Gesunder Menschenverstand
Physik
Grundidee
Als gesunden Menschenverstand oder auch Intuition, im Englischen als common sense bezeichnet man eine hypothetische Denkweise, mit der man Wahrheiten oder Sachverhalte ohne großen Denk- oder Prüfaufwand als richtig oder falsch erkennen kann. Das Vertrauen in den gesunden Menschenverstand kann aber zu falschen Schlüssen führen. Dazu stehen hier einige Beispiele.
Alles hat einen Grund
Wenn aus heiterem Himmel ein Gewitter entsteht, muss es dafür genauso einen Grund gegeben haben wie für eine Inflation oder einen Volksaufstand: die Idee, dass nichts von alleine passiert, alles einen Grund oder eine Ursache hat ist dem menschlichen Denken tief eingeprägt. Aber schon der Philosoph Immanuel Kant (1724 bis 1804) wies darauf hin, dass dies vielleicht nur eine Angewohnheit unseres Denkens sein könnte als eine Forderung an die Wirklichkeit.
Positiver Test auf Super-AIDS heißt Super-AIDS
Angenommen ein Test für eine hypothetische Erkrankung an Super-AIDS zeigt in 0,01 % der Fälle eine Infizierung an, obwohl sie gar nicht vorliegt. Wenn man nun selbst positiv getestet wurde, dann hat man dem gesunden Menschenverstand zufolge auch eine hohe Wahrscheinlickeit, auch tastsächlich Super-AIDS zu haben. Tastsächlich kann aber die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung trotz eines positiven Tests bei 0,0 % liegen. Das Beispiel ist ein Klassiker der Statistik. Unter welchen - durchaus realistischen - Umständen ein positiver Test mit nur sehr geringer Wahrscheinlichkeit auch eine Erkrankung anzeigt ist erklärt im Artikel zum sogenannten False positive Paradoxon ↗
Die Erde muss flach sein
Dass die Erde keine Kugel ist[3] sondern flach sein muss, leuchtet ein, denn: wie kann es sein, dass die Menschen auf der Gegenseit der Erde, die sogenannten Antipoden, dann nicht mit dem Kopf nach unten herumlaufen oder sogar von der Erde herunterfallen? In den 1840er Jahren erlangten die vermeintlichen Beweise des Engländers Rowbotham, dass die Erde flach sei, große öffentliche Zustimmung[4]. Er argumentierte zum Beispiel damit, dass der Horizont - wie man leicht selbst nachprüfen könne - immer eine gerade Linie sei und niemals - wie es bei einer kugeligen Erde der Fall sein müsste - gebogen. Schiffe, die von links nach rechts am Horizont entlang fahren, tun dies nachweislich entlang einer Geraden, so der Autor. Dem gesunden Menschenverstand zufolge könne die Erde damit keine Kugel sein. Und auch in Deutschland sei um 1860 in vielen Teilen der Bevölkerung die Idee einer flachen Erde noch verbreitet gewesen[5]. Siehe mehr dazu unter Flacherde ↗
Eine Kugel ist eine Kugel
Eine wirklich perfekte Kugel herzustellen ist nahezu unmöglich. Immer gibt es irgendwo Atome, die nicht ganz mitmachen wollen. Aber für alle technischen Anforderungen kann man heute nahezu perfekte Kugeln machen. Mit einem Haken: was für uns eine (fast) perfekte Kugel wäre, ist für einen Beobachter, der sich mit zum Beispiel 98 % der Lichtgeschwindigkeit von uns wegbewegt ein deutlich ausgeprägter Ellipsoid. Wie sehr Einsteins Relativitästheorie dem gesunden Menschenverstand, dem englischen Commonsense, widerspricht, betonte unter anderem der Astrophysiker Arthur Stanley Eddington.[10]
Dickeres Glas schluckt mehr Licht
Wenn man Glas dicker macht, sollte es weniger Licht durchlassen. Das erscheint dem gesunden Menschenverstand einleuchtend, muss das Licht bei dickerem Glas doch auch mehr Materie durchdringen als bei dünnen. Tatsächlich aber kann man Glas dicker machen und bei sonst gleichen Umständen kommt gerade dadurch wieder sehr viel mehr Licht durch das entsprechende Stück. Dies ist eines der vielen Beispiele des Physiker Richard Feynman an denen er die Absurdidität der Quantenphysik deutlich macht. Feynman nennt die Versuchsergebnisse "absurd[1, Seite 30]", keine passende Theorie sei "vernünftig[6]" sondern widerspräche "gesunden Menschenverstand[1, Seite 30]". Siehe auch Glasparadoxon ↗
CO2-Abgase können unmöglich einen Klimawandel herbeiführen
Wenn die Menge an menschgemachtem Kohlendioxid in der Atmosphäre nur 1,2 Prozent von 0,037 % beträgt, dann kann man nicht wirklich von einem von Menschen gemachtem Klimawandel sprechen. Auf einem Vortrag aus dem Jahr 2009 präsentierte der Klimawandelleugnter Hartmut Bachmann seinen Zuhörern derart ausgewählte Aussagen, dass deren gesunder Menschenverstand daraus nur folgern konnte, dass die Idee eines von Menschen gemachten Klimawandels eine große Lüge sein muss. Siehe mehr unter Hartmut Bachmanns CO2-Aussage ↗
Fußnoten
- [1] Dieses Glasparadoxon ist eines von vielen Beispielen des Physikers und Nobelpreisträgers Richard Feynman (1918 bis 1988), mit denen er die Zuverlässigkeit des gesunden Menschenverstandes anzweifelte: "Wir Physiker müssen uns mit diesem Problem herumschlagen, daß es nicht darauf ankommt, ob uns eine Theorie paßt oder nicht. Sondern darauf ob die Theorie Vorhersagen erlaubt, die mit dem Experiment übereinstimmen. Es geht nicht darum, ob eine Theorie philosophisch bestrickend oder leicht zu verstehen ist oder dem gesunden Menschenverstand von A bis Z einleuchtet. Die Natur, wie sie die Quantenelektrodynamik beschreibt, erscheint dem gesunden Menschenverstand absurd. Dennoch decken sich Theorie und Experiment. Und so hoffe ich, daß Sie die Natur akzeptieren können, wie sie ist - absurd." In: QED: Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie. Piper Verlag. 1. Auflage 1992. ISBN: 3-492-21562-9. Siehe auch QED (Feynman) ↗
- [2] Der Klimawnadelleugner Hartmut Bachmann argumentierte im Jahr 2009, "die Luft hat null-komma-null-siebenunddreißig Prozent an CO₂, ein minimaler Anteil, von dem 1,2 Prozent technisch […] zugefügt worden ist". Hartmanns Vortrag war rhetorisch so angelegt, dass der gesunde Menschenverstand seiner Zuhörer die ausgewählten und oft unpräzisen Aussagen leicht zu dem Schluss verbinden konnten, dass die Idee eines menschgemachten Klimawandels ein großer Betrug sein muss. Siehe mehr dazu unter Hartmut Bachmanns CO2-Aussage ↗
- [3] Bereits im 6ten einen historischen Abriss aus Sicht der Wissenschaft gibt Volker Bialas. In: Jürgen Teichmann: Wandel des Weltbildes. Astronomie, Physik und Meßtechnik in der Kulturgeschichte. Mit Beiträgen von Volker Bialas und Felix Schmeidler. Herausgegeben vom Deutschen Museum in München, über die Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt. 1983. Dort vor allem das Kapitel 4 "Die Erde als Kugel - Rotation und Schwerkraft", Seite 117 bis Seite 164. Siehe auch Erdkugel ↗
- [4] Samuel Rowbotham: Zetetic astronomy. Earth not a globe! an experimental inquiry into the true figure of the earth, proving it a plane without axial or orbital motion. London. 1865. Siehe auch Flacherde (Rowbotham) ↗
- [5] Ludwig Strackerjan: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. Erstveröffentlichung im Jahr 1867. Das Zitat stammt aus Band 2, Oldenburg 1909, S. 103. Online: http://www.zeno.org/nid/20005740843
- [6] Keine vernünftige Theorie können die partielle Reflexion von Licht an Glas erklären, so der Physiker Richard Feynman (1918 bis 1988). Sollten wir es dennoch probieren, fürchtete er, dass "wir verrückt würden, wollten wir an der 'Löcherthese' - oder irgeneiner anderen vernünftigen Theorie festhalten!" In: Richard Feynman: QED: Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie. Piper Verlag. 1. Auflage 1992. ISBN: 3-492-21562-9. Dort die Seiten 28 und 29. Siehe dazu zum auch Beispiel Rutherfordsches Glasparadoxon ↗
- [7] Kant (1724 bis 1804) ging von sogenannten Kategorien des Denkens aus, Schemata, die überhaupt erst die Grundlage des Denkens bilden. Dass alles was passiert eine Ursache haben muss war eine solche Denkkategorie ↗
- [8] Dass der Fluss der Zeit auch rückwärts laufen kann, das lässt der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman (1918 bis 1988) am Beispiel der Streuungvon Photonen an Elektronen offen. Er beschreibt eine "befremdliche, aber reale Möglichkeit", nämlich "ein Elektron emittiert ein Photon, eilt in der Zeit zurück, um ein Photon zu absorbieren und setzt dann seinen Weg in der Zeit vorwärts fort". In: Richard Feynman: QED: Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie. Piper Verlag. 1. Auflage 1992. ISBN: 3-492-21562-9. Dort, zusammen mit einer Skizze, auf Seite 114, und dann noch einmal ausführlicher auf Seite 116. Siehe auch Zeitreise ↗
- [9] Dass der gesunde Menschenverstand, der englische commons sense, nur das Schnarchen eines Dämmerzustandes sei, beschrieb kurz und prägnant der US-amerikanische Gesellschaftskritiker Henry David Thoreau (1817 bis 1862). In einem berühmten Zitat setzt er den gesunden Menschenverstand quasi gleich mit einer Gehirnfäule (brain-rot): "Why level downward to our dullest perception always, and praise that as common sense? The commonest sense is the sense of men asleep, which they express by snoring. Sometimes we are inclined to class those who are once-and-a-half-witted with the half-witted, because we appreciate only a third part of their wit. Some would find fault with the morning-red, if they ever got up early enough. “They pretend,” as I hear, “that the verses of Kabir have four different senses; illusion, spirit, intellect, and the exoteric doctrine of the Vedas;” but in this part of the world it is considered a ground for complaint if a man’s writings admit of more than one interpretation. While England endeavors to cure the potato-rot, will not any endeavor to cure the brain-rot, which prevails so much more widely and fatally?" In: Henry David Thoreau. Walden. 1854. Die Idee, dass der gegenwärtige Mensch in einem Vorstadium des Erwachens verweilt, findet sich als roter Faden auch in den Werken des englischen Philosophen William Olaf Stapeldon, etwa in seinem stark autobiographischen Roman "A Man Divided", wo der Held der Geschichte eine geteilte Persönlichkeit hat, die auf tragische Weise zwischen einem erwachten und einem dumpfen Zusand wechselt. Der dumpe Zustand entspricht dabei der Mentalität üblicher normaler Menschen.
- [10] Wie sehr der gesunde Menschenverstand an der physikalischen Realität vorbeigehen kann, zeigt in mehreren Absätze der englische Astrophysiker Arthur Stanley Eddington. Hier ist der Anfang seiner Ausführung: "Before going further I must answer the critic who objects in the name of commonsense. Space—his space—is so vivid to him. "This object is obviously here; that object is just there. I know it; and I am not going to be shaken by any amount of scientific obscurantism about contraction of measuring rods." In: Arthur Stanley Eddington: The Nature of the Physical World. MacMillan, 1928 (Gifford Lectures). Dort auf Seite 16. Deutsch: Die Natur der physikalischen Welt. Die Gifford Vorlesungen 1927 in Deutsch. Worauf Eddington hier anspielt ist eine von mehreren Konsequenzen von Einsteins Relativitätstheorie, mit der er sehr vertraut war, nämlich die sogenannte Längenkontraktion ↗