition” or “singularity” within the next few decades". In: Francis Heylighen: The GBI Vision: past, present and future context of global brain research. Erstmals veröffentlicht im Jahr 2013. Online: https://www.academia.edu/104885916/The_Global_Brain_Institute_Vision