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Schachtparadoxon


Bergbau


Grundidee


Teuft man zwei gleich lange Schächte senkrecht nach unten ab, gibt es keine gerade Verbindungslinie zwischen den zwei tiefsten Punkten der Schächte, die senkrecht zu jedem der beiden Schächte ist. Das mag zunächst paradox erscheinen, lasst sich aber über die Kugelform der Erde erklären.

Schritt 1: zwei Schächte abteufen


Die Paradoxie ist nur eine scheinbare. Das was zunächst paradox erscheinen kann, wird jetzt Schritt für Schritt erklärt. Man stelle sich zwei Ort in einer völlig ebenen Landschaft vor. Man kann sich die Landschaft vorstellen von der Seite aus wie einen ebenen Strich vorstellen, etwa einen Bindestrich (–). Der eine Ort liegt dann am linken Ende des Striches, der andere Ort am rechten Ende des Striches. Beide Orte haben dieselbe Höhe über dem Meeresspiegel. Sie können zum Beispiel etwa 4 Kilometer voneinander entfernt sein. An beiden Orten wird jetzt senkrecht nach unten ein Schacht abgeteuft, also eine Art tiefer Brunnen nach unten angelegt. Im Bergbau können solche Schächte problemlos über tausend Meter tief sein. Nehmen wir an, beide Schächte seien je 1000 Meter tief. Man kann sie sich voin der Form her wie sehr lange sehr dünne Strohhalme vorstellen, also sehr schmale Zylinderröhren. Um sicher zu stellen, dass die Schächte auch wirklich senkrecht nach unten angelegt sind, verwendet man ein sogenanntes Senkblei: an einer Schnur hängt unten ein Gewicht. Wenn der Schacht so gebaut ist, dass die Schnur eines Senkbleis über die gesamte Länge des Schachts, von ganz oben bis ganz unten, genau in der Mitte des Schachtzylinders verläuft, dann verläuft der Schacht auch senkrecht von oben nach unten. Von der Seite aus gesehen, also als Querschnitt (Seigerriss) hat man jetzt so etwas wie einen großen Buchstaben Pi aus dem griechischen Alphabet: Π. Der waagrechte Querbalken oben ist die gedachte Erdoberfläche. Die zwei senkrechten Linien links und rechts darunter sind die beiden Schächte.

Schritt 2: eine Verbindungsstrecke unter Tage


Die beiden tiefsten Punkte der Schächte, die sogenannten Sümpfe (weil dort sich Wasser sammeln würde), liegen jetzt beide gleich tief unter der Erdoberfläche. Theoretisch müsste man sie durch eine kerzengerade Strecke verbinden können. Diese Strecke müsste rechtwinklig (90°-Winkel) zu jedem der beiden Schächte stehen. Geht man gleichzeitig vom von jedem der beiden Schachtsümpfe aus in einem 90°-Winkel weg und fährt man jede der zwei Teilstrecken dann kerzengerade auf (etwa mit Laserstrahlen vermessen), dann müssten sich diese beiden Strecken irgendwo treffen und zusammen die gerade Verbindungslinie zwischen den beiden tiefsten Punkten der Schächt ergeben. Würde dieser Gedankengang auf die Wirklichkeit passen, hätte man am Ende von der Seite her gesehen ein Rechteck. Die waagrechte Linie oben ist die Erdoberfläche. Die zwei senkrechten LInien sind die Schächte. Und die waagrechte LInie unten ist die Verbindungsstrecke.

Schritt 3: die Paradoxie


Wenn sich Bergleute an die Anleitung wie oben unter Schritt 1 und 2 beschrieben hielten, hätte die Verbindungstrecke unter Tage tatsächlich einen deutlichen Knick. Die beiden Teilstrecken würde sich nicht so treffen, dass sie zusammen eine gerade Linie ergeben. Das ist paradox, würde man doch erwarten, dass sie es tun. Die interessante Frage ist nun: wo ist der Fehler in dem Gedanken?

Der Fehler im Gedankengang


Ein Ansatz um einen Fehler in dem Gedankengang von oben zu finden ist die Parallelität der Schächte. Strikt nach der Anleitung abgeteuft wären sie nämlich - messbar - nicht parallel zu eineinander. Der eigentliche Gedankenfehler liegt aber noch einen Schritt weiter vorne: die wirkliche Erdoberfläche ist nicht eben, sie wäre in einem Querschnitt gesehen keine gerade Linie sondern ein nach oben gewölbter Ausschnitt aus einem Kreis, ein sogenannter Kreisbogen. Das leuchtet sofort ein, wenn man sich die Erde als Kugel vorstellt und sich klar macht, dass die Oberfläche zwischen zwei Punkten eine Linie auf der Kugelfläche ist. Und von zwei Punkten dann senkrecht nach unten zu gehen, in Richtung eines Senklots, würde dann korrekterweise heißen, dass die Linien beide hin zum Mittelpunkt der Erde zeigen. Damit sind sie aber auch nicht parallel, sondern sie laufen aufeinander zu. Und dann folgt daraus auch, dass eine Linie orthogonal zu einem der Schächte, also in einem 90°-Winkel weg vom Schacht und hin zum anderen Schacht, nicht waagrecht verläuft, sondern wieder etwas schräg nach oben zur Erdoberfläche hin. Dadadurch entsteht dann auch der Knick an der Verbindungsstelle der zwei aufeinander zu getriebenen Teilstücke der Verbindungsstrecke.

Die Auflösung des Paradoxons


Das Paradoxon entsteht nur dann, wenn man sich die Erdoberfläche als wirklich völlig ebene Fläche vorstellt. Stellt man sie sich aber als gewölbten Teil einer Kugelfläche vor, so entsteht das Paradoxon nicht. In Wirklichkeit ist die Erde mehr oder minder kugelförmig. Siehe dazu auch den Artikel zur Idee einer Erdkugel ↗

Das Wasserwaagenparadoxon als Variante des Schachtparadoxons


Im Beispiel vom Schachtparadoxon wurde öfters das Wort waagrecht verwendet. Was genau heißt Waagrecht? Die wörtliche Bedeutung heißt so viel wie "in Richtung einer Waage, so wie eine Waage verläuft". Handwerker benutzen zum Beispiel eine sogenannte Wasserwaage. Das ist eine Art kurzer (von 20 Zentimeter bis etwa 2 Meter) langer gerades balkenartiges Stück aus Holz oder Metall. In einem Glasgefäß sieht man eine Flüssigkeit mit einer Lufblase darinnen. Steht die Luftblase genau zwischen zwei Strichmarken, dann weiß man, dass die Wasserwaage genau waagrecht verläuft, also überhall dieselbe Höhe hat, das heißt kein Gefälle hat. Eine Kugel würde still darauf liegen bleiben, da es in keine Richtung bergab geht. Nun stelle man sich als Gedankenexperiment vor, man hätte viele tausende kleine Wasserwaagen, die untereinander mit Scharnieren zu einer langen Kette verbunden sind. Auf einer perfekt geraden und ebenen Fläche im Weltraum gedacht, könnte man diese Kette so legen, dass sie eine perfekte gerade Linie bildet. Nun legen wir diese Wasserwaagenkette gedanklich auf der Erdoberfläche ab. Da die Erdoberfläche gekrümmt ist, wird es zwischen zwei Teilwasserwaagen als Glieder der Kette immer eine kleine Lücke geben, die ganze Kette bildet jetzt keine Gerade mehr sondern einen Kreisbogen. Dennoch zeigen alle einzelnen Luftblasen der vielen kleinen Teilwasserwaagen eine waagrechte Lage an. Obwohl die die vielen Teilwaagen zusammen nicht auf einer Geraden liegen, liegt jedes Teilstück doch waagrecht. In einer weiteren Variante kann man sich vorstellen, dass die Wasserwaagenkette völlig gerade ausgerichtet wird und dann auf das Flachdach eines senkrecht stehenden Hochhauses gelegt wird. Zu beiden Seiten des Hochhauses soll sie dann einige hundert Meter überkragen. Die Wasserwagenkette bildet dann den querliegenden oberen Balken vom großen Buchtstaben T, das Hochhaus ist der senkrechte Strich. Die Teilwaage genau über dem Flachdach wird anzeigen, dass die Wasserwaage genau waagrecht verläuft. Das werden die zwei Teilwaagen an den Enden der Kette aber nicht, zumindest nicht, wenn sie sehr feine messen können. Wegen der Kugelform der Erde verlaufen die zwei Endstücke nämlich nicht mehr parallel zur Erdoberfläche. Man kann also festhalten, dass man waagrecht im Bezug auf eine Erdkugel am besten als waagrecht zur Kugeloberfläche der Erde definiert[1]. Siehe dazu auch waagrecht ↗

Was ist eine Abduktion?


Der Schluss, dass eine kugelige Erde das scheinbare Paradoxon aufklärt, ist eine klassische Abduktion im Sinne der Logik: als Abduktion bezeichnet man eine Art rückwärts gehenden Gedankengang. Man macht erst eine verblüffende Beobachtung (die zwei Teilstrecken bilden einen Knick). Die Abduktion ist nun das Auffinden einer Annahme, bei der Gültigkeit die beobachtete Tatsache nicht verblüffen würde (die Erde ist kugelig). Der US-amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce (1839 bis 1914) nahm an, dass das der üblichen Denkbewegung des alltgäglichen menschlichen Denkens sehr nahe kommt. Mehr zur Logik dieser Denkweise siehe unter Abduktion ↗

Gab es solche unterirdischen Verbindungen zwischen Schächten wirklich?


Ja, so gab es zum Beispiel bis in die 1990er Jahre ein mehrere Kilometerlange untertägige Verbindungsstrecke zwischen dem Bergwerk Emil Mayrisch in Siersdorf und dem Bergwerk Anna in Alsdorf, beide im Rheinland. Im Ruhrgebiet wurden zum Ende des Steinkohlenbergaus immer mehr ehemals eigenständige Bergwerke zu sogenannten Verbundbergwerken zusammengeführt. Länge Verbindungsstrecken unter Tage waren dann eine logische Konsequenz.

Fußnoten