Theorien sozialer Evolution
Buchvorstellung
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Basiswissen|
FRAGESTELLUNG|
HANDLICHKEIT|
BILDUNGSSPRACHE|
DER ROTE FADEN|
ENGE AUSWAHL|
BLINDE FLECKEN|
WAS NICHT PASST|
FAZIT|
Fußnoten
Basiswissen
Wie gut können soziobiologische Theorien den wirklich stattfinden sozialen Wandel erklären? Thomas S. W. Müller untersucht prüft die Plausibilität einiger ausgewählter Theorien. Viele Theorien fallen dabei vor allem deshalb durch, da sie keine Unabhängigkeit von Variation und Selektion fordern, wie es nach einem strengen Darwinismus der Fall sein müsste. Müllers Buch ist hier in groben Zügen und mit einigen „Blinden Flecken“ vorgestellt.
FRAGESTELLUNG
Lässt sich das soziale Verhalten von Menschen im Sinne von Darwin erklären? Entwickeln sich Gesellschaften nach den gleichen Gesetzen wie Tierarten? Nach den unglückseligen Auswüchsen des Sozialdarwinismus im 20ten Jahrhundert bejahen das auch heute noch viele Autoren. Sie sehen etwa im sozialen Mem die Entsprechung von einem biologischen Gen. Und überhaupt seien viele soziale Vorgänge letzten Endes darwinistische Selektionsprozesse. Und indem wir etwas nachahmen, etwa die Weise wie man eine Geschichte erzählt, stellen wir ähnlich wie eine DNA Kopien von etwas her. Schnell sieht man in solchen Befunden die Grundzutaten für eine darwinistisch fundierte Soziologie. Ob das gerechtfertigt ist, untersucht der Philosoph Stephan S. W. Müller in dem hier kurz rezensierten Buch.
HANDLICHKEIT
Ich habe das Buch über eine Buchhandlung direkt beim Verlag bestellt. Es wurde schnell und in gutem Zustand geliefert. Die "Theorien sozialer Evolution" erschienen im Jahr 2010 im transcript Verlag aus Bielefeld. Das Taschenbuch umfasst rund 290 Seiten und ist solide gebunden. Etwas unbequem ist die steife Bindung und der eng an die Bindung heranreichende Druck. Man muss schon immer etwas Fingerkraft aufwenden, um das aufgeschlagene Buch auf der aktuellen Seite zu halten.
Es gibt ein Inhaltsverzeichnung und eine knappe Zusammenstellung ausgewählter Literatur. Was ich vermisste waren ein Glossar und ein Stichwortverzeichnis. Um zum Beispiel herauszufinden, ob man etwas zur Idee der Unternehmens-DNA erfährt, muss man das ganze Buch lesen.
BILDUNGSSPRACHE
Das Buch entstand aus einer Dissertation und richtet damit vor allem an Personen aus dem Fach. Worte wie insinuieren, evozieren, analogisieren und Begriffe wie distinkte Prozesse, explantorische Beliebigkeit oder theoriekonstruktiver Nutzen zeigen, dass die Kenntnis einer Bildungssprache vorausgesetzt wird. Dass das den Lesefluss stören kann, spürte ich zum Beispiel bei der mir unbekannten Abkürzungen "RC-Theorie", dem Begriff der "interpretativen Soziologie" oder der räumlich nahen Verwendung von "Akteur" und "Agent". Hier musste ich im Buch selbst nach einer vorangehenden Erklärung suchen oder ins Internet ausweichen.
Der Autor setzt auch eine Kenntnis des akademischen Englisch voraus, wenn er längere Zitate unübersetzt lässt. Gerechtfertigt halte ich das dadurch, dass es bei Müllers scharfsinnigen Deutungen der ursprünglichen Theorien sehr auf die genau Bedeutung von Begriffen ankommt, diese aber in einer Übersetzung oft nicht in Kürze durch eine bloß Übersetzung zuverlässig wieder gegeben werden können.
DER ROTE FADEN
Müller hinterfragt die "Anwendung des darwinistischen Paradigmas auf den sozialen Wandel". Dazu wählt er einige wenige aber in der akademischen Welt anerkannte und um 2010 noch aktuelle Vertreter solcher Theorien heraus. Müller arbeitet dann heraus, dass a) entweder die Begriffe des modernen Darwinismus bei ihrer Anwendung auf soziale Wirklichkeiten keinen rechten Sinn ergeben b) und/oder die für einen Darwinismus geforderte strenge Unabhängigkeit von Variation und Selektion gewährleistet verletzt wird.
Auch eher unbekannte Konzepte der Evolutionstheorie werden von Müller knapp und klar erläutert: gewichteter impliziter Lamarckismus, Übertragung von Memen, Regeln als Evolutionseinheit, Gruppenselektion. Die kurzen Darstellungen befriedigen die Neugier. Die Aufnahme aussagekräftiger Begriffe in Überschriften macht Müllers Buch damit auch zu einem praktischen Nachschlagewerk. Es bleibt aber immer erkennbar, wozu Müller bestimmten Autoren behandelt.
In die knappen aber informationsreichen Darstellungen verschiedener Positionen (egoistischen Gen, Neodarwinismus, Memselektion, Systemtheorie) schaltet Müller dann immer wieder Hinweise zum roten Faden seiner Argumentation ein. Müllers Kritikpunkte - ob man sie teilen will oder nicht - werden damit sehr gut nachvollziehbar. Ich glaube - und hoffe - ich habe am Ende verstanden, was er sagen will. Man kann auch sehr gut erst das kurz gehaltene Fazit am Ende des Buches lesen.
ENGE AUSWAHL
Müller betrachtet "ausgewählte Theorie" zu darwinistischen Deutungen sozialen Wandels, nennt aber kein Kriterium dieser Auswahl. Es finden sich darunter nur akademisch anerkannte und mehr oder minder aktuelle Theorien. Mein Hintergrund ist eher ein naturwissenschaftlicher. Gerne hätte ich über ein Register oder Glossar mehr erfahren über spekulative Theorien wie die des Molekulargenetikers Carsten Bresch (Monon), des Zoologen Hans Hass (Energon), des Allrounders Howard Bloom (Die Evolution sozialer Intelligenz), des Biophysikers, Ökonomen Gregory Stock (Metaman) oder des Mediziners Kazem Sadegh-Sadeh (Machina sapiens), die allesamt sozialen Wandel euphorisch oder dystopisch gefärbt aber immer evolutionär getrieben deuteten. Meine Vermutung ist, dass die gerade erwähnten Autoren vielleicht erfolgreich in ihren Buchauflagen waren, aber in der akademischen Welt keine Anerkennung gefunden hatten. Die von Müller tatsächlich behandelten Autoren scheinen alle ein Mindestmaß an Reputation in den Sozialwissenschaften zu haben.
BLINDE FLECKEN
Müller legt großen Wert darauf, die Annahmen und Schlüsse der von ihm behandelten Autoren sehr klar darzulegen. Das gelingt ihm auch sehr gut. An manchen Stellen fehlte mir aber eine weitergehende Kritik. So stellt Müller gut dar, wie der Philosoph Daniel Dennett für eine darwinistische Evolution fordere, dass diese "intelligenzlos" und "deterministisch" sein müsse. Aber soll man das kritiklos stehen lassen? Soll eine darwinisische Evolution etwa zum Erliegen kommen, wenn die Mutationen nicht mehr deterministisch erfolgen sondern durch echten (Quanten?)Zufall regiert werden? Das macht aus meiner Sicht keinen Sinn.
Auch fehlte mit mehr Kritik als Müller zusammen mit der von ihm vorgestellten Susan Blackmore, argumentierte, dass etwa Tiere nicht zu echter Nachahmung von Verhalten fähig seien, bestenfalls zu einer Dressur. Echte Nachahmung setze nämlich auch ein Verständnis voraus, das man Tieren nicht zugestehen könne. Diese Sicht war aber schon zur Zeit des Erscheinens von Müllers Buch fragwürdig, wie etwa die kulturelle Evolution von Affen, Vögeln oder Walen zeigt. Die enge Fassung des Begriffs der Nachahmung ist aber für Müllers Argumentation insofern wichtig, als Meme in der Kultur eine analoge Rolle zu Genen in der Biologie spielen. Und wenn Meme durch echte bewusste Nachahmung verbreitet werden, so würde das eine "intelligenzlose" Evolution ausschließen. Wo aber solche diskussionswürdigen Prämissen in übergeordnete Argumentationsstränge eingebaut werden, wird der große Gedanke selbst zweifelhaft.
Es wunderte mich auch, dass in Müllers Betrachtungen Unternehmen als Einheit einer Evolution kaum vorkommen. So zitiert Müller den Soziologen Walter G. Runciman mit seinem künstlichen Überbegriff Systac für evolutionär relevante Einheiten und listet auf: Schichten, Klassen, Kohorten, Kasten, Stände, Ordnungen, Interessengruppen, Ränge". Aber dass hier Unternehmen im hoch-selektiven Umfeld einer Marktwirtschaft und mit etablierten Begriffen wie Unternehmens-DNA, schöpferische Zerstörung (Schumpeter) und Evolutionsökonomik fehlen, wird nicht hervorgehoben. Es war aber gerade die Idee, dass Unternehmen im Rahmen einer Marktwirtschaft schon viele Züge einer darwinistischen Evolution zeigen, das mein Interesse auf Müllers Buch lenkte. In diese Richtung hätte ich mir mehr gewünscht.
Und damit komme ich zum letzten Blinden Fleck. Müller bleibt als Philosoph eng an der Beschreibung und Einschätzung bestehender Theorie. Sein Anliegen ist es nicht, eigene Theorien vorzuschlagen oder auch nur Forschungsrichtungen zu wünschen. Das Buch behandelt Theorien, die die Wirklichkeit beschreiben und nicht gesalten möchten. Die Vorstellung, dass man zum Beispiel Unternehmen in einer Marktwirtschaft nicht nur darwinistisch zu beschreiben versucht, sondern gezielt dahingehend gestaltet, fehlte.
WAS NICHT PASST
... wird passend gemacht: an mehreren Stellen weist Müller darauf hin, dass er eine stark abstrahierte Theorie des Darwinismus, eine Algorithmus-Sichtweise als Grundlage seiner Argumentation verwendete. Dass die enge Auffassung des Darwinismus aber nicht mehr notwendigerweise auch auf die reale Biologie von Lebewesen zutreffen muss empfinde ich als Mangel. Müller weist den Mangel auch aus. In einem kurzen Abschnitt gesteht er ein, dass eine reale biologische Zelle "aktiv Einfluss auf ihre DNA nimmt", sie kann "den Umbau von bestimmten Abschnitten des Genoms vornehmen", während sie andere Abschnitte "vor zufälligen Mutationen schützt". Damit aber passt schon die reale biologische Evolution nicht mehr auf das von Müller geforderte abstrakte Modell des Darwinismus. Dafür forderte Müller ja ausdrücklich, dass die Variation (Veränderung der DNA) strikt von der Selektion getrennt bleiben muss. Wenn aber die DNA die Zelle steuert und die Zelle die DNA umbaut, ist die Trennung aufgehoben. Wenn aber diese enge Auffassung von Darwinismus schon nicht mehr auf die biologische Wirklichkeit passt, wozu macht der Autor sich dann die Mühe, sie auf das Soziale übertragen zu wollen? Warum hat er nicht nach einer dann aktuelleren Version des Darwinismus gesucht, die es den Trägern der Erbinformation erlaubt, die eigene Erbinformation umzugestalten? Gerade das hat er ja für eine Anwendung des Darwinismus auf das Soziale ausgeschlossen. Ein wichtiges Stichwort wäre hier Epigenetik gewesen. Meine Vermutung ist, dass die Forschungsprämisse als Dissertationsthema nicht mehr neu aufgerollt sonden nach Plan durchgezogen werden sollte. Wenn dem so war, so war es, denke ich, eine gute Entscheidung. Denn Müllers Gedankengänge blieben so klar und folgerichtig.
FAZIT
Ich werde Müller Buch über darwinistische Theorien des sozialen Wandels ganz sicher dauerhaft in mein Bücherregal aufnehmen. Trotz fehlenden Registers ist es mit seinen aussagekräftigen Überschriften ein gutes Nachschlagewerk. Und ich werde das Buch sicherlich in größeren Abschnitten noch einmal lesen. Ich habe den Eindruck, dass mir nach dem ersten Lesen noch lange nicht alle Pointen Müllers bewusst geworden sind. Ich kann das Buch all jenen empfehlen, die Fachsprache nicht scheuen, eine knappe Übersicht etablierter Theorie suchen und Freude an scharfen Argumenten rund um die Soziobiologie haben.
Fußnoten
- [1] Stephan S. W. Müller: Theorien sozialer Evolution. Zur Plausiblität darwinistischer Erklärungen sozialen Wandels. transcript Verlag. Bielefeld. 2010. ISBN: 978-3-8376-1342-1.