Äthermitführung
Physik
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Basiswissen
Im 19ten Jahrhundert ging man davon aus, dass Licht als Wellenphänom eine materielle Grundlage für die Ausbreitung von Wellen benötigt, so wie Schallwellen zum Beispiel Luft (oder eine andere Materie) benötigen. Den vermuteten Stoff nannte man Äther. Es war dann folgerichtig zu fragen, ob bewegte feste Körper diesen Äther mit sich führen.[1] Bis 1897 konnte kein solcher Beweis experimentell erbracht werden[2], was auch noch einmal 1928 festgehalten wurde[4]. Im Englischen spricht man heute von einem ether drag[4], im Französischen von einem entrainement[6] und im Deutschen von einer Mitführung des Äthers[3]. Diese vermutete Mitführung des Äthers führte zu beachtlichen mathematischen Problemen bei der Ausarbeitung der Äthertheorie.
Mechanistisches Weltbild
Die Theorie von einem materiallen Äther als einer welterfüllenden Substanz, die für das Licht eine ähnliche Rolle spielt wie das Wasser für Wasserwellen, die Luft für Schallwellen und der feste Boden für Erdbebenwellen, ist eine logische und konsequente Folgerung aus der weiten Verbreitung des vom 18ten bis zum 20ten Jahrhundert vorherrschenden mechanistischen Denkens: die gesamte Physik, so der Gedanke, könne letztendlich auf kleinste Bausteine der Welt und zwischen ihnen rein mechanischen Kräften zurückgeführt werden:
ZITAT:
"Alles ist Mittel und Zweck in meinem Körper, alles ist Feder, Rolle, bewegende Kraft, hydraulische Maschine, Gleichgewicht der Flüssigkeiten, chemisches Laboratorium."[8]
"Alles ist Mittel und Zweck in meinem Körper, alles ist Feder, Rolle, bewegende Kraft, hydraulische Maschine, Gleichgewicht der Flüssigkeiten, chemisches Laboratorium."[8]
Was Voltaire im Jahr 1766 beschrieb war ein menschlicher Körper. Und so suchte man überall in den Naturwissenschaften nach den anschaulich, mechanistischen Bausteinen der Welt. Dieses Vorhaben erscheint nahezu natürlich, überträgt man dabei doch nicht mehr als die gut bestätigte Alltagsverfahrung, den gesunden Menschenverstand, auf die gesuchten Fundamente der Physik.
Und ist es konsequent und folgerichtig, dass man auch nach einer mechanischen Grundlage der Lichtwellen zu suchen begann. Dass Licht ein wellenartiges Phänomen ist, galt seit Beginn des 19ten Jahrhunderts unter Physikern als gesichert. Und wenn die Welt im Kleinen nur die Welt im Großen nur eben verkleinert ist, dann kann man schließen, dass sich ...
ZITAT:
"die Himmelskörper durch den Äther bewegen ähnlich wie die Fische eines Teiches durch das Wasser."[7]
"die Himmelskörper durch den Äther bewegen ähnlich wie die Fische eines Teiches durch das Wasser."[7]
Und bleibt man beharrlich im anschaulichen Denken, so wie es die Alltagserfahrung und der daraus gewonnene gesunde Menschenverstand nahe legen, so ist es nur offensichtlich, dass der Äther von einem Körper mitgerissen werden kann, der sich durch ihn bewegt[9]:
ZITAT:
"Aber so wie diese durch Reibung stets eine gewisse menge Wassers mit sich führen, wäre zu erwraten, daß die durch den Äther bewegten Körper Ähnliches tun."[7]
"Aber so wie diese durch Reibung stets eine gewisse menge Wassers mit sich führen, wäre zu erwraten, daß die durch den Äther bewegten Körper Ähnliches tun."[7]
Das physikalische Phänomen, dass auch Gase und Flüssigkeiten, beides sogenannte Fluide, von einer Bewegung mitgerissen werden können bezeichnet man als Viskosität: ziehe mit dem Finger durch flüssigen Honig und du wirst beobachten, dass der Finger auch den Honig etwas abseits seiner eigentlichen Bahn der Bewegung mit sich führt.
Jetzt wäre für einen Naturwissenschaftler der nächste Schritt, diese Mitführung des Äthers und seine Viskosität in einem Experiment nachzuweisen. Doch genau das gelang nicht:
ZITAT:
"Kein Versuch, den Äther durch die Verwendung eines Speichenrades, rotierender Stäbe oder Paddel zu stören, hätte eine Chance auf Erfolg, es sei denn, es existierte eine Spur von etwas, das der Viskosität ähnlich ist, durch die das Medium erfasst werden könnte. Da die vorherige Anordnung der Apparatur ebenso gut wie jede andere geeignet schien, das Vorhandensein einer Spur von Viskosität nachzuweisen, wodurch der Äther in der unmittelbaren Nähe von bewegter Materie früher oder später mehr oder weniger mitgerissen werden sollte [...]"
"Kein Versuch, den Äther durch die Verwendung eines Speichenrades, rotierender Stäbe oder Paddel zu stören, hätte eine Chance auf Erfolg, es sei denn, es existierte eine Spur von etwas, das der Viskosität ähnlich ist, durch die das Medium erfasst werden könnte. Da die vorherige Anordnung der Apparatur ebenso gut wie jede andere geeignet schien, das Vorhandensein einer Spur von Viskosität nachzuweisen, wodurch der Äther in der unmittelbaren Nähe von bewegter Materie früher oder später mehr oder weniger mitgerissen werden sollte [...]"
legte ein negatives Ergebnis der Versuche im Umkehrschluss nahe, dass der Äther nicht viskos ist, zumindest nicht im Rahmen der möglichen Messgenauigkeiten. Dazu passend lautete der Titel der wissenschaftlichen Veröffentlichung des Autoren auch Absence of Mechanical Connexion between Ether and Matter, auf Deutsch so viel wie die Abwesenheit einer mechanischen Verbindung zsichen dem Äther und Materie.
Es ist im philosophischen Rückblick auf diesen Gedanken vielleicht nicht so sehr wichtig, ob er heute noch als physikalisch richtig oder akzeptabel gehandelt wird. Vielmehr interessant ist die streng mechanistische und damit auch anschauliche Denkweise der Physiker. Man hielt damals noch den Anspruch aufrecht, die Welt bis in ihr mikroskopisches Fundament hinein anschaulich begreifen zu wollen. Gut 25 Jahre später, in der Pionierzeit der Quantenphysik, wurde dieser Anspruch dann immer mehr aufgegeben. Siehe dazu zum Beispiel den Artikel über die Kopenhagener Deutung [der Quantenphysik] ↗
Fußnoten
- [1] Äther lässt sich nicht mitführen und zeigt auch keine Viskosität: "[...] no attempt to disturb the ether by using a spoked wheel, or revolving bars or paddles, would have a chance of success, unless there existed a trace of something akin to viscosity by which the medium could be got hold of, and as the previous arrangement of apparatus seemed as well calculated as any other to detect the existence of a trace of viscosity, whereby ether in the immediate neighbourhood of moving matter should sooner or later be more or less carried along by it, no fundamental change in the mode of experiment seemed necessary; only improvement in details, and some modifications, in order to secure a closer and a wider generalisation." Oliver J. Lodge: Experiments on the Absence of Mechanical Connexion between Ether and Matter. Philosophical Transactions of the Royal Society A, 189: 149–166, 1897. DOI: doi:10.1098/rsta.1897.0006
- [2] Der von Lodge 1897 beschriebene Versuch: "the experiments had been conducted with a pair of hard steel disks like circular saws, clamped together on a vertical axis, at a distance apart of one inch. These disks had been spun, at a speed not exceeding 1250 revolutions a minute in the most accurate experiments, and the effect of the motion on a bifurcated beam of light, whose two halves travelled in opposite directions several times round in the
- [3] Max von Laue: Die Mitführung des Lichtes durch bewegte Körper nach dem Relativitätsprinzip. Ann. Phys., 328: 989-990. 1907. DOI: https://doi.org/10.1002/andp.19073281015
- [4] Der Astrophysiker Arthur Stanley Eddington geht noch im Jahr 1927 von der Existenz eines Äthers aus und hält fest, dass er nicht durch Atome beeinflusst zu werden scheint: "Thirty years ago there was much debate over the question of aether-drag—whether the earth moving round the sun drags the aether with it. At that time the solidity of the atom was unquestioned, and it was difficult to believe that matter could push its way through the aether without disturbing it. It was surprising and perplexing to find as the result of experiments that no convection of the aether occurred. But we now realise that the aether can slip through the atoms as easily as through the solar system, and our expectation is all the other way." In: Arthur Stanley Eddington: The Nature of the Physical World. MacMillan, 1928 (Gifford Lectures). Dort "Chapter I The Downfall of Classical Physics". Seite 3.
- [5] Eine gute Übersicht zur Geschichte der Idee von der Äthermitführung gibt die englischsprachige Seite auf Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Aether_drag_hypothesis
- [6] Max von Laue: L'entrainement de la lumière par les corps en mouvement, selon le principe de relativité. Annalen der Physik 328 (10), 1907, pp.989–990. Im Französischen wird der Titel der Veröffentlichung von Max von Laue üblicherweise so übersetzt.
- [7] Im Jahr 1919 schreibt Franz Serafin Exner von "Mitführungserscheinungen". Zunächst erweckt er beim Leser das Bild, dass sich "die Himmelskörper durch den Äther bewegen ähnlich wie die Fische eines Teiches durch das Wasser." Darauf kann man dann folgern: "Aber so wie diese durch Reibung stets eine gewisse menge Wassers mit sich führen, wäre zu erwaten, daß die durch den Äther bewegten Körper Ähnliches tun." Exner deutet dann kurz die mathematischen Folgen dieser Annahme an. Ein Versuch Fizeaus von 1851 hatte, so Exner, die Vermutung eines materiellen Äthers mit "Mitführungserscheinungen" bekräftigt, aber nicht bewiesen. Franz Serafin Exner: Vorlesungen über die physikalischen Grundlagen der Naturwissenschaften. Deuticke, Wien 1919, OBV. Dort die 79. Vorlesung, die Seiten 593 und 594.
- [8] Ganz im mechanistischen Denken und gleichzeitig doch gottgläubig schrieb Voltaire im Jahr 1766: "Tout est moyen et fins dans mon corps, tout y est ressort, poulie, force mouvante, machine hydraulique, équilibre de liqueurs, laboratoire de chimie." Dies, so Voltaire, sei ein Beleg für die Existenz eines intelligenten Schöpfers: "Il est donc arrangé par une intelligence. Ce n’est pas l’intelligence de mes parents à qui je dois cet arrangement, car assurément ils ne savaient ce qu’ils faisaient quand ils m’ont mis au monde; ils n’étaient que les aveugles instruments de cet éternel fabricateur, qui anime le ver de terre, et qui fait tourner le soleil sur son axe." Und weiter vorne noch einmal unmissverständlich: "Nous sommes certainement l’ouvrage de Dieu [...]". In: Voltaire: Le Philosophe ignorant. 1766.
- [9] Wenn Hendrik Antoon Lorenz im Jahr 1895 schreibt, dass man zumindest für dursichtige Körper eine bestenfalls begrenzte Äthermitführung feststellen konnte, dann heißt das im Umkehrschluss, dass die Frage für undurchsichtige Körper noch ungeklärt ist: "Dass durchsichtige Körper sich bewegen können, ohne dem Äther, den sie enthalten, ihre volle Geschwindigkeit mittheilen, beweist Fizeau’s berühmter Interferenzversuch mit strömendem Wasser." In: Hendrik A. Lorentz, Versuch einer Theorie der electrischen und optischen Erscheinungen in bewegten Körpern. Leiden, 1895. Dort im Paragraph § 1, S. 15. Online: https://de.wikisource.org/wiki/Versuch_einer_Theorie_der_electrischen_und_optischen_Erscheinungen_in_bewegten_Körpern