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Reproduktiver Altruismus


Evolution


Basiswissen


Als Altruismus im Sinn der Evolutionsbiologie bezeichnet man jedes Verhalten von individuellen Organismen, die auf Kosten eines eigenen Nachwuchses das Wohl einer Gemeinschaft fördern[1]. In einer extremen Form verzichten Individuen dann ganz auf eigenen Nachwuchs. Diese extreme Form heißt dann reproduktiver Altruismus. Reproduktiver Altruismus gilt als ein wesentliches Merkmal hoher Sozialität und als mögliches Indiz für eine sogenannte evolutionäre Transition.

Die Volvox-Kugelalge: das klassische Beispiel


Das klassische Beispiel für einen reproduktiven Altruismus ist die Volvox-Kugelalge[2]. Diese Algenkolonien leben als kleine Kugeln mit einem Durchmesser zwischen einem Zehntel bis einen Millimeter Durchmesser. Sie gelten als klassisches Modell einer Lebensform zwischen losen Individuen und einem Organismus.

Die Volvox-Kugelalge ist ein Beispiel für den Übergangsbereich zwischen einer losen Kolonie und einem Superorganismus.

Die Zellen der Kolonie, oder genetisch eng verwandte Zellen, können oft ein Leben als eigenständige Individuen außerhalb einer Kolonie führen. Man spricht dann von einer solitären Lebensweise[3]. Gerät eine solitär lebende Algenzelle unter Stress, etwa durch Kälte, dann wird ein Gen aktiv, das die Vermehrung durch Zellteilung unterbindet. Dasselbe Gen unterdrückt dann auch die Vermehrung von sogenannten somatischen Zellen innerhalb der Zellkolonie[4]. Bei einer Art von Volvox beispielweise besteht die Kugel etwa 2000 unfruchtbaren Einzelzellen und nur 16 fruchtbaren, sich reproduzierenden Zellen[2].

Welche Lebewesen zeigen einen reproduktiven Altruismus?



Reproduktiver Altruismus und Eusozialität


Bei Tieren, die in einer engen, altruistischen Gemeinschaft leben spricht man von einer sogenannten Eusozialität[7]. Typische Merkmale sind eine gemeinschaftlich organisierte Brutpflege über mehrere Generationen hinweg, eine starke Arbeitsteilung und insbesondere die Ausbildung von Kasten aus Individuen, die sich nicht mehr eigenständig vermehren können[15].

Reproduktiver Altruismus geht eng mit Eusozialität einher.

Manche Autoren halten einen reproduktiven Altruismus für eine notwendige Bedingung von Eusozialität. Tatsächlich kommt er bei allen eusozial lebenden Wesen vor. Siehe auch auch Eusozialität ↗

Was ist der evolutionäre Vorteil des reproduktiven Altruismus?


Ein reproduktiver Altruismus kann sowohl der Gruppe als auch dem Individuum Vorteile bieten. Zuerst gilt, dass bei einem stark ausgebildeten reproduktiven Altruismus der Genotyp der gesamten Kolonie vererbt wird und nicht der Genotyp einzelner Individuen. Das kann die darwinistische Selektion auf der Ebene des Superorganismus wirken[5].

Reproduktiver Altruismus fördert die Selektion von Gruppenmerkmalen.

Ein weiterer Vorteil für die Gruppe ist, dass unfruchtbare Zellen nicht mehr in einer gegenseitigen Konkurrenz um genetische Nachkommenschaft stehen. Damit entfällt auch die Belohnung für egoistisches Verhalten und die Zellen können ohne eigenen evolutionären Nachteil für das Wohl des Superorganismus wirken[6].

Reproduktiver Altruismus befreit die Individuen vom Zwang zum Genegoismus.

Das waren nun zwei Vorteile für die Gruppe. Welchen Vorteil aber bietet der reproduktive Altruismus den Verzicht übenden Individuen? Bei der Beantwortung diese Frage kann man zwei Arten von Vorteilen unterscheiden: a) einen gen-egoistisch evolutionären Vorteil und b) einen Vorteil in der Lebensqualität.

Aus soziobiologischer, gen-eogistischer Sicht sind Individuen wie Tiere, Pflanzen oder Menschen nur Maschinen zur Verbreitung ihrer Gene[28]. Auf lange Sicht erlaubt die Evolution nur Verhaltensweisen, die der Verbreitung der sie kodierenden Gene entspricht. Nun finden sich die eigenen Gene in eigenen Kindern nur zu 50 % wieder. Aber auch die Kinder eigener Geschwister haben einen Anteil der eigenen Gene. Als eigene Gene sollen hier alle exakt zu den eigenen Genen identischen Gene aufgefasst werden. Wenn jemand nun ausreichend stark ausreichend viele genetisch eng Verwandte Menschen unterstützt, so kann diese Person auch ohne eigene Kinder einen großen Teil der eigenen Gene fördern.

Fördert man den Nachwuchs von genetisch mit einem Verwandten Personen, so fördert man damit auch die Verbreitung der eigenen Gene.

Nun könnte man die Abwägung treffen, ab wann es sich gentechnisch eher lohnt, die Kinder von engen Verwandten zu fördern als die eigenen Kinder. Das ist letztendlich eine "Rechenfrage". Tatsächlich hat man beobachtet, dass Brüder von Mönchen in China mehr eigene Kindern haben als Männer ohne Brüder in einem Kloster[16].

Ein Vorteil der nichts mit evolutionären Vorteilen zu tun hat ist, dass sich manche Menschen die mit eigenem Nachwuchs verbundene Mühe ersparen möchten. Kinderlos zu leben bedeutet für sie Lebensqualität.

Kinderlosigkeit kann auch einfach eine Entscheidung für eine bestimmte Qualität von Leben sein.

Diese kurze Betrachtung möglicher Vorteile eines reproduktiven Altruismus sollen mit einer vielleicht wichtigen Beobachtung abgeschlossen werden: der Verzicht auf eigene Nachkommen kann ganz freiwillig erfolgen, wie etwa bei Mönchen und Nonnen. Er kann aber auch das Ergebnis von Stress sein und ist damit nicht mehr ganz freiwillig. So nutzt die Volvox-Kugelalge Signale, die ein stressbezogenes Gen einer Algenzelle aktivieren, das die Zellteilung unterbindet[4]. Bei Nacktmullen ist es ein besonders erfolgreiches Weibchen, dass ihren Konkurrentinnen so viel Stress macht, dass diese dadurch vorübergehend unfruchtbar werden.

Stress fördert Unfruchtbarkeit und damit indirekt einen reproduktiven Altruismus.

Der Effekt, dass Stress die Unfruchtbarkeit einzelner Indiviuden erhöhen kann, wird auch bei Menschen beobachtet, und zwar sowohl bei Frauen[29] wie auch bei Männern[30]. Umgekehrt wird beobachtet, dass wirtschaftlich sehr erfolgreiche Frauen dann mehr Kinder bekommen, wenn sie sich Fürsorge und Beaufsichtigung der Kinder preiswert einkaufen können[32][33].

Reproduktive und sterile Kasten auch bei Menschen?


Auch menschliche Gesellschaften zeigen zumindest im Ansatz Spielarten eines reproduktiven Altruismus[7], zum Beispiel in Form von zölibatär (unverheiratet[8]) lebenden Priestern[9], Mönchen[10], orientalischen Harems[11] mit Eunuchen[12] oder auch als Homosexualität[13]. Dass diese Phänomene über lange Zeiträume und über verschiedene Kulturen hinweg stabil sein können, spricht für die Annahme, dass sie evolutionär nicht schädlich und möglicherweise sogar nützlich sind. So wird von buddhistischen Mönchen im Westen von China berichtet, dass sie selbst zwar keine Nachkommen haben, ihre Brüder aber statistisch auffällig mehr Nachkommen produzieren als Männer ohne Mönch als Bruder[10]. Die extreme Entwicklung, dass es auch in menschlichen Gesellschaften zur Ausbildung einer reproduktiven und einer sterilen, das heißt unfruchtbarken Kaste kommen könnte ist zwar bisher noch eine Spekulation. Daten aus den USA deuten aber in diese Richtung. Dort beobachtet man, dass die wachsende wirtschaftliche Ungleichheit in der Bevölkerng die Kinderzahl von wirtschaftlich besonders erfolgreichen Frauen ansteigen lässt. Gut ausgebildeten Frauen mit hohem Einkommen steht ein großes Angebot an privatwirtschaftlicher und preiswerter Beaufsichtigung ihrer Kinder (z. B. Baby-sitting) zur Verfügung. Entsprechend, so eine Studie aus dem Jahr 2011, steigt die Anzahl ihrer Kinder[33].

Reproduktiver Altruismus und die Evolution des Menschen


Verschiedene Autoren sehen den Menschen an der Schwelle zu einer sogenannten evolutionären Transition, speziell einer Metasystem-Transition. Der Grundgedanke ist, dass sich bisher individuelle Menschen zu einer Art neuem Über- oder Superorganismus verbinden. Biologischer Vorgänger einer solche Metasystem-Transition waren etwa der Übergang von Molekülen zu Zellen[18], von Zellen zu Vielzellern[19] und von Vielzellern zu Gemeinschaften[20]. Die Fortsetzung dieses Musters in die Zukunft[21] führt zu der Frage, wie die nächste Metasystem-Transformation aussehen könnte[22]. Spekulationen reichen von einer dystopisch Existenz entseelter Menschen in der Technosphäre[23] bis hin zu euphorischen Utopien[24]. Eine Gesellschaft, die einerseits einen starken reproduktiven Altruismus ausbildet und andererseits die Erzeugung von Nachkommenschaft immer mehr nur einer kleinen Elite (Superreiche?) ermöglicht, wäre ein Indiz dafür, dass sich auch menschliche Gesellschaften hin zu einer biologisch definierten Eusozialität bewegen. Spekulationen über eine mögliche Metasystem-Transition menschlicher Gesellschaften werden besprochen im Artikel HMST [Human Metasystem-Transition][25]

Quaestiones



Fußnoten