R


Chaco-Canyon-Kultur


Archäologie


Basiswissen


Im Südwesten der heutigen USA blühte in der Zeit von 900 bis 1100 nach Christus eine indianische Hochkultur auf. Die dort lebenden Menschen hatten schon lange Zeit davor den Maisanbau kultiviert und kannten auch die Töpferei. Die Frage ist, was sich um 900 nach Christus geändert hatte, dass plötzlich aus getrennt lebenden Stämmen eine komplexe städtische Lebensform entstand. Das ist hier kurz skizziert.

Landwirtschaft als Voraussetzung einer Hochkultur?


In der klassischen Archäologie betrachtet man die Einführung der Landwirtschaft oft als Auslöser für die Entstehung von komplexen Hochkulturen. Das Argument ist dabei meist, dass erst die Landwirtschaft so viel Nahrungsmittel produziert, dass eine größere Anzahl von Menschen sich anderen Tätigkeiten als dem Nahrungserwerb widmen kann. Erst mit der Landwirtschaft können Priester, Verwaltungsbeamte, Krieger, Schmiede oder Maurer im Vollzeitberuf entstehen. Und erst mit diesen stark arbeitsteilig organisierten Tätigkeiten können auch Hochkulturen aufblühen. In dieser Denkweise ist eine Landwirtschaft eine notwendige Bedingung für die Entstehung einer materiell komplexen Kulturform. Als klassisches Beispiel für diese heute zunehmend hinterfragte Sicht oft genannt wird die frühe Kultur von Sumer [etwa 3000 v. Chr.] ↗

Chaco-Canyon: eine rätselhafte Kultur im Südwesten der USA


Im Südwesten der heutigen USA, im Bundestaat Neu Mexiko, hatten die dort lebenden Indianervölker zum Teil über Jahrtausende den Maisanbau kultiviert (und auch die Töpferei erfunden), ohne dass die kleineren Stämme zu einer komplexen Kultur zusammenwuchsen. Dann - plötzlich wie aus dem Nichts - entstand zwischen 900 und 1100 nach Christus eine Hochkultur mit städtischer bis fast staatlicher Lebensform, die sogenannte Chaco-Canyon-Kultur. Die Bewohner der Region bauten größere Pueblos (Siedlungen) mit mehrstöckigen Häusern, die alle nach einem einheitlichen Muster angeordnet waren. Die Bewohner legten Zisternen und Bewässerungsanlagen an und betrieben Handel mit weit entfernten Gebieten. Von 1025 bis 1075 - in Europa die Zeit der Wikinger - verdoppelte sich die Bevölkerung im Chaco-Canyon. Der bald folgende schnelle Niedergang der Kultur wurde möglicherweise durch einen Rückgang der Regenniederschläge ausgelöst[3]. In der Wissenschaft offen ist die Frage, was den plötzlichen Aufstieg der Kultur mit der Entstehung größerer Siedlungen verursacht hatte. Geradlinige Straße verbanden bis zu rund 300 Dörfer in über 150 Kilometern Entfernung mit den zentralen Wohnsiedlungen[1, Seite 17].

Arbeitsteilung als Auslöser von Komplexität?


Der britische Wissenschaftsautor Roger Lewin (geboren 1944) sieht als Auslöser für den plötzlichen Sprung in der Komplexität die Arbeitsteilung[1]. Zwar ist die Landwirtschaft eine notwendige Voraussetzung für komplexe Gesellschaften, aber alleine noch nicht hinreichend. Die Bewohner der Region hatten schon um 1000 vor Christus den Maisanbau[1, Seite 20] eingeführt, was aber alleine nicht zu komplexeren Siedlungsformen führte. Erst wenn eine Gesellschaft Arbeitsteilung einführt, kann sie höhere Stufen der Komplexität erreichen. So wurde geschätzt, dass die Bewohner für den Hausbau rund 26 Tausend Bäume aus gut 80 Kilometer herantransportiert hatten[1, Seite 15]. Diese komplexen Leistungen, so Lewin, wurden erst möglich, als die Indianer das Prinzip der Arbeitsteilung und der Spezialiserung weiter vorantrieben[1, Seite 94]. Hier sieht Lewin eine Parallele zur biologischen Evolution: über Jahrmilliarden verharrte das Leben auf der Erde in der Phase von Einzellern oder von eher lose organisierten Verbänden wenig differenzierter Zellen. Dann, plötzlich, vor rund 543 Millionen Jahren tauchen plötzlich komplexe Tiere auf. So wie im Chaco-Canyon die Menschen ihre Arbeit effizient untereinander organisierten, so begannen die Zellen im erdgeschichtlich fernen Zeitalter des Kambriums, ihre Arbeiten innerhalb eines Organismus stärker aufzuteilen. Dadurch wurden die jeweiligen Kollektive - Gesellschaften und Mehrzeller - erheblich effizienter in der Beherrschung ihrer materiellen Umwelt. In der Biologie bezeichnet man diese Entwicklung hin zur Arbeitsteilung und die damit oft einhergehende Entstehung von Geweben als Differenzierung. In der Soziologie spricht man von Arbeitsteilung ↗

Soziale Differenzierung als Präadaptation?


Wenn Arbeitsteilung der Auslöser eines kulturellen Komplexitätssprunges war, dann kann man weiter fragen, was denn die Entstehung von Arbeitsteilung ausgelöst hat. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari (geboren 1976) bringt hier die Religion als Katalysator gesellschaftlier Höherentwicklung ins Spiel. Religionen binden Menschen auch dann an gemeinsame Werte, wenn sie sich unbeobachtet fühlen[4]. Eine Religion, die Menschen auch dort im Verhalten steuern kann, wo sie sich alleine fühlen, so Harari, kann so eine Vorstufe zu höheren Organisationsformen sein. Die soziale Kontrolle, ob jemand zum Beispiel aufgetragene Arbeiten gewissenhaft erledigt, muss dann nicht mehr selbst durch Anwesenheit kontrolliert werden. Das Gewissen, der wahre oder gedachte Gott, der alles sieht, übernimmt die Rolle des sozialen Kontrolleurs. Dieser Schritt könnte eine zuverlässige Arbeitsteilung auch dort fördern, wo keine direkte Überwachung möglich ist. Passende religiöse Vorstellungen wären dann eine vorab-Anpassung an eine spätere Entwicklung, nämlich die Arbeitsteilung. Eine solche vorab-Anpassung nennt man in der Evolutionsforschung eine Präadaptation ↗

Physikalische Phasenübergänge als Metapher


Wenn flüssiges Wasser zu Eis gefriert spricht man in der Physik und Chemie von einem sogenannten Phasenübergang. Auch die Umwandlung einer Flüssigkeit in Gas ist ein Phasenübergang. Phasenübergänge treten oft plötzlich und umfassend dann auf, wenn eine bestimmte Temperatur oder ein bestimmter Druck unter- oder überschritten werden. Man spricht hier von kritischen Punkten. Bei einer geringen Änderung der Temperatur ändert sich plötzlich der Gesamtzusand eines Systems drastisch. Kühlt man Wasser von 99 °C auf 0,1 °C ab, wird man mit dem Auge wenig Veränderung wahrnehmen. Eine weitere geringere Abkühlung von 0,1 °C auf -0,1 °C verwandelt das flüssige Wasser in festes Eis. Was, so fragt Roger Lewin, war der Auslöser, der kritische Punkt, der die indianischen Stammesgesellschaften plötzlich zu einer komplexen Hochkultur werden ließ? Kann man hier ähnliche Phänomene aus den Gesellschaftswissenschaften und der Physik tatsächlich miteinander in Beziehung bringen? Liefern solche Betrachtungen mehr als nur einprägsame Denkbilder? Mit solchen Fragen beschäftigt sich unter anderem die Komplexitätsforschung. Sie untersucht Phänomene aus so verschiedenen Fachgebieten wie der Soziologie, Linguistik, Physik, Biologie oder der Informatik und sucht nach tieferen Zusammenhängen. Ein zentraler Begriff der Komplexitätsforschung ist komplexes adaptives System ↗

Fußnoten