Äquilibration
Beispiele
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Basiswissen|
Zur Idee des Gleichgewichts|
Die Äquilibration|
Selbst-Test|
Persönliche Einschätzung|
Fußnoten
Basiswissen
Als Äquilibration bezeichnete der schweizer Psychologe Jean Piaget (1896 bis 1980) die Herstellung eines neuen kognitiven Gleichgewichts, nachdem das alte Gleichgewicht durch eine neue Erfahrung gestört worden war. Kognitiv heißt hier so viel wie das Wahrnehmen, Denken, Erkennen betreffend oder auch erkenntnismäßig.[1] Die Darlegung hier folgt im Wesentlichen einem Aufsatz von Jean Piaget aus dem Jahr 1975.[2]
Zur Idee des Gleichgewichts
Jean Piaget verglich die Idee eines kognitiven Gleichgewichts zunächst mit verschiedenen Arten von Gleichgewicht in der Physik. Ergänzen wir Piagets Betrachtungen über einige konkrete Beispiele aus der Physik.
ZITAT:
"Abgesehen von der Existenz virtueller Arbeiten unterscheiden sich kognitive Gleichgewichte deutlich von einem mechanischen Gleichgewicht, das sich ohne Veränderungen erhält oder bei einer „Störung“ lediglich eine „Mäßigung“ der Störung, aber keine vollständige Kompensation bewirkt."[3]
"Abgesehen von der Existenz virtueller Arbeiten unterscheiden sich kognitive Gleichgewichte deutlich von einem mechanischen Gleichgewicht, das sich ohne Veränderungen erhält oder bei einer „Störung“ lediglich eine „Mäßigung“ der Störung, aber keine vollständige Kompensation bewirkt."[3]
Ein mechanisches Gleichgewicht liegt zum Beispiel bei einer perfekt ausbalancierten Balkenwwippe im Sinne eines zweiseitigen Hebels vor. Zwei Kinder sitzen so auf einer solchen Wippe, dass der Wippenbalken waagrecht in der Luft steht. Komme nun eine Störung von außen, etwa indem sich ein schwerer Vogel (egal wie unrealistisch das ist) bei einem Kind mit auf die Seite setzt, so können die Kinder durch Umverlagerung ihrer Schwerpunkte das Gleichgewicht wieder herstellen. Piaget merkt dazu an, dass die Störung selbst als Störung aber nicht beseitigt wird. Lesen wir weiter.
ZITAT:
"Noch stärker unterscheiden sie [die kognitiven Gleichgewichte] sich von einem thermodynamischen Gleichgewicht (mit Ausnahme der Reversibilität), das ein Ruhezustand nach der Zerstörung von Strukturen ist."[3]
"Noch stärker unterscheiden sie [die kognitiven Gleichgewichte] sich von einem thermodynamischen Gleichgewicht (mit Ausnahme der Reversibilität), das ein Ruhezustand nach der Zerstörung von Strukturen ist."[3]
Was könnte Piage hier meinen? Das klassische Beispiel ist die Auflösung von einem schönen Kristall, etwa ein schöne Oktaeder aus Alaun, in warmem Wasser. Erst wenn sich der schöne Kristall ganz in Wasser aufgelöst hat, also zerstört wurde, kann das thermodynamische Gleichgewicht erreicht werden. Von diesen mechanischen Arten des Gleichgewichts also unterscheidet sich das kognitive Gleichgewicht. Aber mit welchen Gleichgewichtsarten hat es dann mehr Ähnlichkeit? Lesen wir wieder Piaget:
ZITAT:
"Sie [die kognitiven Gleichgewichte] stehen jedoch den stationären, aber dynamischen Zuständen näher […] mit Austauschprozessen, die in der Lage sind, „eine funktionale und strukturelle Ordnung in einem offenen System aufzubauen und zu erhalten“, und sind vor allem enger verwandt mit den biologischen Gleichgewichten, sei es statisch (Homöostasen) oder dynamisch (Homöorhesen)."[3]
"Sie [die kognitiven Gleichgewichte] stehen jedoch den stationären, aber dynamischen Zuständen näher […] mit Austauschprozessen, die in der Lage sind, „eine funktionale und strukturelle Ordnung in einem offenen System aufzubauen und zu erhalten“, und sind vor allem enger verwandt mit den biologischen Gleichgewichten, sei es statisch (Homöostasen) oder dynamisch (Homöorhesen)."[3]
Die bekannteste Homöostase ist die der konstanten Temperatur im Körperinneren von Warmblütlern, zu denen ja auch der Mensch zählt. Der Zustand ist insofern dynamisch, als der Körper ständig Stoffe, Energie (niedriger Entropie) aus der Umwelt aufnehmen muss, um das Gleichgewicht zu erhalten. Eine Homöorhese, auch Fließgleichgewicht oder dynamisches Gleichgewicht genannt[4], liegt vor, wenn "das System […] auf Umwelteinflüsse zwar mit Fluktuationen [reagiert], aber in seiner Struktur […] unverändert" bleibt.[4] Das klassische Beispiel sind Ökosysteme wie Wälder.
Die Äquilibration
Piaget charakterisiert die kognitiven Systeme dann weiter mit Begriffen wie "zyklisch" und "hierarchisch". Nimmt ein kognitives System neue Objekte in sich auf, ohne dass dabei die eigene Struktur verändert werden muss, spricht Piaget von einer Assimilation.[5] Müssen die kognitiven Strukturen dem neuen Objekt angepasst werden, kommt es zu einer Akkomodation. Bei der Akkomodation werden auch die Prozesse der Assimilation dem neuen Objekt gemäß ausgerichtet.[6]
Ein Beispiel aus dem Mathematik-Unterricht ist die Anpassung alter Denkgewohnheit bei einer Erweiterung des Zahlenbereiches, in den ersten Jahren nach der Grundschule. Grundschulkinder haben oft verinnerlicht, dass "Malrechnen alles größer macht". 3 mal 5 gibt 15. Die 15 ist größer als die beiden ersten Zahlen. Sieht man von der Multiplikation mit der Zahl 1 ab, dann ist der Merkspruch für das Rechnen in der Grundschule richtig. Wenn ein Kind also zum ersten mit einer großen Zahl wie einer Million multiplziert, etwa 2 mal eine Million gibt 2 Millionen, dann hat es dieses neue Objekt, die große Zahl, erfolgreich in die bestehende kognitive Struktur assimiliert: mal macht größer.
Nun aber tauchen in höheren Klassen Rechnungen auf wie 0,5 mal 4 gleich 2. Jetzt ist das alte Gleichgewicht, das Äquilibrium zwischen bisherhigen Denkstrukturen und den Objekten des Denkens gestört. Hier ist das Ergebnis plötzlich kleiner als eine der Ausgangszahlen. Und bei 0,5 mal 0,8 gleich 0,4 ist es noch verwunderlicher: das Ergebnis ist kleiner als jeder der Ausgangszahlen. Oft empfinden Schüler bis hin zum Abitur solche Rechnungen reflexartig als falsch.
"0,5 mal 0,8 gibt 0,4. Das muss falsch sein. Malrechnen macht doch immer alles größer."[7]
Jetzt muss das Kind seine bisherige Denkstruktur anpassen. In der Sprache Piagets ist der neue verstörende Fakt ein sogenanntes Disäquilibrium (déséquilibre). Die bisherige Assimilation versagt. Eine Akkomodation der kognitiven Struktur wird nötig. Eine mögliche Akkomodation ist ein neu formuliertes Rechengesetz: "wenn man nur mit natürlichen Zahlen rechnet, macht malrechnen alles größer. Aber mit negativen Zahlen und Kommazahlen kann das Ergebnis auch kleiner werden." Das ständige Wechselspiel zwischen Assimilation, dem Auftauchen von Disäqulibrien und einer darauf folgenden Akkomodation ergibt zusammen die Äquilibration.
Selbst-Test
Die Physik und die Mathematik bieten viele Anlässe, die Prozesse Piagets an sich selbst beobachten zu können. Wir haben dazu eine Reihe von möglichen Disäqualibrien zusammengestellt:
- Worte die verwirren Alogismen ↗
- Widersprüche an sich Paradoxien ↗
Persönliche Einschätzung
Ob die Begriffe Piagets modernen Theorien des Lernens standhalten können, kann ich nicht beurteilen. Die Lektüre von Piagets Gedanken aber kann dem Praktiker in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen helfen, sehr viel klarsichtiger die vielen nötigen Prozesse des Lernens selbst im Alltag beobachten zu können. Neben diesem praktischen Nutzen ist für mich aber ein spekulativer Gedanke sehr bedeutsam: die Prozesse, die Piaget als Psychologie in der Psyche individueller Menschen beschreibt, kann man auf der Ebene der Gesellschaft auch kollektive Denkprozesse, im Sinne Ludwik Flecks, auf sogenannte Denkkollektive anwenden. Man stelle sich eine kleine Firma zum Handel im Internet vor. Mögliche Waren werden von der Firma in verschiedene Gruppen eingeteilt, etwa ob Zoll beim Versand in ein anderes Land anfällt, ob sie hier oder dort dem Waffenrecht unterliegen und derlei mehr. Neue Waren werden dann in das bestehende Schema assimiliert. Angenommen beim Versand einer bestimmten Warenart kommt es nun zu ständigen Reklamationen, Rücksendungen oder ausbleibenden Zustellungen, so kann man von einem Disäquilibrium des bestehenden Geschäftsablaufes sprechen. Ein anderes Beispiel wäre, dass eine Ware, etwa ein Nahrungsmittel, gleichzeitig auch als Giftstoff klassifiziert werden muss, die eigene Datenbank aber nur ein Entweder-Oder zulässt. Was Datenbanken zulassen oder nicht ist überhaupt ein sehr gutes Analogon für individuelle kognitive Strukturen. In beiden Fällen müssen sich die kognitiven Strukturen der kleinen Firma den neuen störenden Objekten anpassen, sich also akkomodieren. Die Analogie zwischen Individuen und Kollektiven von Individuen ist ein Roter Faden durch viele Stränge von Artikeln in diesem Lexikon. Siehe dazu beispielhaft etwa den Artikel Global Brain ↗Fußnoten
- [1] Kognitiv als "das Wahrnehmen, Denken, Erkennen betreffend; erkenntnismäßig". In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS). Stand vom 31. Oktober 2025. Online: https://www.dwds.de/wb/kognitiv
- [2] Jean Piaget: L’Équilibration des structures cognitives. Presses Universitaires de France. 1975.
- [3] Im französischen Original: "Sauf en ce qui concerne l’existence de travaux virtuels, les équilibres cognitifs sont bien différents d’un équilibre mécanique, lequel se conserve sans modifications, ou, en cas de « déplacement », ne donne lieu qu’à une « modération » de la perturbation et non pas à une compensation entière. Ils diffèrent plus encore d’un équilibre thermodynamique (exception faite de la réversibilité), qui est un état de repos après destruction des structures. Ils sont, par contre, plus voisins de ces états stationnaires, mais dynamiques […] avec échanges capables de « construire et maintenir un ordre fonctionnel et structural dans un système ouvert », et surtout plus proches parents des équilibres biologiques, statiques (homéostasies) ou dynamiques (homéorhésies)." In: Jean Piaget: L’Équilibration des structures cognitives. Presses Universitaires de France. 1975.
- [4] Das Spektrum Lexikon der Geowissenschaftet setzt die Begriffe "Homöorhese", "Fließgleichgewicht" und "dynamisches Gleichgewicht" gleich. In: der Artikel "Fließgleichgewicht". Abgerufen am 31. Oktober 2025. Online: https://www.spektrum.de/lexikon/geowissenschaften/fliessgleichgewicht/4969
- [5] "l’assimilation, ou incorporation d’un élément extérieur (objet, événement, etc.) en un schème sensori-moteur ou conceptuel du sujet." In: Jean Piaget: L’Équilibration des structures cognitives. Presses Universitaires de France. 1975. Siehe auch Assimilation (Lernpsychologie) ↗
- [6] Jean Piaget: "l’accommodation, c’est-à-dire la nécessité où se trouve l’assimilation de tenir compte des particularités propres aux éléments à assimiler." In: Jean Piaget: L’Équilibration des structures cognitives. Presses Universitaires de France. 1975. Siehe auch Akkomodation (Lernpsychologie) ↗
- [7] Seit dem Jahr 2005 unterrichte ich Mathematik. Das Spektrum meiner Schüler reichte von Kindern mit einer starken Dyskalkulie bis hin zu hochbegabten. Das hier geschilderte Paradoxon, die kognitive Dissonanz, dass nämlich Malrechnen kleiner machen soll, spürten aber fast alle beim ersten Kontakt mit Aufgaben wie 0,5 mal 0,8 gleich 0,4. Noch ausgeprägter ist das Disäquilibrium bei der Division, die im Gefühl vieler ja alles kleiner macht. Hier ist das auslösende Disäquilibrium eine Frage wie etwa: "4 geteilt durch was gibt 5?". Daran scheiterten sogar Schüler aus einem Leistungskurs der Mathematik oder Studenten des Maschinenbaus. Siehe mehr zu diesem Beispiel aus der Arithmetik unter Teilungsparadoxon ↗