A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z 9 Ω
Das Banner der Rhetos-Website: zwei griechische Denker betrachten ein physikalisches Universum um sie herum.

Denkzwang

Philosophie

Basiswissen


Das Wort Denkzwang wird in zwei ähnlichen aber doch zu unterscheidenden Bedeutungen verwendet: es kann erstens einen Zwang bedeuten, überhaupt ständig denken zu müssen.[1] Und zweitens bezeichnet der Begriff irgendwie geartete Zwänge, die die Inhalte oder Richtungen unserer Denkens kompromisslos einengen.

Denkzwang als Zwang zum Denken an sich


Die erste Bedeutung von Denkzwang, nämlich als Zwang zum Denken an sich, geht auf den sächsischen Juristen Daniel Paul Schreber zurück. Schreber verbrachte um das Jahr 1900 längere Zeiten in Nervenheilanstalten. Dabei beschrieb er seinen inneren Seelenzustand ausführlich und logisch zusammenhängend als Einfluss einer göttlichen Eingebung. In seinem noch heute viel beachteten Buch definiert er Denkzwang als einen Zwang, überhaupt ständig denken zu müssen.[2] Dem Zwang entziehen konnte er sich nur kurz und vorübergehend, etwa beim Klavierspielen. Diese Bedeutung des Denkzwangs, vor allem in Verbindung mit angst- oder sorgenbeladenen Themen, betrachtet die moderne Psychologie unter dem Begriff des Grübeln.[2] Diese Bedeutung von Denkzwang wird hier aber nicht weiter betrachtet.

Denkzwang als Führung des Denkens


Die zweite Bedeutung von Denkzwang bezieht sich auf die Inhalte oder Richtungen des Denkens. Ein Denkzwang engt die Freiheit des Denkens ein. Einer naheliegenden Wertung von solchen Zwängen als Beschneidung individueller Freiheit darf man jedoch die Frage entgegen setzen, was ein Denken frei von allen Zwängen überhaupt sein soll. Mit dieser Frage klingt eine gegenseitige Ergänzung, eine Komplementarität von Freiheit und Zwang des Denkens an. Das soll in den folgenden Abschnitten kurz und mit besonderer Berücksichtigung naturwissenschafticher Sichten angeschnitten werden.

Göttliche Vorherbestimmung


In der biblischen Geschichte vom Leben Jesu war es eine im Voraus ausgemachte Sache, dass Judas Ischariot Jesus am Vorabend seiner Kreuzigung im Garten Gethsemane in Jerusalem verraten würde. Indem Judas Jesus küsste, verriet er ihn gegenüber seinen Häschern und gab ihm der Verfolgung durch die damals im Land herrschenden Römer preis. Judas' Gedanken müssen zumindest für die Dauer des Verräts einem äußeren Zwang unterlegen haben, um die Prophezeihung zu erfüllen.[3] Die Idee, dass unser Handeln, Denken und Schicksal durch göttliche Vorhersehung im Voraus beschlossen sind bezeichnet man auch als Prädestination ↗

Scholastik und Logik


Mittelalterliche, theologisch geprägte Philosophen wie etwa Thomas von Aquin (1225 bis 1274) sahen das menschliche Denken geleitet durch eine göttliche Vernunft. Der Mensch war geschaffen im Ebenbild Gottes (Imago dei) und hatte damit Teil an der göttlichen Vernunft. Wo es aber dem Menschen frei gestellt ist, sich auch gegen Gott zu entscheiden, wird aus dem Zwang eher nur eine Möglichkeit. Siehe auch Imago dei ↗

Kants Denkkategorien


Der Philosoph Immanuel Kant (1728 bis 1808) sah das menschliche Denken zwanghaft in gewissen Denkkategorien gefangen. Wir können nicht anders denken, als in Raum, Zeit oder Kausalität. Alles geschieht irgendwo, irgendwann und aus irgendeinem Grund. Ob diese Denkkategorien auch auf die Wirklichkeit passen, ließ Kant allerdings offen. Die Wirklichkeit, das Ding an sich, können wir vielleicht niemals direkt erfassen. Das wirft die Frage, ob die Denkkategorien so erschaffen wurden, dass wir die Welt damit gut erkennen können oder nicht. Siehe auch Denkkategorie ↗

Der Laplacesche Dämon


Dass der gesamte Ablauf der Welt, und damit auch jede Inhalt unseres Denken, seit Anbeginn an durch die physikalischen Gesetze vorherbestimmt ist, ist der zentrale Gedanke der Metapher vom Laplaceschen Dämon. Dieser hypothetische Dämon kennt alle Gesetze der Physik. Aus einem beliebigen Zustand der Welt kann er dann beliebig weit in die Vergangenheit und Zukunft rechnen. Das Denken hätte demnach keinerlei Freiheit, sondern ist zwangsmäßig völlig vorherbestimmt durch die materielle Welt. Durch eine kleine Veränderung an einem Gehirn, könnte man aus einem unbescholtenem Menschen einen zwanghaften Dieb machen.[16] Siehe auch Laplacescher Dämon ↗

Das städtische Denken als Irreführung


Der Kulturkritiker Oswald Spengler (1880 bis 1936) kritisierte nach dem Ersten Weltkrieg die Denkweise "städtischer, an kausalen Denkzwang gewöhnter Geister". Dem stellte er das Denken in gewachsenen "organischen" Strukturen gegenüber.[4] Oswald misstraute auch den Wissenschaften, wo sie sich dem Zwang des Denkens in Kausalitäten hingeben. Bemerkenswerterweise veröffentlichte Oswald seine skeptischen Gedanken zu genau jener Zeit, in den 1920er Jahren, in denen auch die Physiker das Denken in Kausalitäten zunehmend hinterfragten. Insbesondere die neue konzipierten Quanten, speziell die hypothetischen Teilchens des Lichts (Photonen) oder Elektronen entzogen sich in ihrem individuellen Verhalten jeder Fassbarkeit durch die Kausalität. Was Oswald, wie so viele Kritiker von Wissenschaft, aber verkennen, ist, dass sich gerade die guten Wissenschaftler selbst ihrer eigenen Denkzwänge sehr bewusst sind und nicht naiv in einem "physikalischen Naturbild" gefangen sind.[5]

Evolutionäre Psychologie


Als evolutionäre Psychologie bezeichnet man eine Gedankentströmung, der zufolge sich unser Denken immer nur so ausbildet, wie es unserem Fortkommen in einer darwinistisch gedachten Evolution dient.[6] Eine klassische dahingehende Argumentation ist etwa, dass Männer ein besseres räumliches Orientierungsvermögen haben sollen als Frauen[7] und dass der Grund dafür die großen Jagdausflüge der Männer in der Zeit von Jägern und Sammlern war. Diese Denkweise fand ihren Ausdruck in verhaltensbiologischen Büchern wie etwa bei Konrad Lorenz', wenn er vom sogenannten Bösen schreibt[8] oder in Wickerts Buch über die Biologie der Zehn Gebote[9].

Denkzwänge im Kollektiv


Menschen in Gruppen erzeugen einen sozialen Zwang, sich nur für bestimmte Themen zu interessieren, bestimmte Fragen eher auszulassen, besondere Arten des Denken zu bevorzugen. In kleinbürgerlichen Kreisen dürften die Themen Gendern und Klimawandel ähnlich unbeliebt sein wie ein rational-distanziertes Analysieren menschlichen Verhaltens unter gefühlsbetonten Liebhabern schamanischer Reisen. Verliert eine Gruppe aufgrund ihrer selbst auferlegten Denkzwänge letztendlich den Blick für die Realität, spricht man von einem Gruppendenk.[10] Für verschiedene Disziplinen der Wissenschaft beschrieb das zum Beispiel der polnische Arzt Ludwik Fleck.[11] Er prägte die dazu passenden Begriffe vom Denkstil und vom Denkkollektiv ↗

Denkzwänge hin zur Wirklichkeit


Die Physik, vielleicht stellvertretend für alle Naturwissenschaften, geht davon aus, dass eine Theorie, ein Gedanke nur dann als wahr gelten kann, wenn er mit dem Ablauf der Natur überein stimmt. Um die Wirklichkeit erkennen zu können, so der Grundgedanke jeder empirischen Wissenschaft, muss man sein Denken immer wieder neu korrigieren. Es entsteht ein Zwang das eigene Denken ständig umzuformen.[12]

ZITAT:

Das Prinzip der Wissenschaft, ihre Definition lautet weitgehend: der Prüfstein allen Wisssens ist der Versuch. Der Versuch ist das einzige Urteil wissenschaftlicher Wahrheit.[13]

Hier stoßen wir wieder auf ein Motiv, das auch schon antike Denker bei der Frage nach der Ethik fanden: der Zwang besteht hier nicht einem unabänderlichen äußeren Einfluss. Der Zwang ist vielmehr ein selbst auferlegter. Er entsteht erst dadurch, dass man sich freiwillig dazu entschieden, die Erscheinungen der Natur als obersten Maßstab der Wahrheit zu akzeptieren. Siehe auch Wahrheitskriterium ↗

Zwang und Freiheit


Die Beispiele für Zwänge, die unser Denken einengen, könnten in großer Zahl fortgesetzt werden. Nun kann man auch die Frage stellen, ob man solche Zwänge überwinden sollte oder doch eher nicht.

Zwang als Schutz vor Überreizung


Aus ethischer Sicht ist direkt klar, dass die zügellose, individuelle Freiheit von jeglichem Zwang die Gefahr einer Gesellschaft mit sich bringt, in der die Rücksichtslosen sich nehmen was sie kriegen können. Weniger offensichtlich ist aber der Aspekt, ob eine irgendwie geartete Beschränkung des Denkens sozusagen überhaupt erst die Voraussetzung für Denken schafft. In diese Richtung dachte etwa Aldous Huxley, als er das menschliche Bewusstsein als ein Reduzierventil[14] beschrieb, das nötig sei, die weitgehend verwirrende und irreführende Flut an Reizen zu filtern.[15] Erst indem wir unsere Gedanken irgendwie einengen, kann sich unsere Psyche überhaupt mit der Welt auseinandersetzen. Offen muss hier die Frage bleiben, ob die beschränkte Aufnahmefähigkeit unserer Bewusstsein eine feste Größe ist, oder ob unser Bewusstsein etwa durch Meditation oder ein technologisches Enhancement erweitert werden kann. Siehe dazu auch transpersonales Bewusstsein ↗

Zwang als Voraussetzung für Gemeinschaft


Ein weiter Aspekt ähnelt dem Problemkreis des Freien Willens: wo die Individuen völlig frei handeln oder denken können, stellt sich möglicherweise nur schwer so etwas wie eine gemeinsame Gemeinschaft ein. Würden sich Menschen ganz einem ungezügelt frei wucherndem Denken hingeben, würden wir am Ende vielleicht alle als isolierte, nicht mehr kommunikationsfähige Einzwelwesen daher existieren. Siehe mehr dazu unter Freiheit und Zwang ↗

Fußnoten