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Erdkugel (George Orwell)

Faktencheck

Basiswissen


Wie könnte man für sich alleine überprüfen, ob die Erde wirklich in etwa kugelig ist? Diese Frage stellte Ende 1946 der englische Schriftsteller George Orwell. Man darf bei der Überprüfung aber nicht auf das Wissen von Autoritäten (Wissenschaftler, Enzyklopädien) zurückgreifen und auch keine teurer Technik (Satellitenbilder) benutzt. Orwells (vergeblicher) Versuch einer Antwort ist hier ausführlich vorgestellt.

Orwells gedanklicher Hintergrund


Orwells Lebensthema war die Neigung und Fähigkeit totalitärer politischer Systeme die „Wahrheit“ zu verändern. In seinem größten literarischen Erfolg, der Dystopie „1984“, kämpft der Held der Geschichte vergeblich gegen die Übermacht einer allein herrschenden Partei an, und muss am Ende selbst glauben, dass 2+2=5 richtig ist.

Orwell wusste natürlich um den Effekt, dass Schiffe bei der Fahrt Richtung Horizont sozusagen hinter dem Horizont verschwinden. Doch das ist kein Beweis für eine Kugelform der Erde. Derselbe Effekt würde nämlich auch bei einer birnen- oder kartoffelförmigen Erde auftreten. Der springende Punkt für Orwell war, dass man bei seiner Überprüfung auf keinerlei fremdes Wissen oder fremde Aussagen zurückgreift. Nur das was man selbst beobachten und sich denken kann darf gelten. Hier stehen einige Versuche Orwells, die Kugelgestalt der Erde für sich zu überprüfen.

1. Indiz: die Erdkrümmung


Orwells erstes Argument: Beobachtet man, wie sich ein Schiff auf dem Meer vom eigenen Standpunkt aus entfernt, wird man sehen, dass man mit der Zeit immer weniger von den unteren Teilen des Schiffes sieht während die oberen Teile noch gut sichtbar sein. Irgendwann ist aber das gesamt Schiff sozusagen hinter dem Horizont verschwunden. Diese Beobachtung ist ein starkes Argument dafür, dass die Erde nicht flach ist. Es ist aber kein hinreichendes Argument für eine Kugelform der Erde. Eine eiförmige Erde würde denselben Effekt zeigen. Siehe auch Erdkrümmung ↗

2. Indiz: die Ähnlichkeit der Himmelskörper


Orwells zweites Argument für die Kugelform der Erde ist die Analogie zwischen Sonne, Mond und Erde: wenn die Sonne und der Mond Kugeln sind, dann ist wahrscheinlich auch die Erde eine Kugel. Doch woher will man wissen, dass Sonne und Mond kugelförmig sind? Was man am Himmel sieht sieht nur Kreissscheiben. Ein Zylinder, der uns ständig seinen Boden zukehrt, würde genauso aussehen. Und was zwingt zu dem Glauben, dass die Erde dieselbe Form haben soll, wie andere Himmelskörper? Orwell geht hier immer von der Lage eines gebildeten Laien aus. Tatsächlich argumentieren Geologen und Physiker damit, dass die Erde in ihrer Frühzeit ein flüssiger Körper war und dass infolge der Gravitationskörper jeder solcher Körper letztendlich eine Kugelform annimmt. Aber dieses Wissen ist für Laien eher unüblich. Somit bleibt Orwell bei seiner gespielten Ratlosigkeit. Zur Frühzeit der Erde, siehe den Artikel zur Erdentstehung ↗

3. Indiz: der Erdschatten auf dem Mond


Orwells drittes Argument ist der Schatten der Erde auf dem Mond während einer Mondfinsternis: man sieht auf dem Mond einen kreisförmigen Schatten. Hier hält er dagegegen, woher man wissen will, dass der Schatten von der Erde stammt.

4. Indiz: Der britische Hofastronom


Orwells viertes Argument ist die Meinung der Experten. Der englisch Hofastronom (Astronomer Royal) erklärt, dass die Erde eine Kugel sei. Doch woher, so Orwells gespielte Skepsis, will man wissen dass der Hofastronom recht hat. Hier bringt er eine neue Idee ins Spiel: Mit der Vorstellung einer kugeligen Erde lassen sich astronomische Ereignisse verblüffend gut auch auf lange Zeit vorhersagen. Das scheint die Sache zu besiegeln. Doch wie konnten dann die alten Ägypter Sonnenfinsternisse auf lange Zeit vorhersagen, ohne von der Kugelform der Erde Gebrauch zu machen? Damit ist auch das vierte Argument wirkungslos gemacht. Hier kann man ergänzend zu Orwells Gedanken auch auf die großen Erfolge des - falschen - geozentrischen Weltbildes verweisen. Über fast zwei Jahrtausende konnten Astronomen mit einem völlig falschen Bild unserers Sonnensystems doch die Position der Planeten und viele astronomische Ereignisse erstaunlich gut vorhersagen. Die Vorhersagekraft einer Theorie alleine scheint auch kein zuverlässiger und hinreichender Beweis ihrer Richtigkeit zu sein. Siehe dazu den Artikel geozentrisches Weltbild ↗

5. Indiz: die Erfolge der Schiffsnavigation


Orwells fünftes und letztes Argument scheint ihn dann selbst zu überzeugen: Nautiker gehen von einer Kugelform der Erde aus und die Seefahrer erreichen mit dieser Annahme ihrer geplanten Ziele erstaunlich gut. Das scheint die Kugelform doch einigermaßen zu belegen, so Orwell.

Orwells Schluss: der einzelne ist dem Wissensbestand überfordert


Nach Orwell ist schon für die vergleichsweise einfache Frage nach der Form der Erde der Aufwand für eine eigene Überprüfung enorm groß und der Erfolg recht unsicher. Angesichts des riesigen Bestandes an Wissen, kann man unmöglich alles selbst überprüfen. Man muss, so Orwell, meist schon sehr früh und sehr umfangreich die Ansichten von Autoritäten ungeprüft hinnehmen. Orwell schließt seinen Gedankengang damit ab, dass die meisten Menschen wohl kaum viel Aufwand in die Überprüfung von Fakten stecken, dass er in einer leichgläubigen (credulous) Zeit lebe und dass die schiere Masse des Wissensbestandes daran die Hauptschuld trage. Orwell kannte noch nichts von Computer oder künstlicher Intelligenz. Die ersten elektronischen Computer begannen um das Jahr 1946 zu laufen. Die Bedeutsamkeit von Orwells Resignation vor dem Wissensberg wird heute noch weiter gesteigert durch die Erfolge der künstlichen Intelligenz. Die Menschen sehen sich inzwischen nicht mehr nur einem unüberpüfbar großen Berg an Wissen gegenübergestellt. Sie müssen sich heute auch messen an einer faktisch zunehmend überlegenen Denkfähigkeit elektronischer Gehirne. Siehe dazu auch den Artikel technologische Singularität ↗

Fußnoten