A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z 9 Ω
Das Banner der Rhetos-Website: zwei griechische Denker betrachten ein physikalisches Universum um sie herum.

Byzanz

(Natur)Wissenschaftlich

© 2016 - 2025




Basiswissen


Wenn wir an die Geschichte der Naturwissenschaften denken, tauchen sofort Namen wie Galileo Galilei, Isaac Newton oder Albert Einstein auf. Vielleicht erinnert man sich auch noch an griechische Denker wie Aristoteles oder Archimedes. Doch ein großes Reich, das fast 1000 Jahre lang zwischen Antike und Neuzeit existierte und viele dieser Schriften bewahrte, wird kaum erwähnt: das Byzantinische Reich.

Das vergessene Reich


Byzanz war das östliche Römische Reich, das nach der Teilung des Imperiums im Jahr 395 mit seiner Hauptstadt Konstantinopel weiterbestand. Es überlebte das Weströmische Reich um fast ein Jahrtausend und ging erst 1453 mit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen unter. In dieser Zeit war Byzanz ein Zentrum für Bildung, Religion, Verwaltung und – nicht zu vergessen – für die Bewahrung und Weitergabe antiken Wissens.

Und doch tauchen byzantinische Denker in vielen Schulbüchern zur Naturwissenschaft nicht auf.[10] Warum ist das so? Auch in einem sehr gut recherchierten und sehr detailreichem Buch zum Wandel des (astronomischen) Weltbildes über die Jahrtausende, wird Byzanz nur beiläufig erwähnt.[10]

Byzanz wurde im Westen lange Zeit als rückständig und konservativ abgewertet. Der Westen interessierte sich mehr für die Werke, die über die islamische Welt nach Europa gelangten. Außerdem passten die byzantinischen Denker oft nicht in das moderne Bild von Wissenschaft: Sie experimentierten wenig, stellten keine neuen Naturgesetze auf, aber sie dachten intensiv nach – und sie stellten Fragen, die auch heute noch faszinieren.

Byzantische Naturphilosophen


Johannes Philoponos – ein Vorläufer von Galileo?


Philoponos lebte im 6. Jahrhundert in Alexandria, damals Teil des Oströmischen Reiches. Er war einer der ersten, der Aristoteles’ Vorstellung widersprach, dass schwere Körper schneller fallen als leichte. Er schrieb: Wenn man zwei Körper mit unterschiedlicher Masse fallen lässt, dann wird der Unterschied in der Fallgeschwindigkeit vernachlässigbar sein.[1] 1000 Jahre später ließ Galileo der Legende nach zwei Kugeln vom Schiefen Turm von Pisa fallen – eine Idee, die Philoponos schon hatte. Philoponos stellte auch folgende Fragen:

  • Wie kann Bewegung bestehen bleiben, wenn kein Antrieb mehr wirkt?[8]
  • Ist das Universum wirklich ewig – oder hat es einen Anfang?
  • Entsteht Wärme aus Reibung des Lichts?[9]

Michael Psellos – Naturphänomene als Fenster zur Seele


Psellos lebte im 11. Jahrhundert in Konstantinopel. Er war ein hochgebildeter Philosoph, Theologe und Politiker. In seinen Schriften beschäftigte er sich nicht nur mit Logik, sondern auch mit Naturphänomenen, etwa Magnetismus und Meteorologie.[2] Fragen, die ihn beschäftigten, waren:

  • Wie kann ein Magnet Eisen anziehen, ohne es zu berühren?
  • Was ist das Wesen des Blitzes?
  • Können Naturphänomene Hinweise auf das Wirken Gottes geben?

Leo der Mathematiker – ein byzantinischer Technik-Tüftler


Leo lebte im 9. Jahrhundert und leitete die Schule von Magnaura in Konstantinopel. Neben Philosophie und Mathematik interessierte er sich auch für technische Geräte. Ihm wird die Konstruktion eines optischen Telegrafen nachgesagt, mit dem Nachrichten durch eine Kette von Türmen übermittelt werden konnten.[3] Er fragte sich unter anderem:

  • Wie lässt sich Licht über große Entfernungen gezielt lenken?
  • Wie kann man Nachrichten verschlüsseln und sicher übermitteln?
  • Kann man mit Spiegeln und Linsen neue Sehweisen erschaffen?

Nikephoros Gregoras – Astronomie zwischen Himmel und Kirche


Gregoras lebte im 14. Jahrhundert und war Astronom, Historiker und Theologe. Er schlug bereits im Jahr 1324 eine Kalenderreform vor, um das Problem der Schaltjahre zu lösen – fast 250 Jahre vor dem Gregorianischen Kalender.[4] Fragen, die ihn beschäftigten, waren:

  • Warum verschieben sich die Jahreszeiten im Kalender?
  • Wie kann man die Bewegung der Himmelskörper mathematisch erklären?
  • Sollte die Kirche ihr Verständnis von Zeit und Kalender anpassen, wenn die Wissenschaft neue Erkenntnisse bringt?

Hypatia von Alexandria – eine Frau in stürmischen Zeiten


Hypatia lebte um 355 bis 415 n. Chr. in Alexandria – einer Stadt, die damals zum Oströmischen Reich gehörte. Sie war Mathematikerin, Astronomin und Philosophin und leitete die platonische Schule Alexandrias. Sie war eine der letzten großen Denkerinnen der Antike und vielleicht die erste Frau, deren naturwissenschaftliche Arbeiten überliefert wurden. Ihre Ermordung durch einen christlichen Mob wurde später zum Symbol für den Zusammenstoß von antikem Wissen und religiösem Fanatismus.[5] Fragen, die Hypatia beschäftigten:

  • Wie kann man die Bewegung der Planeten geometrisch beschreiben?
  • Wie berechnet man die Fläche und das Volumen von komplexen Körpern?
  • Wie lässt sich der Himmel mathematisch ordnen – und was bedeutet das für uns Menschen?

Ihre Schüler berichteten, dass sie das Astrolabium benutzte, um Himmelspositionen zu bestimmen – ein Instrument, das auch in der islamischen und byzantinischen Welt weiterentwickelt wurde. Ihre Arbeiten beeinflussten noch Jahrhunderte später die Kalender- und Planetentheorien.[6] Siehe auch Hypatia ↗

Simplikios von Kilikien – der letzte Philosoph der Antike?


Simplikios lebte im 6. Jahrhundert n. Chr. in Kilikien (heute Südtürkei) und wirkte später in Athen. Als dort die platonische Akademie geschlossen wurde, floh er nach Persien und später ins Byzantinische Reich zurück. Seine Kommentare zu Aristoteles gelten bis heute als eine der wichtigsten Quellen antiker Naturphilosophie. Er versuchte, das Weltbild der Antike mit den neuen Denkweisen des Christentums in Einklang zu bringen.[7] Fragen, die Simplikios stellte:

  • Ist Bewegung absolut – oder immer relativ zu einem Beobachter?
  • Wie kann man Naturvorgänge logisch beschreiben, wenn man keine Experimente machen darf?
  • Ist die Zeit eine unendliche Linie – oder hat sie einen Anfang?

Seine Kommentare zeigen, wie genau er sich mit Naturbeobachtung und mathematischer Argumentation befasste. Er stellte Überlegungen an, die an moderne Fragen der Physik und Philosophie erinnern – etwa: Gibt es eine Leere im Raum? Oder ist das Universum lückenlos gefüllt? Siehe auch Simplikios ↗

Fazit


Byzanz war kein Reich der Labore und Experimente, aber es war ein Reich der Fragen – und viele dieser Fragen haben bis heute nichts an Aktualität verloren. Warum fällt ein Apfel wirklich zu Boden? Kann man Licht lenken? Ist Zeit etwas Absolutes? Die byzantinischen Denker stellten solche Fragen in einer Zeit, in der Europa vieles vergaß, was die Antike wusste. Ihre Antworten sind nicht immer modern – aber ihre Neugier ist zeitlos.

Fußnoten


  • [1] Johannes Philoponos: Against Aristotle on the Eternity of the World, übersetzt von Christian Wildberg, Cornell University Press, 2010.
  • [2] Michael Psellos: Chronographia und naturphilosophische Schriften, zitiert nach Anthony Kaldellis: The Argument of Psellos' Chronographia, Brill, 1999.
  • [3] Friedhelm Winkelmann: Die Schule von Magnaura in Byzanz, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik, Band 24, 1975.
  • [4] Nikephoros Gregoras: Roman History und astronomische Schriften, vgl. auch G. Mercati: Note di letteratura biblica e cristiana antica, Città del Vaticano, 1911.
  • [5] Maria Dzielska: Hypatia of Alexandria, Harvard University Press, 1995.
  • [6] Michael A. B. Deakin: Hypatia of Alexandria: Mathematician and Martyr, Prometheus Books, 2007.
  • [7] Richard Sorabji: Aristotle Transformed: The Ancient Commentators and Their Influence, Cornell University Press, 1990.
  • [8] Johannes Philoponos soll gefragt haben: "Why does an arrow continue to fly after it has left the bow-string, or a stone after it has ceased to be in contact with the hand that throws it?" Und, in dem Versuch bei der Sicht des Artistoteles zu bleiben: "Since Aristotle supposed that [...] whenever there is motion there must be something which imparts the motion, and b) mover and moved must be in contact, he was led to conclude that the air displaced in front of the projectile somehow rushes round it and pushes from behind, thus propelling the projectile along." Weitere Gedanke führten ihn zu der etwas moderneren Sicht, dass es eine Art Impetus, ein Vorläufer der Trägheit gebe: Ein Geschoss (projectile) "moves on account of a kinetic force which is impressed on it by the mover and which exhausts itself in the course of the movement." In: In: Wildberg, Christian, "Johannes Philoponus", The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2021 Edition), Edward N. Zalta (ed.).
  • [9] Johannes Philoponos hatte schon im 6ten Jahrhundert nach Christus vermutet, dass Wärme eine Erscheinungsform oder Wirkung des Lichtes der Sonne ist: "Heat, so he explains, is generated when the rays emanating from the sun are refracted and warm the air through friction." In: Wildberg, Christian, "Johannes Philoponus", The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2021 Edition), Edward N. Zalta (ed.). Dieser Gedanke ist durchaus nicht absurd: tatsächlich erwärmt das Licht der Sonne die Atmosphäre etwa durch seine infraroten oder ultravioletten Anteile. Fasst man die Absorption von Licht mit unter eine sehr allgemein verstandene Idee der Reibung im Sinne einer Wechselwirkung, so trifft der Gedanken Philoponos recht gut auch die heutige Sicht. Siehe zum Beispiel unter Infrarotstrahlung ↗
  • [10] Von den 71 Physikern, die in einer zweibändigen Sammelbiographie Großer Physiker behandelt werden, stammt kein einziger aus dem ehemaligen Byzanz (aber zum Beispiel auch nicht aus China oder Indien). Das Wort Byzanz wird auch im Register kein einziges mal genannt, obwohl es zum Beispiel einen eigenen Beitrag über das "physikalische Weltbild im Mittelalter" gibt. In: Karl von Meyënn: Die Grossen Physiker. Band I: Von Aristoteles bis Kelvin. Band II: Von Maxwell bis Gell-Mann. C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung. München. 1997. ISBN für beide Bände: 3 406 41151 7. Siehe auch Physiker ↗
  • [11] "Die Mittelstellung der Sonne im Ptolemäischen System diente mitunter Herrschern, etwa in Byzanz, zur Identifikation mit diesem Gestirn." In: Jürgen Teichmann: Wandel des Weltbildes. Astronomie, Physik und Meßtechnik in der Kulturgeschichte. Mit Beiträgen von Volker Bialas und Felix Schmeidler. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt. Dort im Kapitel "3.3 Copernicus und seine Nachfolger", Seite 59.