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Verschiebungsstrom

Anschaulich

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Basiwissen


Als Verschiebungsstrom bezeichnet man jenen Anteil eines elektrischen Stroms, der zu seiner Entstehung keine freien Ladungsträger benötigt, die von Atom zu Atom oder von Molekül zu Molekül durch einen Leiter wandern können. Für das Auftreten eines Verschiebungsstroms genügt es, wenn sich positive und negative Ladungen innerhalb eines Materials auch auf nur kurze Distanzen zueinander verschieben können. Der Gedanke wird hier in seiner historischen Urversion von James Clerk Maxwell entwickelt.

Historisch nach Maxwell


Der schottische Physiker James Clerk Maxwell (1831 bis 1879) hatte die Idee des Verschiebungsstromes in einer Fachveröffentlichung aus dem Jahr 1861 ausführlich und sehr anschaulich eingeführt. Die Erklärung Maxwells beginnt mit der folgenden Beobachtung.


ZITAT:

"Wir haben zwei unabhängige Eigenschaften von Körpern, eine, durch die sie den Durchgang von Strom [im Sinne von bewegten Ladungsträgern] ermöglichen, und die andere, durch die sie die Übertragung elektrischer Wirkung durch sie ermöglichen, ohne dass Ladungsträger durchgelassen werden. Ein leitender Körper kann mit einer porösen Membran verglichen werden, die dem Durchgang einer Flüssigkeit mehr oder weniger Widerstand entgegensetzt, während ein Dielektrikum wie eine elastische Membran ist, die für diese Flüssigkeit undurchlässig sein kann, aber den Druck der Flüssigkeit von einer Seite auf die andere Seite überträgt."[1]


Maxwell unterscheidet hier den Durchgang von Strom im Sinne von fließenden elektrischen Ladungen von sonstigen elektrischen Wirkungen. Die zwei Phänomene können gemeinsam, aber auch isoliert auftreten. Nun führt Maxwell das Wort Dielektrikum ein. Ein Dielektrikum ist ein Material, dessen Bausteine (Atome, Moleküle) eine Asymmetrie bezüglich ihrer Ladungsverteilung annehmen können. Die eine Seite kann also mehr positiv, die andere Seite mehr negativ geladen sein. Lesen wir weiter.


ZITAT:

"Die auf ein Dielektrikum wirkende elektromotorische Kraft erzeugt einen Polarisationszustand seiner Teile, der in seiner Verteilung der Polarität der Eisenteilchen unter dem Einfluss eines Magneten ähnelt und wie die magnetische Polarisation als ein Zustand beschrieben werden kann, in dem jedes Teilchen seine Pole in entgegengesetzten Zuständen hat."[2]


Elektromotorische Kraft war ein gängiger Begriff aus dem 19. Jahrhundert. Heute spricht man von der elektrischen Spannung. Die Polarisation ist die Aufteilung der elektrischen Ladung auf zwei Pole innerhalb der kleinsten Teilchen, die in der Betrachtung eine Rolle spielen. Das wird von Maxwell noch einmal bekräftigt:


ZITAT:

"In einem Dielektrikum unter Induktion können wir uns vorstellen, dass die Elektrizität in jedem Molekül so verschoben wird, dass eine Seite positiv und die andere negativ elektrisch wird, die Elektrizität jedoch vollständig mit dem Molekül verbunden bleibt und nicht von einem Molekül zum anderen übergeht."[3]


Mit Induktion ist hier wahrscheinlich der Einfluss eines elektrischen Feldes gemeint. Der springende Punkt des Zitates oben ist, dass die Elektrizität vollständig in einem Molekül verbleibt. Es gibt also zum Beispiel keine Elektronen, die frei von Molekül zu Molekül wandern, wie die etwa die Elektronen in einem metallischen Leiter unter Spannung tun würden. Im nächsten Zitat kommt Maxwell dann zum Verschiebungsstrom.


ZITAT:

"Die Wirkung dieser Aktion [elektrisches Feld, Induktion] auf die gesamte dielektrische Masse besteht darin, eine allgemeine Verschiebung der Elektrizität in eine bestimmte Richtung zu erzeugen. Diese Verschiebung stellt keinen Strom dar, denn wenn sie einen bestimmten Wert erreicht hat, bleibt sie konstant, aber sie ist der Anfang eines Stroms, und seine Variationen stellen Ströme in positiver oder negativer Richtung dar, je nachdem die Verschiebung zunimmt oder abnimmt. Das Ausmaß der Verschiebung hängt von der Beschaffenheit des Körpers ab".[4]


Dieses Zitat ist wichtig. Bleiben wir einen Moment bei dem Gedanken. Stellen wir uns einen längeren Stab vor. Gedanklich liege er quer auf einem Tisch vor uns. Er erstreckt sich also von links nach rechts. Das Material dieses Stabes soll ein Dielektrikum im Sinne Maxwells sein. Die einzelnen Moleküle des Stabes sind dann zum Beispiel Moleküle. Jedes Molekül kann als elektrisch neutral gedacht werden. Es besteht aus genau so vielen positiven Bausteinen (z. B. Protonen) wie negativen Bausteinen (z. B. Elektronen). Jetzt legt man einen Pluspol einer Spannungsquelle an das linke Ende des Stabes an und einen Minuspol an das rechte Ende des Stabes. Die Protonen im Modell würden dann geringfügig vom Pluspol abgestoßen und vom Minuspol angezogen werden. Im Endeffekt verschieben sie sich also leicht von links nach rechts, und verharren dann dort. Die Elektronen würde sich entsprechend leicht von rechts nach links verschieben. Nun vertauschen wir Plus und Minuspol. Die Ladungen verschieben sich jetzt schnell in die entgegengesetzte Richtung. Dann aber bleiben sie wieder fest an ihrem Ort. Nun stellen wir uns vor, dass wir die Vertauschung von Plus- und Minuspol immer schneller vornehmen. Alle Protonen des Dielektrikums werden dann in schneller Abfolge gemeinsam von links nach rechts schwingen. Gleichzeitig und in entgegengesetzter Richtung schwingen dann auch die Elektronen. Im Endeffekt hat man dann einen elektrischen Wechselstrom mit einem Material ganz ohne freie Ladungsträger erzeugt. Als Metapher kann man sich das Ganze wie die zwei Sägeblätter oder Messerbalken vorstellen, die in schneller Hin- und Herbewegung aber immer gegenläufig arbeiten, etwa wie bei einer Heckenschere. Maxwell verwendet als Metapher Flüssigkeiten:


ZITAT:

"Diese Beziehungen sind unabhängig von jeglicher Theorie über den inneren Mechanismus von Dielektrika; Wenn wir jedoch feststellen, dass eine elektromotorische Kraft eine elektrische Verschiebung in einem Dielektrikum erzeugt, und wenn wir feststellen, dass sich das Dielektrikum mit einer gleich großen elektromotorischen Kraft aus seinem Zustand der elektrischen Verschiebung erholt, können wir nicht anders, als die Phänomene eines elastischen Körpers zu betrachten, der einem Druck nachgibt und seine Form wiedererlangt, wenn der Druck entfernt wird."[5]


Das Fazit ist: man kann einen elektrischen Wechselstrom auch dauerhaft mit Hilfe von Materialien, den sogenannten Dieelektrika erzeugen, die keinerlei freien Ladungsträger haben. Das zugrundeliegende Phänomen bezeichnet man heute als Verschiebungsstrom.

Heutige Fassung


Nach heutiger Sicht besteht der elektrische Strom aus zwei Bestandteilen. Der erste Bestandteil ist das was man üblicherweise in der Schulphysik unter Strom kennenlernt: die Bewegung freier Ladungen in einem elektrischen Leiter. Das klassische Bild sind die gemeinsam in eine Richtung wandernden Elektronen in einem Stab aus Eisen. Diesen Anteil des resultierenden Gesamtstroms I₍ges₎ bezeichnet man als Konvektionsstrom, hier als Iₖ abgekürzt. Der zweite Bestandteil ist der Verschiebungsstrom, hier als Iᵥ bezeichnet:

I₍ges₎ = Iₖ + Iᵥ

Der Verschiebungsstrom besteht aus wiederum zwei Komponenten: Der Verschiebungsstrom als einer Änderung der elektrischen Flussdichte, die aus zwei Beiträgen besteht: der Bildung oder Ausrichtung elektrischer Dipole in Materie (was Maxwell so anschaulich beschrieben hat) sowie einer Komponente der elektrischen Feldstärke multipliziert mit der elektrischen Feldkonstante. Die mathematische Handhabung geht über den Stoff der Schulphysik hinaus, wird aber ausführlich in Lehrwerken der Physik und Elektrotechnik behandelt.

Persönliche Anmerkung


 Portrait von Gunter Heim Maxwell, einer der Gründerväter der modernen Elektrodynamik, war ein Meister des verständlichen Ausdrucks. Er konnte Artikel schreiben, die sowohl Laien etwas bieten konnten als auch seinen Kollegen auf Augenhöhe. Eine seiner Stärken waren die eingängigen Metaphern, seine alltagsnahen Veranschaulichungen. Der Verschiebungsstrom als Membran in einer Wasserleitung ist ein gutes Beispiel dafür. Doch als Leser sollte man sich hüten, diese Sinnbilder als ein treues Abbild der Wirklichkeit zu nehmen. Maxwells Zeit, die Mitte des 19. Jahrhunderts, war auch die Blütezeit des sogenannten mechanistischen Weltbildes. Man versuchte alle Erscheinungen der Physik auf auf Mechaniken im Kleinen zurück zu führen. Das war schon damals gewagt, aber eine lange Zeit durchaus erfolgreich. Seit der Frühzeit der Quantenphysik, das war in den 1920er Jahren, wissen wir aber, dass jeder Versuch, Phänomene rund um elektrische Ströme (und vieles mehr) im Sinne einer Mechanik nach "gesundem Menschenverstand" zu verstehen scheitern müssen. Wie dramatisch diese Lage im frühen 20. Jahrhundert war, zeigt sich unter anderem an der geqäult wirkenden Kopenhagener Deutung der Quantenphysik. Einer der Hauptdarsteller dieses Stücks der Physik sind übrigens die Elektronen.

Fußnoten


  • [1] Die Idee zu einem Verschiebungsstrom existiert spätestens seit dem Jahr 1861. Der schottische Physiker James Clerk Maxwell (1831 bis 1879) beschrieb im Jahr 1861, mit also etwa 30 Jahren Altern, dass auch Isolatoren ohne einen dauerhaft fließenden Strom elektrische Effekt weiterleiten können: "we have two independent qualities of bodies, one by which they allow of the passage of electricity through them, and the other by which they allow of electrial action being transmitted through them without any electricity being allowed to pass. A conducting body may be compared to a porous membrane which opposes more or less resistance to the passage of a fluid, while a dielectric is like an elastic membrane which may be impervious to the fluid, but transmits the pressure of the fluid on one side to that on the other." In: James Clerk Maxwell: On Physical Lines of Force. Part III. - The Theory of Molecular Vortices applied to Statical Electricity. In: The London, Edinburgh, and Dublin Philosophical Magazine and Journal of Science. 1861. Dort auf der Seite 14. Online: https://books.google.com/books?id=v1YEAAAAYAAJ&pg=PA14
  • [2] "Electromotive force acting on a dielectric produces a state of polarization of its parts similar in distriution to the polarity of the particles of iron under the influence of a magnet, and, like the magnetic polarization, capable of being described as a state in which every particle has its poles in opposite conditions." James Clerk Maxwell: On Physical Lines of Force. Part III. - The Theory of Molecular Vortices applied to Statical Electricity. In: The London, Edinburgh, and Dublin Philosophical Magazine and Journal of Science. 1861. Dort auf der Seite 14.
  • [3] "In a dielectric under induction, we may conceive that the electricity in each molecule is so displaced that one side is rendered positively, and the other negatively electrical, but that the electricity remains entirely connected with the molecule, and does not pass from one molecule to another."
  • [4] "The effect of this action on the whole dielectric mass is to produce a general displacement of the electricity in a certain direction. This displacement does not amount to a current, because when it has attained a certain value it remains constant, but it is the commencement of a current, and its variations constitute currents in the positive or negative direction, according as the displacement is increasing or diminishing. The amount of the displacement depends on the nature of the body..." Maxwell spricht dann einen Satz weiter in seiner Originalveröffentlichung von 1861 ausdrücklich von "current due to displacement", auf Deutsch so viel wie einem Strom durch Verschiebung, also einem Verschiebungsstrom.
  • [5] Analogie zur Elastizität: "These relations are independent of any theory about the internal mechanism of dielectrics; but when we find electromotive force producing electrical displacement in a dielectric, and when we find the dielectric recovering from its state of electric dispalcement with an qqual electromotive force, we cannot help regarding the phenomena as those of an elastic body, yielding to a pressure, and recovering its form when the pressure is removed."

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