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Repressive Toleranz


Soziologie


Basiswissen


Jeden Sinn und Unsinn auch von ungebildeten oder unwissenden Menschen zu dulden ist rein formal gesehen tolerant. Solche Toleranz kann aber repressiv, das heißt unterdrückerisch werden, wenn sie damit ungerechte und ausbeuterische Systeme stützt. Das ist die Kernaussage eines berühmten Essays des deutsch-amerikanischen Soziolgen Herbert Marcuse. Hier stehen einige kommentierte Zitate aus seinem ursprünglichen Essay aus dem Jahr 1965.

Repressive Toleranz am Beispiel von „Russland-Verstehern“


Als Russland-Versteher bezeichnet man abwertend Personen, die die Haltungen und Positionen des russischen Regierung übernehmen und für richtig halten. Die vertretenen Positionen dienten dabei der Rechtfertigung von kriminellen und kriegerischen Handlungen, die teilweise offen oder auch verdeckt von der russischen Regierung unterstützt wurden: der Regierungsritiker Alexander Nawalny wurde in England mit radioaktiven Stoffen lebensbedrohlich vergiftet. Russland annektierte im Jahr 2014 völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim. Und Russland ist an mörderischen Kriegen im Ausland beteiligt, etwa in Syrien und Mali. Diese Handlungen wurden von deutschen Politikern insofern toleriert, als dass keine ernstzuhmenden Konsequenzen folgten. Ein herausragendes Beispiel dafür war der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhad Schröder. Er warb offen und dauerhaft für die Positionen Russlands und warnte vor einem Bruch der guten Beziehungen zu Moskau. Eine solche Toleranz stabilisierte die Unterdrückung von Teilen der Bevölkerung durch die russische Regierung und war damit im Sinne von Herbert Marcuse eine repressive Toleranz.

Repressive Toleranz nach Herbert Marcuse


"Toleranz wird auf politische Maßnahmen, Bedingungen und Verhaltensweisen ausgedehnt, die nicht toleriert werden sollten, weil sie die Chancen, ein Dasein ohne Furcht und Elend herbeizuführen, behindern, wo nicht zerstören." In dieser Definition wird Toleranz dann repressiv, das heißt unterdrückerisch, wenn sie Entwicklungsmöglichkeiten hin zu einem angstfreien Dasein ohne Leid behindert. Dazu stehen hier weitere originale Zitate aus Herbert Marcuses namensgebebendem Essay aus dem Jahr 1965[1].

Liberalismus als Gegengift?


Herbert Marcuse: "Diese Art von Toleranz stärkt die Tyrannei der Mehrheit, gegen welche die wirklichen Liberalen aufbegehrten." Siehe auch Liberalismus ↗

Öl-Lobbyismus tolerieren? Werbung tolerieren?


Herbert Marcuse: "Toleranz gegenüber dem radikal Bösen erscheint jetzt als gut, weil sie dem Zusammenhalt des Ganzen dient auf dem Wege zum Überfluß oder zu größerem Überfluß." Siehe auch Konsumismus ↗

Verdummung durch Reklame


Herbert Marcuse: "Die Nachsicht gegenüber der systematischen Verdummung von Kindern wie von Erwachsenen durch Reklame und Propaganda, die Freisetzung von unmenschlicher zerstörender Gewalt in Vietnam, das Rekrutieren und die Ausbildung von Sonderverbänden, die ohnmächtige und wohlwollende Toleranz gegenüber unverblümtem Betrug beim Warenverkauf, gegenüber Verschwendung und geplantem Veralten von Gütern sind keine Verzerrungen und Abweichungen, sondern das Wesen eines Systems, das Toleranz befördert als ein Mittel, den Kampf ums Dasein zu verewigen und die Alternativen zu unterdrücken." Siehe auch seelische Misshandlung (Didaktik) ↗

Bürgerlicher Provinzialismus


Herbert Marcuse: "Im Namen von Erziehung, Moral und Psychologie entrüstet man sich laut über die Zunahme der Jugendkriminalität, weniger laut über die Kriminalität immer mächtigerer Geschosse, Raketen und Bomben das reifgewordene Verbrechen einer ganzen Zivilisation." Man denke hier an kleinbürgerliche Existenzen, die unsaubere Vorgärten wahrnehmen und attackieren aber gleichzeitig familiäre Gewalt in demselben Haus stillschweigend hinnehmen können. Siehe auch Provinzialismus ↗

Fair Play als Dilemma


Herbert Marcuse: "So drohen in einer repressiven Gesellschaft selbst fortschrittliche Bewegungen in dem Maße in ihr Gegenteil umzuschlagen, wie sie die Spielregeln hinnehmen." Siehe auch Dilemma ↗

Mit dem Kopf gegen Schaumstoffwände


Herbert Marcuse: "...die Ausübung politischer Rechte (wie das der Wahl, das Schreiben von Briefen an die Presse, an Senatoren usw., Protestdemonstrationen, die von vornherein auf Gegengewalt verzichten) in einer Gesellschaft totaler Verwaltung dient dazu, diese Verwaltung zu starken, indem sie das Vorhandensein demokratischer Freiheiten bezeugt, die in Wirklichkeit jedoch längst ihren Inhalt geändert und ihre Wirksamkeit verloren haben." Siehe auch Gruppendenk ↗

Der naturalistische Fehlschluss


Herbert Marcuse: "Die Toleranz, die Reichweite und Inhalt der Freiheit erweiterte, war stets parteilich intolerant gegenüber den Wortführern des unterdrückenden Status quo." Das Gegebene automatisch als das Gewollte zu akzeptieren ist in den Naturwissenschaften ein sogenannter naturalistischer Fehlschluss ↗

Reden ist Silber, Anpassen ist Gold


Herbert Marcuse: "In der festgefügten liberalen Gesellschaft Englands und der Vereinigten Staaten wurde Rede- und Versammlungsfreiheit selbst den radikalen Gegnern der Gesellschaft gewährt, sofern sie nicht vom Wort zur Tat, vom Reden zum Handeln übergingen."

Die Wissensgesellschaft als Utopie


Herbert Marcuse: "...bereits die liberalistische Theorie hatte die Toleranz unter eine wichtige Bedingung gestellt: sie sollte »nur für Menschen in der Reife ihrer Anlagen gelten«" Was eine solche Reife konkrete sein kann ist beschrieben im Artikel zur Wissensgesellschaft ↗

Autonomie als charakterliches Ideal


Herbert Marcuse: "Freiheit ist Selbstbestimmung, Autonome - das ist fast eine Tautologie, aber eine Tautologie, die sich aus einer ganzen Reihe synthetischer Urteile ergibt. Sie unterstellt die Fähigkeit, daß man sein eigenes Leben bestimmen kann: daß man imstande ist zu entscheiden, was man tun und lassen, was man erleiden und was man nicht erleiden will." Siehe auch Autonom ↗

Oxymoron: zerstörerische Toleranz


Herbert Marcuse: "Die Gefahr »zerstörerischer Toleranz« (Baudelaire), »wohlwollender Neutralität« gegenüber der Kunst ist erkannt worden: der Markt, der (obgleich oft mit ganz plötzlichen Schwankungen) gleich gut Kunst, Anti-Kunst und Nicht-Kunst, alle möglichen einander widerstreitenden Stile, Schulen und Formen in sich aufnimmt, liefert ein »behagliches Gefäß, einen freundlichen Abgrund«"[2]. Auf eine knappe Form gebrachte Widersprüche, die das Interesse des Lesers reizen sollen, bezeichnet man auch als Oxymora ↗

Die Ambivalenz als ein typisch marcusisches Denkmuster


Repression und Toleranz sind eigentlich gegenstätzlich, sie schließen sich gegenseitig aus. Die beiden Worte zu einem gemeinsamen Übergriff zu verbinden, den der repressiven Toleranz, ist typisch für Marcuses Denkstil. Dadurch enstehen Ambivalenzen, das heißt Doppeldeutigkeiten im Sinne einer moralischen Bewertung. Toleranz erscheint einmal als Tugend, wird aber in Marcuses Denken gleichzeitig zu einem Instrument der Unterdrückung. In seinem Buch über den eindimensionalen Menschen spricht Marcuse ganz im Sinne einer Ambivalenz auch von falschen Bedürnissen. Üerhaupt ist schon eine der Kernaussagen des Buches eine Ambivalenz. Marcuse weist immer wieder darauf hin, dass die modernen Industriegesellschaften die technischen Mittel hätten, ein Paradies, eine Utopie auf Erden zu einer Wirklichkeit zu machen. Doch anstatt aus dem Überfluss die Utopie zu schaffen, scheint der Überluss faktisch mit Unterdrückung und Leid verbunden zu sein. Diesen Paradoxon arbeitet Marcuse klar heraus, ohne dafür jedoch eine Erklärung zu suchen. Siehe auch das Buch von Herbert Marcuse Der eindimensionale Mensch ↗

Fazit: Marcuses indirekte Forderung


Wenn Toleranz nicht heißen darf, jeden Unsinn zuzulassen, dann stellt sich die Frage, wie man Sinn von Unsinn unterscheiden kann. Marcuses Sprache bleibt oft im Universum des Gesellschaftlichen befangen. Gesellschaften sind aber eher keine lebendigen handlungsfähigen Einzelwesen[6] sondern nur eine Ansammlung von individuellen Menschen. Es stellt sich für den einzelnen also die Frage, wie sich Sinn und Unsinn, wahr und falsch auseinander halten lassen. Marcuses Vision einer Gesellschaft wirklich freier Menschen kommt damit nicht vorbei am Ideal eines immer gebildeteren und immer besser denkfähigeren Einzelmenschen. Diese Vision ist beschrieben im Konzept der sogenannten Wissensgesellschaft[3] ↗

Fußnoten


Vol. 31, No. 5 (Oktober 1966), Seiten 649-662. Herausgegeben von: American Sociological Association.