Berechenbarkeit
Mathematische Philosophie
Basiswissen
Der englische Mathematiker Roger Penrose entwickelte in seinem Buch „Computerdenken“ die These, dass Bewusstsein an Fragestellungen mitwirkt, die für rein materielle Systeme (z. B. Computer) nicht berechenbar sind. Penrose definiert berechenbar darüber, dass es eine Formel oder einen Algorithmus gibt, der Abläufe in der Wirklichkeit in einer endlichen Zeit vorausberechnen kann, ohne dass dazu der Ablauf der Wirklichkeit selbst stattfinden muss.
Was ist Berechenbarkeit im Sinne von Penrose?
Ein Prozess, Vorgang oder sonst etwas sich in der Zeit Änderndes ist Roger Penrose zufolge genau dann berechenbar, wenn es eine Formel oder einen Algorithmus[7] gibt, mit dem man einen zukünftigen Zustand exakt mit einer endlichen (nicht unendlichen) Anzahl von Rechenschritten voraussagen kann. Das klassische Beispiel aus der Physik ist der Freie Fall[8]. Mit Hilfe einer einfachen Formel kann man mit wenigen Rechenschritten genau vorausberechnen, wo sich ein fallender Körper zu welcher Zeit befindet. Siehe zu diesem Beispiel auch Freier Fall ↗
Ist alles in der Mathematik berechnenbar im Sinne von Penrose?
Nein, das klassische Beispiel ist der genaue Wert der Kreiszahl Pi. Man kann sie immer genauer bestimmen. Mit Dezimalzahlen oder auch Brüchen kann man den exakten Wert mit einer endlichen Anzahl von Schritten aber niemals genau angeben. Pi ist damit nicht berechenbar. Ein Beispiel aus der höheren Mathematik ist das Integral (die Stammfunktion) von e hoch x². Es ist keine Formel bekannt, mit der man den exakten Wert für das bestimmte Integral für diesen Term berechnen kann. Stattdessen muss man Näherungsverfahren benutzen, zum Beispiel eine sogenannte Taylor-Reihe. Siehe dazu auch den Artikel zu e hoch x² aufleiten ↗
Ist alles in der Physik berechenbar im Sinne von Penrose?
Nein, aber man dachte lange, dass sie es wäre. So lobte im 19ten Jahrhundert der schwedische König Oskar II einen Preis aus. Wer die ewige Stabilität der Erdbahn beweisen könne, solle den Preis erhalten. Tatsächlich fanden Wissenschaftler wie zum Beispiel der französische Mathematik Henri Poincare (1854 bis 1912) heraus, dass die Bahn der Erde um die Sonne in gewissen Grenzen sehr stabil ist. Man fand aber auch heraus, dass der Einfluss der äußeren Planeten, insbesondere des Mars, zu kleinen Schwankungen in der Erdbahn führt. Bis auf 4 Millionen Jahre in die Zukunft könne man die Positionen der Erde sehr genau vorhersagen. Bis dahin wäre die Bahn also recht gut berechenar. Ab dann aber führt der Einfluss der anderen Planeten zu Unbestimmtheiten, die man mathematisch nicht auflösen könne. Nach 10 Millionen Jahren dann, "verliert sich die Vorhersage über den Aufenthaltsort der Erde im Nebel des Chaos[2, Seite 119]." Worauf die Mathematiker hier gestoßen waren sind keine technischen Mängel ihrer Rechenfertigkeit sondern ein womöglich unlösbares mathematisches Problem. Man kann zwar für zwei über Schwerkraft gebundene Körper im Weltraum bis in alle Ewigkeit die Positionen vorherberechnen, nicht aber für drei oder mehr solche Körper []. Worauf die Mathematik damals gestoßen sind behandelt man heute in dem eigenständigen Fachgebiet der Chaostheorie ↗
Ist die fehlende Berechenbarkeit nur ein mathematisches Problem?
Nein. Sie ist auf jeden Fall ein mathematisches Problem aber auch ein physikalisches. Die fehlende Berechenbarkeit der Zukunft scheint aber auch sozusagen in die Physik unserer Welt mit eingebaut zu sein. Die Unschärferelation der Quantenphysik macht es unmöglich, den exakten Ist-Zustand des Universums zu erfassen[6]. Die Folgen dieser Unmöglichkeit beschrieb der britische Physiker Stephen Hawking. In einem Buch aus den 1970er Jahren sagt er über diesen Aspekt der Quantenphysik: "Selbst heute, fünfzig Jahre nach ihrer Formulierung, haben viele Philosophen diese Konsequenzen noch nicht in ihrer vollen Bedeutung erfasst […] Die Unschärferelation bereitet dem Laplaceschen Traum von einem absolut deterministischen Modell des Universums ein jähres Ende: Man kann zukünftige Ereignisse nicht exakt voraussagen, wenn man noch nicht einmal in der Lage ist, den gegenwärtigen Zustand des Universums genau zu messen![3, Seite 77]". Siehe dazu auch Laplacescher Dämon ↗
Fußnoten
- [1] Roger Penrose: Computerdenken. Des Kaisers neue Kleider oder Die Debatte um Künstliche Intelligenz, Bewusstsein und die Gesetze der Natur. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 1991, ISBN 3-8274-1332-X. Siehe auch Computerdenken ↗
- [2] Joachim von Bublath: Chaos im Universum. Droemersche Verlagsanstalt. München. 2001. 232 Seiten. ISBN: 3-426-27193-1. Die Kernaussage des Buches: Die Abläufe im Universum sind aus mehreren Gründen prinzipiell vorausberechenbar sondern im Wesen chaotisch. Naturwissenschaft ist beschränkt auf wenige und kleine "Inseln der Ordnung". Siehe auch Chaostheorie ↗
- [3] Stephen Hawking: "Grundsätzlich sagt die Quantenmechanik nicht ein bestimmtes Ergebnis für eine Beobachtung voraus, sondern eine Reihe veschiedener möglicher Resultate, und sie gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit jedes von ihnen eintreffen wird [3]." In: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums. Englischer Originaltitel: A Brief History of Time. From the Big Bang to Black Holes. Deutsch im Rohwolt Taschenbuch Verlag. 1988. ISBN: 3-499-188-50-3.
- [4] Nicht berechenbar im Sinne von Penrose ist das sogenannten Dreikörperproblem ↗
- [5] Der Mathematiker Stephen Wolfram (geboren 1959) baute ein Konzept der Berechenbarkeit (Computeration) auf seiner Theorie der Zellularautomaten auf: "In a typical case, the initial conditions for a system like a cellular automaton can be viewed as corresponding to the input to a computation, while the state of the system after some number of steps corresponds to the output. And the key idea is then to think in purely abstract terms about the computation that is performed." Als Beispiel zeigt Wolfram Zellularautomaten, die erfolgreich entscheiden, ob eine Zahl gerade ist oder ungerade, oder die jede natürliche Zahl quadrieren können. Ein anderer Automat erzeugt eine Liste von Primzahlen. In: Stephen Wolfram: A New Kind of Science. Wolfram Media Inc. 2002. ISBN: 1-57955-008-8. Dort im Kapitel "Computational Irreducability", auf den Seiten 637 bis 640. Siehe auch Zellularautomat ↗
- [6] Roger Penrose beschreibt eine modellhafte Billiardkugelwelt und schreibt dazu: "In einem eher praktischen Sinne erweist diese Welt sich jedoch als „nicht-berechenbar“. Der Grund ist, daß die Anfangsbedingungen immer nur mit begrenzter Genauigkeit bekannt sein können. Tatsächlich ist derartigen problemen eine ganz beträchtliche „Instabilität“ eigen. Manchmal führt eine winzige variation der Anfangsbedingungen rapie zu einer ungeheurer starken Veränderung des gesamten Verhaltens …" In: Roger Penrose: Computerdenken. Die Debatte um Künstliche Intelligenz, Bewusstsein und die Gesetze der Natur. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 1991, ISBN 3-8274-1332-X. Dort die Seite 168. Siehe auch Computerdenken ↗
- [7] Dass alle Prozesse des menschlichen Gehirn im Sinne von Penrose berechenbar sind, nämlich durch einen sogar einfachen Algorithmus nachgestellt werden könnten, vermuten einige Wissenschaftler im Zusammenhang mit der Entwicklung eines sogenannten Exokortex: "There seems to be a relatively unified cortical algorithm which is capable of processing different types of information. Most, if not all, of the information processing in the brain of any given individual is carried out using variations of this basic algorithm. Therefore we do not need to study hundreds of different types of cortical algorithms before we can create the first version of an exocortex." In: Sotala, Kaj, and Harri Valpola. Coalescing Minds: Brain Uploading-Related Group Mind Scenarios. In: International Journal of Machine Consciousness 4 (1): 293–312. 2012.DOI: doi:10.1142/S1793843012400173. Siehe auch Exokortex [Umsetzung] ↗
- [8] Der Freie Fall als Beispiel für eine zuverlässige Berechenbarkeit: Lässt man eine Stahlkugel aus verschiedenen Höhen, etwa von verschieden hohen Sprungtürmen aus dem ruhenden Zustand auf den Boden Fallen, dann kann man mit sehr großer Zuverlässigkeit berechnen, nach wie vielen Sekunden sie auf dem Boden aufschlagen und wie schnell sie dabei sind. Die Formeln sind vergleichsweise einfach: s=½at² und v=at. Siehe mehr unter Freier Fall ↗