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Shut up and calculate

Physik

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Grundidee


Shut up and calculate - auf Deutsch so viel wie: halte die Klappe und rechne - ist ein berühmtes Zitat des theoretischen Physikers David Mermin (geboren 1935) aus dem Jahr 1989.[1] Mermin glaubt im Rückblick drei Generationen von (Quantenphysikern) ausmachen zu können: die Pioniere, die völlig verwirrt waren, die zweite Generation, die so tat als sei die Quantenphysik die natürlichste Sache der Welt, und eine dritte Generation, die wenig über die Bedeutung des Ganzen brütete und keine besonders leidenschaftliche Position einnahm. Zu dieser dritten Generation zählt sich auch Mermin. In einer Veröffentlichung bringt er seine Einstellung auf den Punkt mit seinem berühmten 'Shut up and calculate'.

Mermins drei Generationen


Mermin blickt im Jahr 1989 auf drei Generationen von Quantenphysikern zurück. Er glaubt, einen deutlichen Wandel in der Gesinnung ausmachen zu können (attitudes towards quantum mechanics differ interestingly from one generation to the next).

Erste Generation


Die erste Generation seien die Gründerväter (founding fathers) gewesen. Sie haben sich durch ein Durcheinander (welter) von verwirrenden und in sich widersprüchlichen (confusing and self-contradictory) Gedankenkonstrukten (construction) durchgekämpft. Man habe die Theorie, so Mermin, damals als außerordentlich seltsam (extraordinarily strange) empfunden. Doch wenn man einmal erkannt hat, dass der Grund dafür einige tief eingebrannte (deeply ingrained) doch unzulässige (invalid) Denkweisen (modes of thought) sind, und wenn man diese Denkweisen dann verlässt, dann würde man erkennen, dass die Theorie Sinn macht (makes sense) und makellos einfach (perfectly straightforward) sei. Als Beleg für diese Sicht gibt Mermin an, dass Bohr in seinen frühen Schriften oft das Wort irrational gebracht habe, es in seinen späteren Schriften fast gänzlich (almost entirely) fehlt.

Zweite Generation


Die zweite Generation, so Mermin weiter, bestand im Wesentlichen aus den Schülern der Pioniere der ersten Generation (students of the founding fathers). In dieser "postrevolutionären" Zeit seien viele der Sicht gefolgt, dass es mit der Quantenwelt überhaupt gar nichts Besonderes auf sich habe (nothing peculiar about the quantum world at all). Diese Generation habe vehement (ferociously) versucht die Quantenphysik so langweilig und so alltäglich (as boringly ordinary as possible) erscheinen zu lassen.

Dritte Generation


Die Dritte Generation, zu der sich auch Mermin selbst zählt, sei in dem Jahrzehnt nach der Quantenrevolution geboren (Mermin ist Jahrgang 1935). Als Kinder (kids!) habe man die Quantenphysik aus populären Büchern wie denen von George Gamow gelernt.

Mermin bezeichnet sich und seine Generation als deutlich entspannter (much more relaxed) als die zwei vorangegangen Generationen. Wenige würden darüber brüten (brood), was das alles bedeuten könnte (what it all means). Sie würden sich nicht darum kümmern (worry about) wie man "Masse oder Zeit definieren" müsste, wenn man die klassische Mechanik verwendet. In nachdenklichen (contemplative) Momenten würden manche dieser Generation darüber nachdenken, wie wundersam seltsam (wonderfully strange) die Theorie ist, während andere es nicht tun. Aber die meisten aus dieser Generation fühlen sich bedrängt, gelangweilt oder unwohl (irritated, bored, uncomfortable), wenn sie sich dazu äußern sollen, was sie denn wirklich (really) von der Quantenmechanik halten. Mermin ordnet sich dann selbst bei denen ein, die sich unwohl (uncomfortable) fühlen. An dieser Stelle dann kommt sein berühmtes Zitat:


ZITAT:

"Würde man mich zwingen, in einem Satz meine Haltung zur Kopenhagener Deutung zusammenzufassen, dann wäre die Antwort: 'Halt die Klappe und rechne!"[1]


Die Kopenhagener Deutung steht dabei für die Sicht einiger der Gründerväter. Das Stichwort reißt oft tiefere philosophische Fragen an. Dort also taucht es auf, das berühmte "Halt die Klappe und rechne!"[5]. Doch das ist noch nicht ganz Mermins persönliche Haltung. Nach diesem Ausspruch schreibt er in seiner originalen Veröffentlichung von 1989 nämlich etwas sehr Überraschendes. Mermin, schreibt dass er nicht die Klappe halten würde (I won't shut up). Er würde lieber das Seltsame an der Quantentheorie würdigen (celebrate). Denn, so Mermin, die Quantentheorie hat noch einige "interessante Dinge", die sie uns zusagen hat, nämlich über mächtige aber mangelhafte (powerful but flawed) sprachliche und gedankliche (verbal and mental) Werkzeuge, die wir einst für selbstverständlich (granted) hielten und die noch immer auf "subtile Weise" ihr Unwesen treiben (continue to infect our thinking). Noch nicht einmal Bohr, so Mermin, habe diese Lektion vollzogen (extracted these lessons).

Mermin sieht in einer Beschäftigung mit der Quantenphysik die Möglichkeit, einige fesselnde Fragen (intriguing questions) zu erkunden (explore), die uns etwas über die Beschränkungen (limitations) sagen, wie wir über die Welt denken und sie begreifen können (how we think and how we are able to apprehend).

Reaktionen


David Kaiser sieht zwei Gründe für das Desinteresse an Diskussionen über Grundlagen der Physik: a) die enormen technischen Erfolge, die auch ohne Grundlagengespräche möglich waren, und b) die Gewohnheit aus dem zweiten Weltkrieg heraus, pragmatisch Ergebnisse liefern zu müssen:


ZITAT:

"Elegant derivations from first principles — which often proved tractable only when applied to idealized situations — were of little value to the many colleagues who needed to fine-tune electronics components for maximum efficiency... Schwinger rearranged his equations in terms of measurable inputs and outputs, just as his engineering colleagues at the Rad Lab had done with real-world electronics. By recasting the calculation, Schwinger managed to calculate the effects of quantum fluctuations on the electron's energy levels and obtain an answer that matched Lamb's measurement to an extraordinary precision. As it turned out, Japanese physicist Sin-Itiro Tomonaga had accomplished the same goal a few years earlier. Tomonaga's work on radar during the war had proven similarly essential to his theoretical approach. This war-forged pragmatism produced enormously impressive research and influenced a generation of leading scientists... Anything that smacked of 'interpretation', or worse, 'philosophy', began to carry a taint for many scientists who had come through the wartime projects. Conceptual scrutiny of foundations struck many as a luxury. The wartime style was reinforced in the United States by exponentially rising university enrolments after the war. The new classroom realities left little space for informal discussion of philosophy or foundations. The Rad Lab rallying cry of 'get the numbers out' shaded into 'Shut up and calculate!'"[2]


Auch Jean Bricmont sah einen Grund für den Erfolg von Mermins Ethos, das heißt Einstellung, in den großen Erfolgen, die ohne langes Philosophieren möglich waren:


ZITAT:

"You can’t blame most physicists for following this ‘shut up and calculate’ ethos because it has led to tremendous develop­ments in nuclear physics, atomic physics, solid­ state physics and particle physics."[3]


Skepsis gegenüber Mermin zeigen Lucien Hardy und Robert Spekkens. Sie betonen den langfristigen Nutzen einer Beschäftigung mit den Fundamenten:


ZITAT:

"Thinking about foundations pays off in the long run. David Mermin once summarized a popular attitude towards quantum theory as “Shut up and calculate!”. We suggest an alternative slogan: “Shut up and contemplate!”[4]


Persönliche Einschätzung


Mermins Einstellung gefällt mir nicht. Sofern er sein "Shut up and calculate" nur als Beschreibung seiner privaten Haltung beschreibt ist es in Ordnung. Wenn er aber andere zu dieser Haltung missionieren möchte gibt es ein Problem. Mermin wischt in einer großen Handbewegung eine jahrtausende alte philosophische Tradition vom Tisch, nämlich die Frage: inwiefern leiten uns die Inhalte unseres reinen Denkens und die Welt der inneren Anschauungen hin zu wahrer Erkenntnis über die Außenwelt. Anders gesagt: wenn in unserem Kopf Begriff wie Gott, Sehnsucht, Gerechtigkeit, Sinn, Treue, Geist und Seele, aber auch Vorstellungen von Materie, Bestängigkeit, Zeit, Körperlichkeit und derlei mehr auftauchen, können wir dann mit gemeinsam mit Mermin mit Sicherheit davon ausgehen, dass das möglicherweise alles nur Hirngespinste sind? In Mermins Welt, so mein Eindruck, ist die Wirklichkeit ausreichend beschrieben, wenn man Messergebnisse vorhersagen kann. Eine solche Haltung ist aus mindestens zwei Gründen bedenklich bis gefährlich: a) mit ihr verfehlen wir vielleicht die Pointe unseres Seins in der Welt, und b) es ist mein Eindruck, dass viele Schüler in den Klassen 5 bis 10 die Physik für immer verlassen, da sie mit einem Unterricht konfrontiert wurden, der ganz in Mermins Sinne sein dürfte.[6]

Fußnoten


  • [1] Den pragmatischen Zugang zur Quantenphysik soll David Mermin angesprochen auf die Kopenhagener Deutung auf die prägnante Formel gebracht haben: "If I were forced to sum up in one sentence what the Copenhagen interpretation says to me, it would be 'hut up and calculate!'”. Das Zitat stammt aus einer Veröffentlichung dazu, ob die Quantenphysik nun rätselhaft ist oder nicht: N. David Mermin; What's Wrong with this Pillow? Physics Today 1 April 1989; 42 (4): 9–11. DOI: https://doi.org/10.1063/1.2810963
  • [2] Kaiser, David. "History: Shut up and calculate!." Nature 505.7482 (2014): 153-155.
  • [3] Jean Bricmont, quoted in Zeeya Merali, "What is Really Real?", Nature (2015).
  • [4] Lucien Hardy and Robert Spekkens, "Why Physics Needs Quantum Foundations" (2010).
  • [5] Die Übersetzung von "Shut up and calculate!" zu "Halt die Klappe und rechne!" stammt aus: Mike Zeitz: Heisenbergs Meilenstein. In: Spektrum der Wissenschaft. 9.25 (September 2025). Dort auf Seite 40.
  • [6] Die Vermutung, dass ein stark positivistischer, nur auf Mathematisierbarkeit und abstrakte Rechenkonzepte abzielender Physikunterricht letztlich nur ein kleines Häuflein von Schülern um sich schart, die von sich aus schon so denken, aber vielleicht 90 % der an sich auch geeigneten und interessierten Schüler abstößt, das wird ausführlich betrachtet auf der Seite zum Swing away from Science ↗

Siehe auch


Deeper Learning ↗
Kopenhagener Deutung ↗
Physik-Lexikon ↗
Swing away from Science ↗
Wissenssoziologie ↗