Wasser-Reiß-Versuch
Physik
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Basiswissen ·
Kurzversion: 1 bis 2 Minuten ·
Material ·
Durchführung ·
Beobachtungen ·
Langversion: 15 Minuten bis zu Stunden ·
Eine historische Vorlage testen ·
Bedeutung für das Baumwachstum ·
Zugestigkeit von Wasser ·
Rolle für Bäume ·
Die kosmische Strahlung ·
Pilze ·
Fußnoten
Basiswissen
Man lege eine kleine flache glatte Scheibe, etwa aus Glas oder den Deckel von einen Konservenglas auf die Oberfläche von ruhigem Wasser. Dann versucht man, diese aufgelegte Scheibe senkrecht nach oben ziehend vom Wasser wieder abzulösen. Das ist schwerer als man denkt. Man kann das auch so deuten, dass Wasser sehr reißfest ist. Eine einfache Version des Versuchs dauert nur 1 bis 2 Minuten. Aufwändiger bis hin zu einer Stunde Dauer kann es werden, wenn man die nötige Kräfte messen möchte.
Kurzversion: 1 bis 2 Minuten
Material
- Eine glatte Wasseroberfläche, etwa in einer Schüssel, einem Aquarium oder einer Wellenwanne ↗
- Eine kleine glatte Scheibe, idealerweise eine Glasscheibe, etwa von einem Bilderrahmen
- Falls vorhanden: Saugpfeil (Spielzeug, etwa für Armbrüste oder Pistolen)
- Falls vorhanden: Kofferwaage oder Kraftmesser ↗
- Falls vorhanden: Spülmittel, Seife oder Waschpulver
Durchführung
Man legt die Scheibe flach auf die Oberfläche des Wassers. Dann versucht man, die Scheibe senkrecht nach oben abzulösen. Dazu kann man die Scheibe vom Rand her etwas mit den Fingern umfassen. Falls vorhanden, kann man auch von oben einen Saugpfeil auf die Scheibe "ankleben" und dann an dem Pfeil ziehen.
- Ziehe die Scheibe senkrecht nach oben vom Wasser ab.
- Gib Spülmittel in das Wasser. Verändert sich die Effekt?
- Ziehe die Scheibe auf der Wasseroberfläche hin und her.
Beobachtungen
- Die Kraft zum Ablösen der Scheibe ist erstaunlich groß.
- Je kleiner die Scheibe, desto weniger Kraft braucht man.
- Spülmittel verringert die nötige Kraft zum Abziehen.
- Hin und her schieben braucht weniger Kraft.
Langversion: 15 Minuten bis zu Stunden
Aus dem Kurzversuch oben kann man auch eine längere Experimentierreihe machen. Der Grundgedanke dazu ist es, die zum Abheben der Scheibe nötige Kraft zu messen und dann zu untersuchen, was alles einen Einfluss auf diese Kraft hat. Um die Kraft zu messen, muss man an der Glasscheibe mit einem Kraftmesser oder alternativ mit einer Kofferwaage ziehen können. Um damit an der Glasscheibe angreifen zu können, bietet sich eine Saugvorrichtung, etwas von Saugpfeilen an. Aus dem qualitativen Versuch in der Kurzversion macht man dann einen quantitativen Versuch.[3] Die größte Schwierigkeit dürfte beim Verbinden des Kraftmessers oder der Kofferwaage über einen oder mehrere Saugnäpfe mit der Glasscheibe bestehen. Da muss man sich etwas einfallen lassen. Einige Idee für tiefergehende Fragen:
- a) Welchen Einfluss hat die Wassertiefe (vom Wasserfilm bis vielleicht 5 cm Wassertiefe): Lösekraft = f(Wassertiefe)
- b) Welchen Einfluss hat die Größe der Glasplatte: Lösekraft = f(Glasflächeninhalt)
- c) Welchen Einfluss hat die Zugabe von Spülmittel: Lösekraft = f(Spülmittelkonzentration)
- d) Welchen Einfluss hat die Wassertemperatur: Lösekraft = f(Wassertemperatur)
Eine historische Vorlage testen
Der österreichische Physiker Franz Serafin Exner (1849 bis 1926) war bekannt für seine gut verständlichen und sehr ausführlichen Erklärungen physikalischer Prinzipien. Wer einen guten Einstieg in das Weltbild der klassischen Physik und ihrer sich abzeichnenden Grenzen sucht, dem seien Exners "Vorlesungen über die physikalische Grundlagen der Naturgesetze" sehr empfohlen.[4] Aus diesem Buch kommt die Anregung zum Wasser-Reiß-Versuch:
ZITAT:
E "Es bedarf einer beträchtlichen Kraft, um eine Glasplatte von einer Waseroberfläche abzuheben, wenn dabei die Wassersäule nur einigermaßen gleichzeitig längs des ganzen Querschnittes zerreißen soll. Wäre das zu bewerkstelligen wirklich möglich, so würden wir außerordentliche Kräfte zu einem solchen Zerreißen benötigen. Immerhin läßt es sich expeimentell zeigen, daß dazu mindestens 7 kg/cm², also 7 Atm. notwendig sind[5]; doch stellt das nur eine sehr tiefe untere Grenze dar, die durch die Schwierigkeit des Versuchs bedingt ist."[4]
Mit 7 Atm. meinte Exner ein Vielfaches des atmosphärischen Drucks, also bar.[5] Exner wusste damals noch nicht die tieferen Ursache der wirkenden Kräfte, konnte aber schon gut begründete und experimentell bestätigte Annahmen über manche ihrer Eigenschaften haben:
ZITAT:
"Diese Anziehungskräfte zwischen den Molekülen des Wassers, die dem Zerreißen widerstehen und die wir als die Kohäseion desselben bezeichnen, sind jedesfalls molekulare Anziehungskräfte, deren Wirkungsgesetz uns aber ganz unbekannt ist. Wir können nur sagen, daß dieselben bedeutend sind auf sehr kurze Distanzen, daß sie aber rasch mit der Entfernung abnehmen und in der Distanz von etwa 0,001 mm für uns unmerklich werden."[4]
Die Kräfte, deren Ursachen Exner im Jahr 1919 noch ganz unbekannt waren, fasst man heute unter dem Name Van-der-Waals-Kräfte zusammen, benannt nach Exners Zeitgenossem, dem Niederländer Diderik van der Waals (1837 bis 1923).[6] Es sind letztendlich Kräfte zwischen leicht unterschiedlichen elektrischen Ladungsdichten in der Größenordnung von Atomen und Molekülen. Diese Kräfte nehmen mit der sechsten Potenz der Enfternung ab, sie sind also umekehrt proportional zur sechsten Potenz des Abstandes: verdoppelt man den Abstand zweiter beteiligter Teilchen, so gehen die entsprechenden Kräfte zwischen ihnen um den Faktor 2⁶, also auf ein Vierundsechzigstel zurück. Siehe mehr unter Van-der-Waals-Kräfte ↗
Interessant im Sinne eines Versuchs wäre es nun, die quantitativen Angaben Exners aus dem Jahr 1929 experimentell zu überprüfen: kann man eine Glasplatte so von einer Wasserfläche lösen, dass dabei wirklich etwa 70 Newton für jeden Quadratzentimter nötige sind?
Bedeutung für das Baumwachstum
Zugestigkeit von Wasser
Eine äußerst interessante Folge der hohen Zugfestigkeit von Wasser ergibt sich für die größtmögliche Höhe von Bäumen. Wasser, das frei ist von Gasblasen, soll Zugspannung von 10 Megapascal[2] bis 28 Megapascal[9] aushalten. Für 10 Megapascal wären das 10 Millionen Newton pro Quadratmeter oder tausend Newton pro Quadratzentimer, was einem Gewicht von 100 Kilogramm pro Quadratzentimeter entspräche. Damit könnte man Wassersäulen von einem Kilometer Länge in einem Rohr "aufhängen".[7] Auf jeden Fall sind aber die praktisch in Versuchen gemessenen Zugfestigkeiten von Wasser deutlich niedriger als die Werte vieler theoretischer Abschätzungen.[8][9]
Rolle für Bäume
Bäume müssen Wasser aus ihren Wurzeln bis hin zu den Körperteilen ganz oben in ihrer Krone transportieren können. Sie nutzen dazu feinste Versorgungsröhrchen, deren System als Ganzes man als Xylem bezeichnet. Sind diese Röhrchen ganz mit Wasser gefüllt, und verdunstet dann über die Blätter Wasser, so entsteht ein sogenannter Transpirationssog, der das Wasser in Zusammenwirkung mit Adhäsion an den Innenwänden der Röhrchen dann aufsteigen lässt. Nach den obigen theoretischen Überlegungen müsste die Wassersäule bis zu 1000 Meter hoch werden können. Warum aber findet man keine Bäume, die über 120 oder 130 Meter hoch sind?
Die kosmische Strahlung
Der Grund für das "geringe" Höhenwachstum der Bäume ist die sogenannte kosmische Strahlung oder Höhenstrahlung.[2] Die Höhenstrahlung lässt in dem Wasser Dampblasen entstehen, die die Zugfestigkeit des Wassers deutlich herabsetzen. Das ist der Grund, warum Bäume die rein hydraulisch betrachtet maximale Wachstumshöhe von 1000 Metern in der Wirklichkeit nicht erreichen können. Siehe auch Baumhöhe ↗
Pilze
Auch Pilze sollen die Zugfestigkeit von Wasser in Bäumen herabsetzen können. Eine bestimmte Pilzart soll für ein großes Ulmensterben verantwortlich sein. Die Wirkungsweise sei dabei gewesen, dass der Baumpilz einen Stoff freisetzt, der die Zugfestigkeit von Wasser deutlich herabsetzt. Damit konnten die Ulmen kein Wasser mehr in alle Höhen transportieren und sind letztendlich ausgetrocknet, also verdurstet.[2] Es sei hier aber angemerkt, dass diese Deutung der Wirkung des Pilzes in anderen Quellen nicht bestätigt werden konnte.[10]
Fußnoten
- [1] Die Idee zum Wasser-Reiß-Experiment stammt von Franz Serafin Exner (1849 bis 1926).
- [2] "Wasser, das frei von Dampfbläschen ist, kann Zugspannungen aushalten, die 10 MPa weit übersteigen können. Damit lassen sich vertikale Wassersäulen von über 1 km Länge in einem unten offenen Rohr aufhängen. Die Wasserversorgung von Blättern von über 100 m hohen Bäumen beruht auf der Zugfestigkeit von Wasser. Die effektive Zugfestigkeit kann jedoch durch sich ausdehnende Dampfblasen im Wasser zerstört werden. Dampfdruck und Zugkraft vergrößern die Blasen, die Oberflöchenspannung verkleinert sie. Die durch die Energieabgabe von Höhenstrahlung in Wasser entstehenden kleinen Dampfblasen begrenzen das Höhenwachstum von Bäumen auf der Erde auf ca. 130 m." Sowie: "Das Ulmensterben wird durch einen Pilz verursacht. Dieser Pilz scheidet eine Substanz aus, welche die Oberflächenspannung des Wassers vermindert. Dadurch reißt die entsprechende Wassersäule im Baum ab, und der Baum vertrocknet." Das Zitat stammt aus einem Dokument des "Physik Departments" der ETH Zürich. Das Dokument trägt die Überschrift "9.3.11 Zugfestigkeit von Wasser". Es sind jedoch keine weitere Angaben dazu auffindbar, ob das Kapitel Teil eines Buches, eines Skriptes oder von sonst etwas ist. Neben dem Zitat finden sich ausführlich hergeleitet auch Formeln. Online: https://expweb.phys.ethz.ch/09/03/11/bes.pdf
- [3] Qualitativ heißt so viel wie nur dem Effekt nach, ohne dass man Zahlenwerte erfasst. Quantitativ heißt mit Zahlen-Messwerten. Quantitative Versuche sind in der Regel sehr viel aufwändiger als qualitative Versuche. Siehe auch quantifizieren ↗
- [4] Das Buch ist heute noch antiquarisch oder als Nachdruck erhältlich: Franz Serafin Exner: Vorlesungen über die physikalischen Grundlagen der Naturwissenschaften. Deuticke, Wien 1919, OBV. Der Wasser-Reiß-Versuch ist erklärt in der "48 Vorlesung" über "flüssige Körper" und dort speziell auf Seite 357. Siehe auch Grundlagen der Naturwissenschaften (Exner) ↗
- [5] Ein bar Druck, früher auch als eine Atmosphäre bezeichnet, entspricht rund 100 tausend Newton pro Quadratmeter. 7 Atmosphäre wären dann also 700 tausend Newton nötige Kraft für eine Glasplatte von einem Quadratmeter Flächeninhalt. Da ein Quadratmeter so viel Fläche hat wie 10 tausend Quadratzentimeter, kommt man also auf 70 Newton pro Quadratzentimter. Das entpricht einer Gewichtskraft wie sie 7 kg ausüben würden. Genau das ist auch die Angabe, die Exner in seinem Buch macht. Siehe mehr zur Druckangabe im Artikel bar ↗
- [6] Johannes Diderik van der Waals: Over de Continuiteit van den Gas- en Vloeistoftoestand. Universität Leiden, 1873.
- [7] Auf die 100 Kilometer Säulenhöhe kommt man über die maximale Zugspannung von 10 Megapascal wie folgt: Bei 10 Megapascal wirken 10 Millionen Newton pro Quadratmeter oder 1000 Newton pro Quadratzentimetr. 1000 Newton entsprechen auf der Erde der Zugkraft von 100 Kilogramm Masse. Stellt man sich einen langen dünnen Glaszylinder mit einer Grundfläche von 1 cm² und einer Höhe von 1 km oder 1000 m oder 100000 cm vor, so kommt man über V=G·h als Formel für ein Zylindervolumen auf eine Volumen von 100 tausend Kubikzentimetern. 1000 Kubikzentimeter ergeben zusammen einen Liter. Also kommt man so auf 100 Liter. Ein Liter Wasser aber wiegt etwa 1 kg. So kommt man auf die 100 kg für eine frei hängende Wassersäule mit einer Grundfläche von 1 cm². Siehe auch Zylindervolumen ↗
- [8] Gemessene Zugfestigkeiten (tensile strength) von Wasser sind deutlich geringer als theoretisch abgeschätzte Werte. Als eine Ursache werden kleinste Festkörper als Verunreinigung im Wasser betrachtet: L. Crum: Tensile strength of water. Nature 278, 148–149 (1979). https://doi.org/10.1038/278148a0
- [9] " In the past, three major theories have been proposed to explain the tensile strength ofpure liquids (the term pureliquid is used at the outset tolimit the discussion to situationsfree of impurities, dissolved gases, andwall effects). The first theory is simply that one must overcome the intrinsic internal pressure of the liquid caused by the interactionforces between molecules. This theory has always predicted values which are much too high; inthe case of water at 10 "C, the prediction is 10000 atm compared to the highest experimental value of 280 atm." Eine zweite Theorie nennt eine Zugfestigkeit von 1050 atm. Als wesentlich für die Zugefestigkeit wird der Einfluss von Blasen aus Wasserdampf betrachtet. In: Ho-Young KwakHo-Young Kwak, R. L. Panton: Tensile strength of simple liquids predicted by a model of molecular interactions. November 2000. Journal of Physics D: Applied Physics 18(4):647. DOI: 10.1088/0022-3727/18/4/009
- [10] Als verursachender Pilz für das Ulmensterben wird Ophiostoma ulmi angegeben. Der Wassermangel, so verschiedene Quellen übereinstimmend, werde vor allem durch eine Verstopfung der Wasserleitbahnen bewirkt. Eine Herabsetzung der Zugfestigkeit von Wasser wird dabei nicht erwähnt. Siehe dazu zum Beispiel den Artikel "Ulmensterben" auf Wikipedia (Stand März 2025). Online: https://de.wikipedia.org/wiki/Ulmensterben
ZITAT:
E "Es bedarf einer beträchtlichen Kraft, um eine Glasplatte von einer Waseroberfläche abzuheben, wenn dabei die Wassersäule nur einigermaßen gleichzeitig längs des ganzen Querschnittes zerreißen soll. Wäre das zu bewerkstelligen wirklich möglich, so würden wir außerordentliche Kräfte zu einem solchen Zerreißen benötigen. Immerhin läßt es sich expeimentell zeigen, daß dazu mindestens 7 kg/cm², also 7 Atm. notwendig sind[5]; doch stellt das nur eine sehr tiefe untere Grenze dar, die durch die Schwierigkeit des Versuchs bedingt ist."[4]
E "Es bedarf einer beträchtlichen Kraft, um eine Glasplatte von einer Waseroberfläche abzuheben, wenn dabei die Wassersäule nur einigermaßen gleichzeitig längs des ganzen Querschnittes zerreißen soll. Wäre das zu bewerkstelligen wirklich möglich, so würden wir außerordentliche Kräfte zu einem solchen Zerreißen benötigen. Immerhin läßt es sich expeimentell zeigen, daß dazu mindestens 7 kg/cm², also 7 Atm. notwendig sind[5]; doch stellt das nur eine sehr tiefe untere Grenze dar, die durch die Schwierigkeit des Versuchs bedingt ist."[4]
ZITAT:
"Diese Anziehungskräfte zwischen den Molekülen des Wassers, die dem Zerreißen widerstehen und die wir als die Kohäseion desselben bezeichnen, sind jedesfalls molekulare Anziehungskräfte, deren Wirkungsgesetz uns aber ganz unbekannt ist. Wir können nur sagen, daß dieselben bedeutend sind auf sehr kurze Distanzen, daß sie aber rasch mit der Entfernung abnehmen und in der Distanz von etwa 0,001 mm für uns unmerklich werden."[4]
"Diese Anziehungskräfte zwischen den Molekülen des Wassers, die dem Zerreißen widerstehen und die wir als die Kohäseion desselben bezeichnen, sind jedesfalls molekulare Anziehungskräfte, deren Wirkungsgesetz uns aber ganz unbekannt ist. Wir können nur sagen, daß dieselben bedeutend sind auf sehr kurze Distanzen, daß sie aber rasch mit der Entfernung abnehmen und in der Distanz von etwa 0,001 mm für uns unmerklich werden."[4]