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Zwölf Stunden aus der Ewigkeit


Wangerooge


Grundidee


Zwölf Stunden und 25 Minuten dauert ein sogenannter Tidenhub an der deutschen Nordseeküste. Verbringt man diese Zeit alleine an einem eindrucksvollen Ort im Wattenmeer, breitet sich vorsichtig ein Gefühl der Ruhe und des Mitschwimmens in der Zeit in einem aus. Das ist hier kurz vorgestellt.

Grundidee


Am 12. Juli 2022 verbrachte ich 12 Stunden und 25 Minuten, von 9:50 Uhr am Morgen bis 22:15 Uhr am Abend an einer festen Stelle am Ostende der Dünenkette der Nordseeinsel Wangerooge. An dieser Stelle trafen das Wattenmeer und die offene See aufeinander. Ein große Schiffahrtsroute ging direkt dort entlang. Sportboote, Flugzeuge und Urlauber kamen und gingen.

Der Ort: Wangerooges Ostspitze


Wangerooge ist die östlichste der ostfriesischen Inseln. Sie liegt an einer großen Meeresbucht, der Jade mit dem Jadebusen. Direkt an Wangerooge vorbei verläuft eine der am meisten befahrenen Schifffahrtstraßen der Welt. Der Ostteil der Insel ist sehr schmal, nur wenige hundert Meter breit aber mehrere Kilometer lang. Ganz im Osten, an der Inselspitze, endet der Dünenzug mit breiten Sandstränden im Norden und Watt im Süden. Genau Richtung Osten fällt der Strand bald nach den Dünen steil in eine tiefe Meeresrinne, die Blaue Balje ab. Auf der anderen Seite dieser Meeressrine, in Sichtweite, liegt die unbewohnte Inseln Minsener Oog. Dort wo die Dünen aufhörten und der Sandstrand begann hatte ich mich für die zwölf Stunden nieder gelassen.

Wetter und Atmosphäre


Der ganze Tag war angenehmen warm aber nicht heiß. Es war meistens bedeckt und es ging kaum Wind. An der Dünenspitze war es fast windstill. Die Luft fühlte sich etwas schwül an, aber nicht stickig.

Ebbe und Flut


Zu Beginn stand das Wasser recht hoch. Nach wenigen Zehnermetern vom Dünenfuß aus war man mit den Füßen im Wasser. Gut sieben Stunden später hätte man hunderte Meter trockenen Fußes Richtung Norden oder Süden laufen können. Besonders auffällig war das Absinken des Wasserspiegels, Sportboote fuhren deutlich erkennbar tiefer als bei Hochwasser. Siehe auch Tidenhub ↗

Tiefe Zeit


Die Nordseeinseln in ihrer ungefähren jetzigen Erscheinungsart waren um die Zeit 5000 vor Christus entstanden. Vorher war die Nordsee in weiten Teilen Festland, das sogenannte Doggerland. Man konnte über die 12 Stunden miterleben, wie Wind und Wasser ständig Sand umlagern, neue Formen schaffen, andere zerstören. Diese Vorgänge auf Jahrtausende gedacht führen zur Idee langsamer Veränderungen an der Landschaft. Geologen bezeichnen den Versuch die langen Zeiträume auch gefühlsmäßig zu erfassen als Tiefe Zeit ↗

Am Puls von Gaia?


Ständig fuhren in wenigen Kilometern Entfernung Frachter und Tanker, teilweise mit Längen von bis 400 Metern an der Nachbarinsel Minsener Oog vorbei. Sie kamen oder gingen dabei zu den Häfen an Weser und Außenjade. Die Bewegungen der Schiffe schienen langsam. Doch ein Rechenspiel zeigt, was hier geschiet: ein typischer Containerfrachter mit kann mit rund 20000 Containern beladen sein. Fasst man zwei Container zu einem Sattelzug auf einer Autobahn zusammen und nimmt man für eine einfache Rechnung an, dass jeder Sattelzug bei 80 km/h Geschwindigkeit etwa 100 Meter auf einer Autobahn benötigt, dann kommt man auf 10 Tausend mal 100 Meter, das sind ausgerechnet 1000 Kilometer oder in etwa die Länge von Deutschland. Ein Schiff entladen gibt in etwa eine ununterbrochene LKW-Kette von tausend Kilometern. Was über die 12 Stunden wie ein gemächliches dahin-Schippern aussah ist in Wirklichkeit Teil einer der größten Handelsadern der Erde. Weniger als 20 Kilometer südlich gelegen wird derzeit fieberhaft an einem Schiffsentladeterminal für Gastanker gebaut. Man will sich unabhängig von Gasimporte aus Russland machen. Nicht an der Ostspitze von Wangerooge ließ darauf schließen, dass weige Kilometer entfern ein Schauplatz der gegenwärtigen Weltpolitik liegt. Die Idee, dass die Erde wie ein Lebewesen mit Adern und anderen Organen durchzogen sein könnte nennt man auch die Gaia-Hypothese ↗

Respekt für die Natur


Gegen Mittag waren auffällig viele Insekten am Platz des Autoren, vor allem Libellen, Fliegen und auch eine größere Spinne. Ich wollte die Spinne photographieren, doch sie rannte schnell aus Angst davon. Solche unscheinbaren Erlebnisse erinnern daran, dass man sich im Lebensraum eigener anderer Lebewesen befindte, die ihre eigenen Interessen und Abenteuer haben. In diese Lebenswelten nicht zu tief störend einzudringen war während der gesamten 12 Stunden ein ständig spürbares Grundgefühl. Ein gutes Beisiel für einen respektvollen Umgang mit anderen Lebewesen ist die nahegelegene Vogelinsel Memmert ↗

Stonehenge auf Wangerooge


Als es gegen den späten Abend dunkel wurde, bot sich ein atemberaubender Anblick: über den hoch aus dem Sandboden herausragenden Pfählen des alten Ostanlegers ging der Mond dunkelrot auf. In nur einer Minute war er sichtbar weiter gewandert. Die Szenerie erinnerte an Bilder der steinzeitlichen Anlagen von Stonehenge im Süden von England. Man kann sich leicht vorstellen, wie unsere Vorfahren längere Zeit an einem Ort saßen und dabei beobachteten, wie sich die Himmelskörper an Bäumen, Felsen oder anderen Markierungen vorbei bewegten. Von hier ist es gedanklich nur ein kleiner Schritt, bewusst Strukturen zur Beobachtung der Bewegung von Himmelskörpern zu konstruieren. Siehe auch Freiäugig ↗


Die Unterschrift deutet an, dass dieser Artikel stark auch die persönliche Meingung des Autoren wiedergigbt.

Original-Notizen von vor Ort


Während der 12-Stunden-Sitzung vor Ort auf der Insel machte ich Notizen in einem Papierheft. Die letzte Notiz machte ich mit Anbruch der Dunkelheit gegen vielleicht 20 Uhr. Da ich keine Uhr dabei hatte, haben die Notize auch keine Zeitangabe. Sie sind aber chronologie aufsteigend angeordnet. Gelegentliche Zeitangaben stammen von der Uhr der Kamera, die ich aber nur selten nutzte.


Bilder zu diesem Tag


Viele Bilder der hier beschriebenen Szenen sind auf Wikimedia hochgeladen und stehen dort in der Kategorie Natur auf Wangerooge: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Nature_of_Wangerooge