R


Polemik


Charakteristika


Definition


Als Polemik bezeichnet man rhetorische Stilmittel in einem Meinungsstreit, die einzig darauf abzielen, die eigene Position durchzusetzen, auch wenn sie sachlich kaum oder gar nicht mit der Realität übereinstimmt. Der Duden charaktirisiert Polemik als „scharfen, oft persönlichen Angriff ohne sachliche Argumente“. Hier werden Stilmittel der Polemik anhand eines realen Gesprächs ausführlich vorgestellt.

Eine Polemik gegen Klimapropheten


"Eine Religion mit Propheten wie Greta - die Hölle!" und "Deutschland, ein Land, das zwar aktuelle Probleme wie Corona lange Zeit kaum in den Griff bekommen konnte, gleichzeitig aber Klimaschutzpolitik quasi zur Religion erklärt - und verklärt. Wo sind wir nur gelandet [...]"

So lautet die Überschrift eines aufgezeichneten Gespräches zwischen den Journalisten Henryk Marcin Broder und Hamel Abdel-Samad vom 25. Juni 2021. Anhand dieses Gespräches lassen sich viele Stilmittel der Polemik aufzeigen.

Henryk M. Broder


Henryk Marcin Broder, geboren 1946, ist Journalist und Publizist. In dem Magazin Die WELT (Axel Springer Verlag) hat er einen festen Platz als Gegner möglicher Beschneidungen individueller Freiheit. Die Schulzeit am naturwissenschaftlich geprägten Hansa-Gymnasium in Köln (1966) schildert Broder in eigenen Worten als traumatisierend: "Sie gehört zu den schlimmsten Erinnerungen meines Lebens. Ich träume noch heute, dass ich das Abitur nicht schaffe. Es war keine Schule, es war ein Zuchthaus[5]." Broder schreibt heute (2021) unter anderem Artikel, die Warnungen vor einem katastrophalen Klimawandel als Größenwahnsinn bezeichnen. Broder macht nicht deutlich, ob er das Ausmaß einer Gefährdung durch einen Klimawandel selbst naturwissenschaftlich seriös beurteilen kann. Zur Durchsetzung seiner Kritik nutzt er unter anderem auch Stilmittel der Polemik.

Hamed Abdel-Samad


Der deutsch-ägyptische Journalist und Intellektuelle Hamed Abdel-Samad, geboren 1972, ist vor allem als Kritiker eines fundamentalistischen Islam bekannt. Er war zeitweise als Berater für die deutsche Politik tätig, zog sich aber aus diesen Tätigkeite wieder zurück. Abdel-Samad vertritt seine Positionen mit Courage und unter persönlichen Risiken. Er wird von vielen deutschen Medien respektiert. Im hier betrachteten Gespräch charakterisiert er den Klimawandel als Produkt einer "Elite", die in einer "Blase" denke. Er zeichnet das Bild einer Elite, die sich gegen den normalen Menschen verschworen habe. Zur Bekräftigung seiner Thesen nutzt auch er Stilmittel der Polemik.

Das Gespräch


Das hier vorgestellte Gespräch fand auf dem Dach eines Hochhauses statt. Im Hintergrund sieht man eine Großstadtlandschaft und eine Brücke, möglicherweise bei Düsseldorf. Das Gespräch verlief unaufgeregt äußerlich sachlich und ruhig. Beide Gesprächspartner stimmten in allen Punkten überein. Selbstzweifel waren an keiner Stelle erkennbar. Der von der WELT ausgestrahlte Abschnitt des Gesprächs dauerte 8 Minuten und 44 Sekunden. An diesem Beispiel werden nun einige typische Stilmittel der Polemik vorgestellt.

Strohmann-Argumente


Man unterstellt dem Gegner Argumente oder Positionen, die er tatsächlich selbst gar nicht vorgebracht hat. Die Klimaaktivistin Greta Thunberg als Prophetin im Sinne einer Religion zu bezeichnen unterstellt ihr, dass sie sich selbst so sieht. Tatsache ist, dass Greta Thunberg gerade nicht religiös argumentiert. Vielmehr verweist sie auf den gesicherten wissenschaftlichen Konsens zum Klimawandel. Dieser Konsens ist seit mindestens 1970 dokumentiert und wird beispielsweise auch nicht von Ölkonzernen angezweifelt. Siehe dazu auch Erderwärmung (Zitate) ↗

Dämonisierung


Die Dämonisierung des Gegeners ist zentrales Mittel von Polemik. Dem Gegner werden ausdrücklich oder durch geeignete Assoziationen bösärtige Absichten unterstellt. Broder liefert hier das klassische Beispiel indem er dem Namen Greta in direkter Nähe das Wort Hölle beistellt. Siehe auch Dämon ↗

Dehnbare Begriffe


Broder behauptet, Deutschland habe die Corona-Pandemie von 2019 bis 2022 nicht in den Griff bekommen. Was genau soll das heißen? Woran will man messen, wie gut ein Land eine Pandemie bewältigt hat? An der Anzahl der zusätzlich gestorbenen Menschen? Mit Hilfe von Wirtschaftsindikatoren wie dem Bruttosozialprodukt? Die Verwendung dehnbar auslegbarer Aussagen gibt dem Zuhörer die Möglichkeit einer flexiblen Andockung. Es drohen dabei aber Resonanzkatastrophen durch fehlende Präzision. Man spricht von einem sogenannten Echoraum ↗

Unscharfe Begriffe


Broder unterstellt, dass Deutschland die Klimaschutzpolitik als quasi Religion verklärt. Wer ist Deutschland (Regierung, Mehrheit, Presse)? Woran erkennt man eine Religion (Götter, Jenseits)? Und was heißt verklären? Broder benutzt hier drei Begriffe, die in ihrer Offenheit so vage sind, dass sich der Zuhörer alles darunter vorstellen kann und erneut die Bildung von Echoräumen droht. In seriösen Debatten wirkt man auf eine Präzisierung von Worten hin, in der Wissenschaft nennt man das auch Explikation ↗

Vermengung von Begriffen


Broder behauptet, dass niemand Corona [die Pandemie 2019] vorausgesehen habe und wechselt dann über zu "die wollen sozusagen das Klima jetzt auf 30 Jahre im voraus festlegen"[5:44 Minuten im Interview, Quelle 2]. Broder verwendet wieder unscharfe Begriffe. Was soll es heißen, dass Corona nicht vorausgesehen wurde? Dass man nicht bereits 1990 exakt den Tag des Ausbruchs oder die Gestalt des Virus vorhersagte? Fakt ist, dass Epidemiologen genau solche Pandemien für jederzeit wahrscheinlich halten. Dann wechselt Broder zur Klimapolitik. Er wirft Klimaforschern vor, das Klima auf 30 Jahre festlegen zu wollen. Tatsächlich definiert das IPCC Klima als Mittelwert über 30 Jahre. Schlägt Broder hier etwa vor, dass man das Klima besser nur für die nächste Woche vorhersagen sollte? Das wäre ein Widerspruch in sich, so als wöllte man das Jahreseinkommen eines Arbeiters für einen Tag angeben. Broder spricht dann weiter von "die" und meint damit wahrscheinlich dieselben Personen, die vermeintlich auch Corona nicht vorhergesagt haben. Wer sind "die"? Alle Wissenschaftler, alle Personen, die nicht bei der WELT arbeiten? Alle Menschen mit Hochschulabschluss? Broders Gesprächspartner Hamad Abdel-Samad greift den Gedanken dann auf und spricht von "Eliten in den Medien und der Politik" und stellt diesen dann gegenüber: die "Bevölkerung". Gehören Klimaforscher mit zu diesen Eliten? Sollen Epidemiologen und Klimaforscher damit als Teil einer Elite dargestellt werden? Das bleibt in dem Gespräch völlig offen, wird aber durch die unvermittelte Aneinanderreihung von Worten nahegelegt. Beeindruckend ist die Selbstsicherheit, mit der Broder ohne Beleg einer Sachkenntnis die Ungefährlichkeit des Klimawandels annimmt. Siehe dazu auch Dunning-Kruger-Effekt ↗

Feinde ausgrenzen


Broder und Abdel-Samad haben nach gut 6 Minuten Gesprächsdauer einen Strohmann konstruiert, der vage aus Wissenschaftlern, Medien und Politikern besteht. Abdel-Samad gibt an, oft nach Deutschland zu reisen und sich dort "mit ganz gewöhnlichen ganz normalen Menschen" zu unterhalten. Broder stimmt zu, dass diese Menschen ganz normal seien. Abdel-Samad führt dann weiter aus, "sie diskutieren noch immer über die tatsächlichen Probleme"[6:29 Minuten, Quelle 2]. Zwei Dinge sind hier bemerkenswert: gilt der Umkehrschluss, dass Wissenschaftler, Politiker und Menschen in den Medien als Personen abnormal sind? Und: gilt auch der Umkehrschluss, dass Corona und der Klimawandel keine echten Probleme sind? Abdel-Samad grenzt dann ausdrücklich aus: "Es gibt die Elite, die sich leisten kann in diesen Blasen zu denken". Und: "Ich glaube, da gibt es schon diese neue linksliberale Religion". Broder bekräftigt diese Sicht über das Wort "Religiosität". Während Abdel-Samad dann von "Propheten wie Greta" spricht und Broder ergänzt "Priesterkaste" fügt Abdel-Samad noch das "Hölle" an. Dort sieht Abdel-Samad dann die Verbindung zur "Identitätspolitik", die er als "Konterrevolution zum Humanismus" sieht. Hier also Humanismus und dort eine Konterrevolution. Eine solche Konstruktion vager Feindbilder erinnert an eine Verschwörungstheorie.

Verschwörungen ausmachen


Obwohl das Gespräch sehr ruhig verläuft, mit häufigen gegenseitigen Bekräftigungen, entsteht hier eine Atmosphäre der Angst und Aggessivität mit klarem Feindbild: "Die", z. B. Wissenschaftler, Medien, Politik. Die Identitätspolitik (also z. B. Klimaforscher?) spiele eine Identiät gegen die andere aus, verfolgt also damit böse Absichten (Dämonisierung). Es werde nicht "das Individuum bestärkt oder ermächtigt". Die Identitätspolitik erinnere Abdel-Samad an den Islamismus, etwa in der Wahl der Sprache "da gehst du in die Hölle, wenn du so was sagst". Abdel-Samad erkennt auch den Wunsch "die Gesellschaften umzuerziehen". "Beide [Islamismus und Identitätspolitik] halten nicht viel von der Freiheit". Die zwei Gesprächspartner zeichnen zunehmend das Bild einer Verschwörung: die Elite will die normalen Leute und andere Gesellschaft umerziehen. Siehe auch Verschwörungstheorie (externer Link)

Emotionalisierung


In Verbindung mit der Behauptung, dass ungenannte Personen (Broder kürzt sie ab mit "die") das Klima auf 30 Jahre voraussagen wollen, fragt Broder: "Was ist das hier für ein Größenwahn, der sich hier entfaltet?". Sachlich hätte Broder auch sagen können: "Ich glaube nicht, dass die bisherigen Klimamodelle die Entwicklung der kommenden 30 Jahre ausreichend gut voraussagen können". Stattdessen wählt der den Begriff Größenwahn, der den Forschern Anmaßung und Realitätsferne unterstellt, eine klassisch polemische Redefigur. An dieser Stelle zeigt Broder aber auch, wie wenig er selbst von Klimaforschung versteht. Dass der Begriff Klima über Mittelwerte definiert wird, die über 30 Jahre gemessen werden und dann modellhaft in die Zukunft extrapoliert werden ist kein Größenwahn oder Mangel dieser Wissenschaft sondern ihre (sehr erfolgreiche) Methode. Bei fehlenden Sachargumenten eher Emotionen anzusprechen ist typisch für eine Polemik. Siehe dazu auch Klima ↗

Rollentausch zur Opferrolle


Zum Ende der Aufzeichnung setzt Abdel-Samad mehrfach Identitätspolitik und Islamismus gleich und unterstellt beiden: "Sie halten viel von Emotionen, sie halten wenig von Vernunft und mehr von Emotionen und mehr von apokalyptischen Vorstellungen." Broder befürchte, dass "die Intellektuellen da abdriften in diesen religiösen diesen apokalyptischen Kategorien des Denkens und sie verabschieden sich Stück für Stück vom Geiste der Aufklärung". Es stellt sich hier die Frage, ob Broder und Abdel-Samad erzählerische Schilderungen einer religiös gefassten Hölle von physikalisch Prozessen der Naturwissenschaft unterscheiden können.

Versuch einer Kostenabschätzung


Das aufgezeichnete Gespräch liefert viele Elemente von Polemik und zeichnet im Keim eine Verschwörungstheorie der Wissenschaftler, Politiker, Medien und Intellektuellen gegen die "normalen Leute". Das Gespräch lässt an keiner Stelle naturwissenschaftliche Fachkenntnisse erkennen, die eine Einschätzung der Gefahren eines Klimawandels rechtfertigen könnten. In einer a-logischen Aneinanderheihung von schwammigen Begriffen entstehen ein Feindbild und ein Vokabular drohender Vereinnahmung durch die Elite. Gleichzeitig wird eine existentielle Bedrohung wie der Klimawandel als "Blase von Intellektuellen" abgetan.

Keine drei Wochen nach der Ausstrahlung des Gespräch ereigneten sich die katastrophalen Regengüssen in der Eifel, den Ardenen und dem Bergischen Land. Seit 1970 haben Energieunternehmen (Total[3]) und Staaten (Australien[4]) nachweislich eine bewusste Strategie verfolgt, Maßnahmen gegen den Klimawandel abzuwenden. Wie sehr haben öffentliche Positionierungen wie die von Broder und Abdel-Samad dazu beigetragen, dass die Erderwärmung nicht mehr aufgehehalten oder kontrolliert werden kann? Wie viele Menschen mehr werden durch die verspäteten Maßnahmen mehr sterben im Vergleich zu einem Szenario, in dem Intellektuelle wie Broder und Abdel-Samad schon frühzeitig auf die Gefahren hingewiesen hätten?

Versuch eines Verständnisses


Ganz am Ende der Aufzeichnung erläutert Abdel-Samad, dass die Identitätspolitik gegen die Aufklärung arbeite. In der Aufklärung hätte sich der Mensch über Vernunft und nicht über Emotionalität definieren müssen, "wo ein Mensch sich von seiner Herkunft distanzieren musste, um sie zu erkennen, um sie auch zu optimieren". Im Gegensatz dazu heute: "Du und deine Herkunft, das ist dasselbe, da musst du das verteidigen, deine Herkunft ist dein Job." Broder bejaht: "Du bist nichts, deine Herkunft ist alles".

Abdel-Samad ist deutsch-ägyptischer Journalist und Publizist, Henryk M. Broders Eltern waren Überlebende deutscher Konzentrationslager zur Zeit des Nationalsozialismus. Broder selbst hatte eine traumatische Zeit an einer naturwissenschaftlich geprägten Gymnasium und wuchs bis 1957 im polnischen Schlesien auf. Machen Broder und Abdel-Samad vielleicht mit guten Gründen gesellschaftliche Tendenzen aus, die einzelne Menschen auf ihre Rolle einer ethnischen Gruppe reduzieren möchten? Wenn dem so sei, stellt sich aber die Frage, wie dann der Bogen zu einer Verleumdung von etwa Greta Thunberg geschlagen werden soll und mit welcher Berechtigung Klimawissenschaft in Zweifel gezogen wird.

Fußnoten


crisis 40 years ago – and fretted about coal exports. Online. 28. November 2021.