Hypernormalisation
Soziointegrative Degeneration
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Definition
HyperNormalisation ist der Titel einer Dokumentation der britischen BBC aus dem Jahr 2016.[1] Der Kern der Aussage ist, dass sich Menschen in undurchsichtigen oder übermächtigen komplexen Gesellschaften ganz auf ihren individuellen Alltag zurückziehen. Exemplarisch wird das am Beispiel der unter gegangenen Sowjetunion gezeigt und auch übertragen auf westliche Gesellschaften. In einem Artikel aus dem Guardian aus dem Jahr 2025 zeigt eine Zeichnung einen Mann, der seinen Dackel Gassi führt während im Hintergrund Naturkatastrophen die Welt zerstören.
Historische Beispiele
Der Rückzug des Individuums in sein kleines privates Leben oder doch zumindest in einen übersichtlichen Lebensbereich bei gleichzeitiger Preisgabe jeglichen Einflusses auf das Große und Ganze ist keine ausschließliche Erscheinung des 21ten Jahrhunderts. Hier stehen einige Beispiele, wo diese Flucht vor dem Großen, der Eskapismus, schon früher oder auf ähnliche Weise beschrieben wurde.
- 1) Der Schriftsteller Sebastian Haffner emigierte in den 1930er Jahren von Deutschland nach England. Seine scharfsinnigen Analysen der Frühzeit der NS-Diktatur beschreiben unter anderem, wie jeder Widerstand schon bald nach 1933 wirkungslos wurde. Als Reaktion darauf sei die deutsche Literatur zu politikfernen Themen aufgeblüht.[4]
- 2) 1940 klagte der englische Schriftsteller in einem längeren Essay, dass sich der amerikanische Schriftsteller Henry Miller den drängenden Themen seiner Zeit (z. B. Faschismus) verweigert und stattdessen Romane über individuell begrenzte Schicksale und Erlebnisse schreibt.[6]
- 3) Der deutsch-amerikanische Soziologe Herbert Marcuse sprach 1964 in seinem Klassiker vom Eindimensionalen Menschen[5] von einer sogenannten "Abriegelung des Politischen". Damit sind vor allem tief verinnerlichte Denk- und Sprechweisen gemeint, die wirkungsvoll das Denken hin zu einer Gestaltung der Gesellschaft unterbrinden. Siehe auch Der eindimensionale Mensch ↗
- 4) Die Abhörprotokolle der Gespräche deutscher Kriegsgefangener aus der Zeit um den Zweiten Weltkrieg zeigte, dass die deutschen Soldaten kaum interessiert waren an der geopolitischen oder weltanschaulichen Gesamtlage. Ihr Hauptinteresse, so die Autoren einer Auswertung der Protokolle[7] lag auf dem "persönlichen Nahbereich".
Verwandte Konzepte
Arbeitsteilung ↗
Doppeldenk ↗
Gruppendenk ↗
HMST ↗
Homo integratus degeneratus ↗
Intelligent Confusion ↗
Kleinbürger ↗
Kognitive Dissonanz ↗
Kompartmentalisierung ↗
Lokaloid ↗
Negativer Flynn-Effekt ↗
Pragmatismus ↗
Provinzialismus ↗
Soziointegrative Degeneration ↗
Möglicher Deutungsrahmen
Der Rückzug des Menschen in sein kleines privates Umfeld, in kleine für ihn handhabbare Gruppen, in sein Fachgebiet, sein Hobby, seine kleine Weltanschauung ist eine so verbreitete Eigenschaft von Menschen, dass sie möglicherweise eine soziobiologische Wurzel hat. Verschiedene Autoren halten es für plausibel, dass es im Zuge der Evolution über die Jahrhunderte von Millionen immer wiederkehrend den Vorgang gibt, dass einzelne Individuen zu einem größeren Überorganismus verschmelzen: Zellen verbinden sich zu Pflanzen und Tieren, Tiere verbinden sich zu Schwärmen und so weiter. In der Anwendung auf den Menschen spricht man auch von einer Human Metasystem-Transition, eines Übergangs der Menschen in eine nächsthöhere, kollektive Lebensform. In diesem spekulativen Rahmen gibt der einzelne Mensch den Anspruch einer Deutung des Großen auf und entwickelt eine angepasste Mentalität, in der er sich von äußeren Reizen führen lässt und sein Glück und seine Erfüllung im kleinen Privaten sucht. [8] Siehe mehr dazu unter HMST ↗
Fußnoten
- [1] HyperNormalisation: Dokumentarfilm der BBC aus dem Jahr 2016. Regie: Adam Curtis. Länge: 166 Minuten.
- [2] Adrienne Matei: Systems are crumbling - but daily life continues. The dissonance is real. The Guardian. Online. 22. Mai 2025. Der Artikel beschreibt das Nebeneinander einer in Krisen zerfallenden Weltordnung mit existentiellen Bedrohungen und den alltäglich gelebten Banalitäten. Die Kernaussage des Artikels wird in dem Zitat "t’s reading an article about hunger and genocide, only to scroll down to a quiz about: ‘What Pop-Tart are you? von Rahaf Harfoush auf den Punkt gebracht. Die kognitive Dissonanz, die durch eine Art orwellschen Doppeldenks beiseite gedrängt werden wird mit den Überlegunge einer fiktiven Frau anlässlich ihrer bevorstehenden Hochzeit nachvollziehbar: "It’s hard to compartmentalize “constant cruelty, things that don’t make sense”, she says. “Sometimes I’ll be like: ‘I have to put aside X amount of money for the wedding next year,’ and then I’m like: ‘Will this country exist as we know it next year?’ Wesentlich für diesen geistigen Prozess scheint es zu sein, dass man widerstreitende Gedanken in sauber und dicht voneinander getrennten Bereichen im Kopf aufbewahren und denken kann. Siehe dazu auch Kompartmentalisierung (Psychologie) ↗
- [3] Gemeint ist Gunter Heim ↗
- [4] Ich erinnere mich nicht mehr, in welchem seiner Bücher Sebastian Haffner das Aufblühen deutscher Banal-Literatur in den 1930er Jahren erwähnte. Es war vielleicht "Erinnerungen eines Deutschen".
- [5] Herbert Marcuse: One-Dimensional Man: Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society. Beacon Press, Boston 1964. Deutsch: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Übersetzt von Alfred Schmidt. Luchterhand, Neuwied 1967, 4. Auflage. Deutscher Taschenbuchverlag, dtv wissenschaft, München 2004. ISBN 3-423-34084-3. Siehe auch Der eindimensionale Mensch ↗
- [6] Orwell, George. Inside the Whale and Other Essays. London: Victor Gollancz Ltd, 1940. Dort speziell das Essay: The Tropic of Cancer.
- [7] Sönke Neitzel, Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. S. Fischer, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-10-089434-2.
- [8] Literarisch ist genau dieser Rückzug ins Private die Empfehlung Goethes, die er den Lesern seines Faust geben will. Während zunächst in Faust Teil 1 der Titelheld bemüht ist, die Welt im Ganzen zu verstehen (zwar weiß ich viel, doch will ich alles wissen), muss er nach und nach erkennen, dass er damit scheitert. In Faust Teil 2 wird der Held dann mit der Suche nach seinem Glück im Privaten versöhnt.