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Rutherfordsches Glasparadoxon


Physik


Basiswissen


Wäre Glas im Rutherfordschen Atommodell durchsichtig? Diese Frage wird hier quantitativ (rechnerisch) betrachtet. Die Ergebnisse decken sich in etwa mit realistischen Literaturangaben, das zugrundeliegende Modell muss aber falsch sein. Licht ist entweder kein klassisches Teilchen, oder seine Bewegung folgt nicht den Gesetzen der Strahlenoptik.

Zur Namengebung des Paradoxons


Die Bezeichnung nach dem Physiker Rutherford geht nicht auf diesen selbst zurück. Rutherford selbst hat diesen Gedanken, der hier entwickelt wird, selbst nicht gedacht. Sein Goldfolienversuch hat jedoch die Idee in die Welt gebracht, dass der Atomkern ein festes Etwas mit einer elektrisch positiven Ladung ist. Fliegen kleine Alphateilchen, die ebenfalls elektrisch positiv geladen sind in seiner Nähe vorbeit, so werden sie in ihrer Richtung stark abgenkt. Treffen die Alphateilchen direkt auf den Atomkern, prallen sie von ihm ab. Siehe auch Rutherfordscher Goldfolienversuch ↗

Rutherfords Atommodell


Im Rutherfordschen Atommodell besteht Materie aus kleinsten Atomkernen, die in großen Abständen zueinander angeordnet sind[1]. Zwischen den Atomkernen ist leerer Raum. Für dieses Modell wird hier beispielhaft die Wahrscheinlichkeit berechnet, mit dem ein klassisch gedachtes Lichtteilchen einen Glaszylinder der Länge nach ungestört durchfliegen würde. Die Ergebnisse sind erstaunlich realistisch, das Modell kann aber dennoch nicht stimmen. Siehe auch Rutherfordsches Atommodell ↗

Das Lichtteilchen


Das Licht wird hier als unendlich klein gedachtes Kügelchen modelliert. Das Lichtkügelchen fliegt auf einer geraden Bahn. Trifft es auf einen Atomkern, gilt sein Flug als gestört. Solange es nicht auf einen Atomkern trifft, gilt sein Flug als ungestört. Siehe auch Licht als Teilchen ↗

Der Glaszylinder


Für das Rechenmodell wird ein Glaszylinder mit einem Radius von einem tausendstel Millimeter (0,0001 cm) angenommen. Je kleiner der Glaszylinder gedacht wird, desto geringer fallen im späteren Rechengang die notwendigen Exponenten aus, was für viele Computerprogramme die Berechnung überhaupt erst möglich macht. Es wird angenommen, dass das Lichtteilchen unter einem Winkel von 90° Grad, also senkrecht, auf die kreisförmige Deckfläche des Zylinders auftrifft. Es soll so lange auf einer gerade Bahn weiterfliegen, wie es nicht auf einen Atomkern trifft. Die Höhe des Zylinders sei H, sein Radius R.[2]

Glas als Materie


Glas zeigt als amorphes Material keine regelmäßige Kristallstruktur der Atome. Die Atome werden oft in kettenartigen Strukturen dargestellt. Im Modell soll der Ort eines einzelnen Atoms m Glaszylinder als völlig zufällig angenommen werden. Das Glas wird ferner idealisiert als gäbe es außer Silizium (Si) und Sauerstoff (0) keine weiteren Atomarten. Der Atomkerndurchmesser von Silizium liegt bei etwa 0,7·10^(-14) Meter und der von Sauerstoff bei etwa 0,6·10^(-14) Meter. Zur weiteren Berechnung wird vereinfachend angenommen, als bestünde Glas nur aus den kleineren Sauerstoffatomen. Der damit gemachte Fehler geht in Richtung einer zu hohen Durchgangswahrscheinlichkeit für das Lichtteilchen. Für die Berechnung wichtig ist weiter die Anzahl von Atomen in dem betrachteten Glaszylinder. Diese kann über die molare Masse von Siliziumdioxid bestimmt werden. In Glas kommen auf jedes Silizium-Atom zwei Sauerstoffatome. Eine solche Verbindung von Si02 hat eine molare Masse von rund 60 Gramm pro Mol. Der Kehrwert davon gibt an, wie viele Mol (Anzahl SiO2-Teilchen) pro Gramm vorhanden sind. Das Dreifache dieser Anzahl gibt die tatsächliche Anzahl von Atomen pro Mol insgesamt. Ferner muss die Diche von Glas berücksichtigt werden: Wie viele Gramm Masse kommen auf einen Kubikzentimeter? Die Dichte rho von Glas schwankt zwischen 3 g/cm³ bis zu gut 6 g/cm³. Es wird hier vereinfachend eine Dichte von 3 g/cm³ angenommen.

Rechenannahmen



Die Kollisionswahrscheinlichkeit p


Nimmt man an, dass die Atome völlig zufällig im Glaszylinder angeordnet sind, dann entspricht die Wahrscheinlichkeit einer Kollision des Lichtteilchen mit einem bestimmen einzelnen Atomkern dem Anteil der Querschnittsfläche des Atomkerns an der Querschnittsfläche des Glaszylinders. Theoretisch müsste man am Rand des Zylinders gedanklich abgeschnittene Atomkerne betrachten, die sich nur mit einem Teil ihres Querschnittes im Glaszylinder befinden. Der Anteil solcher Randtome an der Gesamtanzahl der Atome in einem realen Glas ist aber verschwindend gering, sodass diese Sonderbetrachtung hier vernachlässigt wird. Eine Atomkernquerschnittsfläche berechnet sich dann zu pi·r², der Querschnitt des Glaszylinders ist pi·R². Das Verhältnis ergibt nach dem Kürzen von pi den Term r²/R² beziehungsweise (r/R)². Dieser Term steht für die Wahrscheinlichkeit p, dass ein Lichtteilchen beim Durchfliegen des Glaszylinders auf einen bestimmtem einzelnen Atomkern trifft.

Die Durchflugwahrscheinlichkeit q


Die Wahrscheinlichkeit q, dass ein Lichtteilchen NICHT mit einem bestimmten einzelnen Atomkern kollidiert ist das Gegenereignis von p. Es gilt also q=1-p. Mit dem Term für die Kollisionswahrscheinlichkeit p von oben ergibt sich für die Wahrscheinlichkeit eines ungestörten Durchfluges bei nur einem einzelnen Atom im Glaszylinder: q = 1-(r/R)².

Durchflugwahrscheinlichkeit Q


Betrachtet man jetzt nicht nur ein Atom im Glaszylinder, sondern eine Anzahl von n Atomen, dann ergibt sich die Wahrscheinlichkeit Q für einen ungestörten Durchflug bei n Atomen im Glaszylinder über: Q=q^n. Man kann sich den Durchflug mit mehreren Atomen als n-stufiges Zufallsexperiment vorstellen. Jede Stufe entspricht dabei einem Atom, für das es eine Wahrscheinlichkeit p der Kollision und eine Wahrscheinlichkeit q der nicht-Kollision gibt. Es entsteht ein dichotomes Baumdiagramm, also eines, bei dem sich die Äste immer wieder halbieren. Für einen ungestörten Durchflug muss man sich stehts entlang der Äste für den ungestörten Flug bewegen. Nach der Pfadregel entsteht damit eine Malkette mit dem Faktor q und der Länge q als Ausgangswahrscheinlichkeit Q für einen vollständig ungestörten Durchflug bei n Atomen: Q = q^n

Die Glasdicke


Die Anzahl n der Atome in dem Glaszylinder hängt proportional ab von der Höhe H des Glaszylinders. In den Zusammenhang von Glasdicke H und Teilchenzahl n fließen ein, die molare Massen, die Dichte von Glas rho, die Avogadro-Konstante N und der Radius des Zylinders R:


Mit



Legende



Näherungsrechnung


Der Funktionsterm für Q ist aufgrund der hohen Exponenten für gegenwärtige Rechenprogramme nicht berechnbar. Eine grobe Abschätzung ist aber trotzdem möglich. Die ursprüngliche Frage war: wie groß ist die Wahrscheinlichkeit Q, dass ein Lichtteilchen ungestört durch einen Glaszylinder der Höhe H durchfliegen kann? Die Höhe H steht für die Glasdicke. Um zunächst mit kleineren Exponenten zu rechnen kann, man wie folgt vorgehen: Man setzt in die Formel Q=[1-(r/R)²]^n solange Werte für n ein, wie es das verwendete Rechenprogramm erlaubt. Die entsprechenden Ergebnisse für n kann man dann umrechnen auf eine bestimmte Zylinderhöhe H. Bei der konkreten Berechnung wird das Rechengesetz von "Potenzen von Potenzen" benutzt: (2^n)^m = 2^(n·m). Indem man das Gesetz rückwärts anwendet kann man Terme mit einzelnen hohen Potenzen in handhabbare Zwischenterme aufspalten. Man kommt zu folgenden Durchflugwahrscheinlichkeiten:


Kritische Glasdicke


Nach der modellhaften Annahme von kugelförmigen Atomkernen im Rutherfordschen Sinn und geradlinig fliegenden Lichtteilchen ergibt sich bei einer Anzahl von etwa 10 hoch 18 Atomen im Glaszylinder mit einem Radius von 0,001 Millimetern eine Wahrscheinlichkeit von nahezu 0, dass ein Lichtteilchen ungestört das Glas passiert. Die Störung müsste sich auf eine von zwei Weisen oder als Kombination davon auswirken: das Licht wird von der Materie absorbiert, das Glas wäre dann völlig lichtundurchlässig. Oder aber die Lichtteilchen werden gestreut, das Glas müsste milchig erscheinen. Die Frage ist nun, welcher Glasdicke die Teilchenzahl n von 10 hoch 18 entspricht. Das kann über den Zusammenhang n = pi·R²·H·rho·N·M berechnet werden. Umstellen nach H ergibt:


Ergebnisse


Auf diese Weise kann nun die Glasdicke für verschiedene Werte von n berechnet und mit der Wahrscheinlichkeit für einen ungestörten Lichtdurchgang Q verbunden werden. Die folgende Tabelle zeigt das Ergebnis:


Plausibilität des Atomkernmodells


Die Glasscheiben des Space-Shuttle-Raumtransporters zählen mit einer Dicke von 1,3 Zoll (etwa 3,3 cm) zu den dicksten durchsichtigen Gläsern, die für praktische Zwecke hergestellt wurden. Die hier berechnete Lichtdurchlässigkeit von etwa 88 % erscheint sehr realistisch. Die Technologie-Firma Shimadzu (Kyoto, Japan) gibt an, dass Transmissivitäts-Experimente mit klarem Glas einer Dicke von 0,5 cm einen Durchgang von etwa 80 bis 90 % von sichtbarem Licht ergaben. Auch das liegt in der Größenordnung der Ergebnisse oben.

Problem 1: das Papier-Licht-Paradoxon


Das Ergebnis der Betrachtung oben mag auf den ersten Blick realistisch erscheinen: 3 mm dickes Glas ist völlig klar und durchsichtig, dreieinhalb Meter Glas blocken oder streuen Licht fast vollständig. Es gibt nun aber viele Stoffe mit einer ähnlichen Anzahl von Atomkernen pro Kubikzentimer wie Glas: Kunststoffe, Holz oder Leichtmetalle. Sie würden über die obigen modellhaften Annahmen bei Dicken bis einige Zentimeter als weitehend lichtdurchlässig erscheinen, was sie aber nicht sind. Dies ist der offensichtlichste Einwand. Lichtundurchlässige Stoffe nennt man opak ↗

Problem 2: Feynmans Glasdicken-Paradoxon


Weniger bekannt ist der Effekt, dass in bestimmten Bereichen die Lichtdurchlässigkeit von Glas mit zunehmender Dicke steigt. Der Physiker Richard Feynman hat dies in seinem Buch "QED: die seltsame Theorie des Lichts und der Materie" als Ausgangspunkt für seine Hinführung zur Idee der Quantenpfade benutzt. Es kann festgehalten werden, dass der Durchgang von Licht durch Materie trotz einer scheinbaren Plausibilität nicht durch ein einfaches Teilchenmodell im Rutherfordschen Sinn von undurchdringbaren Atomkernen modelliert werden kann.

Lösungsidee 1: Atomkerne sind nicht undurchdringbar


Das oben geschilderte Problem könnte gelöst werden, wenn man die Atomkerne nicht als undurchdringbar für Licht annimmt. Man muss sich dann aber bewusst machen, dass man damit eine der Grundannahmen klassisch gedachter Materie fallen lässt, nämlich gerade diese, dass sie undurchdringbar ist. In der Quantenphysik findet diese Lösung ihren Ausruck in dem Begriff des Wirkungsquerschnittes: ein Teilchen hat nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit, mit einem anderen Teilchen in irgendeine Art der Wechselwirkung zu treten. Diese Wahrscheinlichkeit ist auch bei einer gedachten Durchdringung beider Teilchen nicht immer gleich Null. Siehe dazu auch Wirkungsquerschnitt ↗

Lösungsidee 2: Lichtteilchen fliegen auf Schlängellinien


Eine zweite Lösungsmöglichkeit wäre es, dass die hypothetischen Lichtteilchen nicht zwingend auf geraden Bahnen fliegen müssen. Dass Licht möglicherweise nicht auf geraden Bahnen fliegt, zog auch der Physiker David Bohm in Erwägung. Damit verlässt man die Kernidee der Strahlenoptik. Die hypothetischen Lichtteilchen könnten würden auf irgendeine Weise mit den Atomkernen wechselwirken, sodass sie diese umfliegen. Dabei aber würde sich die Wegstrecke verlängern. Tatsächlich verlangsamt sich Licht beim Durchgang durch Materie. In sogenanntem Kronglass breitet sich Licht mit nur 186000 km/s aus, gegenüber den sonst bekannten 300000 km/s im Vakuum. Siehe auch Lichtgeschwindigkeiten ↗

Lösungsidee 3: Licht besteht aus Wellen


Die dritte Lösungsidee beruht darauf, dass Licht nicht aus kleinen Teilchen, den sogenannten Photonen besteht, sondern im Wesentlichen Wellencharakter hat. Eine Wasserwelle kann sich problemlos um ein Hindernis herum ausbreiten. In einem Hafenbecken kann man beobachten, wie eine Welle, die zunächst auf einen Pfahl im Wasser zuläuft, nach dem Erreichen des Pfahls auch direkt hinter dem Pfahl weiterläuft. Es gibt keinerlei "Wellenschatten". Eine Welle, die auf einen Strand zuläuft, würde in Analogie zum Versuch oben auch dann am Strand ankommen, wenn sie eine Anordnung von Pfählen durchwandern müsste, die keine direkte Sichtverbindung vom Auftreffpunkt auf der Seeseite bis hin zum Strand frei ließe. Dieses Modell liegt den heutigen in der Quantenphysik und der Wellenoptik verwendeten Modellen zugrunde. Siehe auch Licht als Welle ↗

Fußnoten