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Milieutheorie


Soziologie


Basiswissen


Der Mensch wird in seinem Verhalten ganz von seiner Umgebung, seinem Erbgut und seinem sozialen Milieu beeinflusst und nicht etwa durch einen freien Willen: diese ursprüngliche Fassung der Milieutheorie wird dem Franzosen Hippolyte Taine zugeschrieben[1], der umfangreich Biographien in dieser Richtung gedeutet hat, etwa die von Napoleon I. Heute steht der Begriff Milieutheorie jedoch einschränkend dafür, dass nur die soziale Umwelt und nicht die Gene (also das Erbmaterial) unser Verhalten beeinflussen[6]. Das ist hier kurz vorgestellt.

Thorstein Veblen: das Milieu der Reichen


Für das Amerika der Zeit um 1900 untersuchte der US-Amerikaner Thorstein Veblen die Sitten der Reichen und zeigte, wie der klassengebundene Zwang zur Demonstration von Reichtum individuelle Charakterzüge überdeckte. Für Geld arbeiten zu müssen galt als Stigma[3]. Siehe dazu den Artikel zum Veblen-Effekt ↗

Pierre Bourdieu: Milieus im Alltag


Für die Länder Algerien und Frankreich der 1960er bis 70er Jahre entwickelte der Franzose Pierre Bourdieu umfangreiche und detaillierte milieutheoretische Studien. Sie zeigen vor allem, wie sehr menschliches Verhalten und menschliche Vorlieben (Essen, Trinken, Kleidung, Wohnunseinrichtung) von ihrem jeweiligen sozialen Milieu geprägt sind[2]. Siehe dazu auch Die feinen Unterschiede ↗

Die Milieutheorie in der Marktforschung


Die kommerziell arbeitende SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH greift Kerngedanken der Mileutheorie auf und macht sie unter anderem wirtschaftlich nutzbar. Die insgesamt zehn Sinus-Milieus fassen Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu „Gruppen Gleichgesinnter“ zusammen. Im Jahr 2021 definierte das Institut für Deutschland die folgenden 10 Milieus. Die Prozentangaben stehen für den Anteil der Personen in diesem Milieu:


Das Institut wirbt unter anderem damit, dass sogenannte "Milieu-Landkarten" dabei helfen, "Produkte, Marken, Parteien, Medien" zielgruppengenau zu platzieren. Das Institut bietet dazu Expertisen, Fortbildungen und Informationsmaterial an und ist auch an internationalen Forschungsprojekten beteiligt, wie zum Beispiel: a) Auswirkungen der Corona-Pandemie auf vulnerable Gruppen, b) Auswirkungen von Narrativen und Wahrnehmungen von Europa auf Migration, c) Best Practice-Umfrageinstrumente für die Musikindustrie.

Milieus und Arbeitsteilung


Maschinenbauer kleiden sich anders als Jurastudenten. Und Physiker lachen über andere Witze als Politologen. Was zunächst nur wie eine oberflächliche Banalität aussieht hat aber einen tieferen Sinn und Zweck. In einem Buch aus dem Jahr 2004 werden die vier Hochschulfächer Physik, Biologie, Literatur und Geschichte als unterschiedliche Fachkulturen vorgestellt[8]. Dort heißt es: "Das Lernen einer Wissenschaft verlangt mehr von den Studierenden als nur das Lernen der »offiziellen Theorien« und Methoden. Denn die Identität einer Disziplin […] bildet sich nicht zueletzt durch ihre Traditionen und Brüche, ihre wissenschaftlichen Praktiken, sowie durch die moralischen Normen und Regeln des Verhaltens […]" [Seite 18]. Das macht Sinn, "Denn zu einer Wissenschaft […] werden die Forschungen erst, indem Gruppen von Forschern mit denselben paradigmatischen Modellen (und den mit diesem verbundenen Methoden und Argumentationsweisen) arbeiten, so dass ihre Ergebnisse sich letztendlich zu einer Wissenschaft verbinden [Seite 19]." Wichtig ist auch, dass "welcher Art das gesuchte Wissen ist [Seite 21]". Auch die als selbstverständlich anerkannten Kriterien von wahr und falsch unterscheiden sich in den Fächern stark: Literaturwissenschaftler würden zum Beispiel den »ästhetischen Geschmack« als Wahrheitskriterium gelten lassen, Geschichtswissenschaftler hingegen niemals. Für Physiker typisch sei das Experiment das wichtigste Wahrheitskriterium. In den Worten Pierre Bourdieus prägt der Wissenschaftler dann einen sozialen »Habitus« aus, der ihn für sein »soziales Feld« geeignet macht. Wenn Anfänger zu Mitgliedern einer Wissenschaftskultur werden, so durchlaufen sie eine Sozialisierung, ganz in Analogie zu der Differenzierung von biologischen Nerven wenn sie zu einem Teil eines Zellgewebes werden. Soziale Milieus festigen damit die gesellschaftliche Fähigkeit für eine Arbeitsteilung ↗

Milieus als gesellschaftliche Stärke


Um das Jahr 900 vor Christus blühte im wüstenhaften Südwesten der heutigen USA plötzlich die indianische Chaco-Canyon-Kultur auf. Es entstanden große Städte mit aufwändig gebauten steinernen Gebäuden sowie eine komplexe Verkehrsinfrastruktur zur Einbindung weit entfernter Siedlungen. Was löste diesen kulturen Phasenwechsel von einer Stammesgesellschaft hin zu einer komplexen Stadtgesellschaft aus? Die dort lebenden Indianer hatten schon viele Jahrhunderte vorher die Landwirtschaft eingeführt, sodass diese als allein auslösender Faktor nicht in Frage kommt. Der Komplexitätsforscher Roger Lewin vermutet, dass es die „Erfindung“ der Arbeitsteilung war[7]. Wenn sich verschiedene gesellschaftliche Gruppen auf je eine bestimmte Tätigkeit konzentrieren, steigt dadurch die Effektivität der Gesellschaft als Ganzes möglicherweise sprunghaft an. Denkbar ist dann, dass eine soziale Differenzierung in Milieus auch eine arbeitsteilige Organisation gesellschaftlicher Aufgaben (Landwirtschaft, Militär, Verwaltung etc.) fördert und somit zu einem Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Gesellschaften wird. Die Arbeitsteilung wäre dann keine Folge einer städtischen Kultur, sondern eine ihrer Ursachen. Mehr zu diesem Beispiel steht im Artikel zur Chaco-Canyon-Kultur ↗

Fußnoten