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Schmetterlingseffekt


Philosophie


Grundidee


Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien könnte letztendlich einen Tornado in Texas auslösen: auf diese knappe Formel brachte im Jahr 1972 der Meteorologe Edward Lorenz (1917 bis 2008) die Ergebnisse seiner Computersimulationen für Wettervorhersagen. Hier sind kurz die ursprüngliche Fragestellung von Lorenz sowie einige philosophische Bezüge vorgestellt.

Lorenz' ursprüngliche Fragestellung


Obwohl der englische Computerpionier Alan Turing unter dem Stichwort Lawineneffekt schon 1950[3] die Grundidee des Schmetterlingseffektes beschrieb, war es ein Vortrag des US-Meteorologen Edward Lorenz im Jahr 1972[1], der die Idee weithin bekannt machte. Lorenz differenzierte den Effekt aber auch weiter aus. Ihn interessierte die zeitliche Reichweite (3 Tage? 2 Wochen?) und die örtliche Genauigkeit (Position einer Wolke?) von Wettervorhersagen. Den Flügelschlag eines Schmetterlings betrachtete er dabei sowohl als echten Flügelschlag sowie auch als Stellvertreter für einen örtlich eng begrenzten Fehler oder eine kleine Abweichung in den Ausgangsdaten einer Simulation.

Lorenz ging davon aus, dass ein einzelner Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien sehr wohl beeinflussen kann, ob ein bestimmter einzelner Tornado in Texas stattfinden wird oder nicht. Er wies aber darauf hin, dass viele andere Schmetterlinge oder sonstige Tiere den gleichen Einfluss haben. Das war für ihn wenig strittig. Die Frage, die Lorenz wirklich interessierte war, ob ein einzelner Flügelschlag nicht nur über das Auftreten eines einzelnen Tornados entscheiden kann, sondern langfristig auch das gesamte Wettergeschehen verändern kann (is the behavior of the atmosphere unstable with respect to perturbations of small amplitude?). Lorenz argumentierte mit statistischen Werten[7] und vermutete, dass ein Flügelschlag keinen statistisch nachweisbaren Effekt haben würde (I am proposing that over the years minuscule disturbances neither increase nor decrease the frequency of occurrences of various weather events such as tornados; the most they may do is to modify the sequences in which they occur).

Der Schmetterlingseffekt und Heisenbergs Unschärferelation


Lorenz ging in seinem Vortrag nicht weiter auf die Frage ein, woher die kleinen Fluktuationen im Wettergeschen wie Flügelschläge von Schmetterlingen kommen könnten. Er nutzte den Flügelschlag nur als Platzhalter oder Metapher für solche Mikroereignisse, ganz gleich, wie sie zustande kommen. Für die langfristige Vorhersagbarkeit von Systemen ist es aber durchaus entscheidend, ob Mikroereignisse bis hin zu beliebig kleinen zeitlichen und räumlichen Ausdehnungen nach festen Naturgesetzen ablaufen oder überhaupt sicher messbare Zustände haben. Der Physiker Werner Heisenberg (1901 bis 1976) verneinte das. Mit seiner berühmten Unschärferelation ging er sogar so weit zu sagen, dass es einen submikroskopischen Bereich gibt, in dem physikalische Objekte keinen eindeutigen Zustand mehr haben. Damit könnte man für eine Wettersimulation auch keine submikroskopisch scharfen, eindeutigen Ausgangsdaten mehr festlegen, die zuverlässig auf die Wirklichkeit passen. Solche Unschärfe würden dann im Sinne von Lorenz jede langfristig zuverlässige Vorhersage von Wettererscheinungen eng begrenzen. Hier ist es die physikalische Realität der Quantenwelt, die der Vorhersagbarkeit enge Schranken setzt. Siehe auch Heisenbergsche Unschärferelation ↗

Das Chaospendel als ähnliches Phänomen


Sehr eng verwandt mit der Idee des Schmetterlingseffekts ist das sogenannte Chaospendel: an einem Faden hängt unten ein metallenes Gewicht. Das Pendel schwingt über zwei etwas voneinander entfernt im Boden verlegten Magneten. Der Versuch ist so angelegt, dass das Pendel nach längerem Hin- und Her sowohl bei dem einen als auch bei dem anderen Magneten zum Stillstand kommen kann. Interessant ist nun die Frage: kann man von der Startposition des Pendels ausgehend vorhersagen, bei welchem der zwei Magnete das Pendel zur Ruhe kommen wird? Auch hier haben wie beim Schmetterlingseffekt kleinste Änderungen der Startbedingungen eine Wirkung auf die langfristige Entwicklung des Systems. Die Antwort ist im Fall des Fadenpendels aber vor allem aus mathematischer Sicht komplizierter und interessanter als man zunächst vielleicht denkt. Siehe mehr dazu im Artikel zum Chaospendel ↗

Wider den Determinismus: Turings Lawineneffekt


In einem viel zitierten Artikel[3] über die Fähigkeiten der gerade entstehenden elektronischen Computer verglich der Pionier der Computertechnik, Alan Turing (1912 bis 1954), die Vorhersagbarkeit der Rechenschritte eines digitalen Computers mit der Vorhersagbarkeit des Universums. Er griff dabei die bekannte Matapher vom Laplaceschen Dämon auf. Dieser Dämon, so ein Gedankenexperiment, könnte eigentlich die Entwicklung des gesamten Universums auf Jahrmilliarden und bis in jedes beliebige Detail vorhersagen, wenn der Dämon nur den heutigen Zustand des Universums und alle darin wirkenden Naturgesetze kennen würde. In der Realität des Universums jedoch können kleinste Änderung eines Zustandes große Folgen für die Zukunft haben: ändert man die Lage eines Elektrons um den milliardsten Teil eines Zentimeters, kann das ein Jahr später den Unterschied zwischen dem Tod eines Mannes in einer Lawine und seiner Rettung ausmachen. (The displacement of a single electron by a billionth of a centimetre at one moment might make the difference between a man being killed by an avalanche a year later, or escaping.) In diesem Gedankenbild ist bereits die Kernidee des Lorenzschen Schmetterlingseffektes enthalten. Siehe auch Laplacescher Dämon ↗

Für den Freien Willen: Lukrez' Clinamen


In einem Universum, in dem strikte Naturgesetzte bis in jede denkbare Detailtiefe alle Abläufe starr regeln, hätte ein freier Wille keinen sinnvollen Platz. Das ist der Startpunkt eines Gedankengangs aus der Antike. Mit dem Begriff Clinamen beschrieb der Philosoph Lukrez (99 bis 55 v. Chr.) sinngemäß, wie ein freier Wille Einfluß auf die Welt der Materie nehmen könnte, wenn ihm dazu kleinste Abweichung von festen Gesetzen gestattet wären. Lukrez beschreibt "kleinste Beugungen" (exiguum clinamen) in den Bahnen von Atomen. Solche Abweichungen von ansonsten fest determinierten Abläufen sind eine notwendige Voraussetzung für einen sinnvoll definierbaren freien Willen. Siehe mehr zu diesem Gedanken im Artikel Clinamen ↗

Der Schmetterlingseffekt als Weichenereignis?


Lorenz' Frage, ob eine kleine Änderung in örtlich eng umgrenzten, das heißt lokalen Bedingungen (der Schmetterling) einen Effekt auf statistische Mittelwerte des langfristigen und globalen Wettergeschehens haben könnte lässt sich also in einen größeren phihlosophischen Rahmen stellen: a) unter welchen Bedingungen können kleine Änderungen an einem System langfristig bedeutsame Veränderunge am Gesamtsysystem hervorbringen? Und b) Welchen Bezug hat das für die Frage nach einem Freien Willen in der Welt? Dieser Querbezug ist weiter ausgearbeitet im Artikel zum sogenannten Weichenereignis ↗

Freiheit oder Planbarkeit: die zweiten Seiten des Schmetterlingseffektes


Aus philosophischer Sicht hat der Schmetterlingseffekt also zwei Konsequenzen, die zunächst widerstrebend zu sein scheinen: zum einen wird er als Befreiung von dem Weltbild einer deterministisch, uhrwerksartig ablaufenden Welt verstanden. Der Schmettlingseffekt bringt Freiheit und Offenheit in die Welt. Dazu gegenläufig aber ist das Element der Unvorhersagbarkeit. Wo der Schmetterlingseffekt wirkt, etwa im Wettergeschehen, sind unseren Prognosen enge Grenzen gesetzt. Am Schmetterlingseffekt fokussiert sich damit das Gegensatzpaar aus Vorhersagbarkeit und Freiheit. Dieses Gegensatzpaar ist eng verwandt mit dem Gegensatz von Gemeinschaft und Individualität. Eine spekulative Auflösung dieser Gegensätze bietet die Deutung der Existenz von Naturgesetzen an sich als kollaborative Physik ↗

Fußnoten