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Soziointegrative Degeneration (Nutzen)


Gesellschaft


Einführung


Gerade dadurch, dass sich einzelne Individuen zurückentwickeln ist dem Kollektiv der Weg eröffnet, insgesamt gesehen leistungsfähiger zu werden. Hier steht eine Liste möglicher solcher Effekte, wie gerade durch die individuelle Rückentwicklung das Ganze besser werden kann.

a) Ressourcenschonung


Nichts lernen, was Maschinen billiger können: die meisten Schulstysteme weltweit bieten mehr als 10 Jahre Schulzeit als Standard an. Schüler, Lehrer und ein oft großer Verwaltungsapparat verwenden viel Zeit auf das Erlernen von Sprachen, der Mathematik oder anderer Fächer. Selbst unter der Annahme, dass es letztendlich zu guten Lernerfolgen kommt, kann man die Frage nach dem Nutzen stellen: wozu soll jemand das Lösen quadratischer Gleichungen erlernen, wenn es später in kaum einem Beruf wirklich benötigt wird? Wozu soll man Englisch lernen, wenn für alle praktischen Zwecke Übersetzungsroboter Sprache simultan übersetzen können? Ein Kollektiv im Wettbewerb mit anderen Kollektiven, etwa Volkswirtschaften untereinander, müssen ihre Ressourcen klug einsetzen, um im Wettkampf bestehen zu können. Ein Land, dass in Schulen alle Lerninhalt abschafft, deren Nutzeffekt billiger von Maschinen erbracht werden kann, hätten darwinistich gesehen einen Evolutionsvorteil. Die theoretische Voraussetzung für diesen Effekt ist die sogenannte Gruppenselektion ↗

b) Robustheit


Dumme kann man leicht ersetzen: Die F-35 ist ein US-amerikanischer Kampfjet mit einem Triebwerk, 1930 km/h schnell, 15,7 Meter lang und zum Tragen von Atombomben fähig. Die Kosten pro Stück lagen 2020 bei rund 80 Millionen Euro. Eine türkische Kampfdrohne vom Typ Bayraktar TB2 kostet hingegen weniger als 2 Millionen Euro. Für einen Jet kann man über 40 Drohnen kaufen. Fällt ein elektronische Bauteil in dem teuren Kampfjet aus, ist die gesamte Kampfkraft zunichte. Fällt ein elektronisches Bauteil in einer Drohne aus, ist - bei denselben Kosten - nur ein Vierzigstel der Kampfkraft vernichtet. Insbesondere wenn ein kollektiv schwarmartig aus vielen möglichst primitiven Einzelindividuen aufgebaut ist, ist der Schwarm als Ganzes recht robust gegen die Zerstörung einzelner Komponenten. Sind die Individuen untereinander sehr änlich, kann die Funktion eines ausgefallenen Individuums leicht von anderen Individuen übernommen werden. Man spricht von Robustheit und Redundanz. Dieser Effekt setzt aber voraus, dass die einzelnen Individuen kein besonders hohes Maß an Individualität haben. Siehe auch Personalität ↗

c) Kontinuität


Blasse Leute halten den Apparat stabil: Arbeitsplatzbeschreibungen, Industriestandards, Qualitätsmanagement, Assessment Centres, Corporate Identity oder ein Code of Conduct (Verhaltenskodex): in Unternehmen gibt es viele Mechanismen, die dem einzelnen Mitarbeiter bis hin zu höheren Führungskräften klare Signale geben und feste Zwänge auferlegen, wie er sich zu verhalten hat. Und das macht Sinn. Angenommen eine Mitarbeiterin in der Arbeitsplanung eines größeren Steinbruches soll täglich eine Liste von Materialien erstellen, die aus dem Materiallager entnommen werden sollen. Diese Liste muss einerseits an Mitarbeiter des Lagers weitergeleitet werden, sodass diese das Material vorausschauend nachbestellen können. Gleichzeitig soll immer eine Kopie an die Werkstatt gehen, sodass man dort abschätzen kann, welche Reparaturen möglicherweise anstehen. Für einen reibungslosen Betriebsablauf ist es hilfreich, dass die Liste immer gleich aufgebaut ist und immer an die gleichen Personen versandt wird. Eine individuelle Gestaltung der Liste oder die eigenmächtige Verschickung an einen anderen Verteilerkreis könnte mehr Schaden als Nutzen bringen, auf jeden Fall bringt es Unruhe in der Betrieb. In der Regel stecken Unternehmen ihren Mitarbeitern einen mehr oder minder kleinen Bereich ab innerhalb dessen sie Individualität und Kreativität zum Ausdruck bringen können. Jenseits der Grenzen sind aber Konformität und Fremdbestimmung (extrinsische Motivation) gefragt. Nur so kann die Kontinuität aller Betriebsabläufe sicher gestellt werden.

d) Fokussierung im Denkkollektiv


Es wird immer wieder - möglicherweise zu unrecht - darüber geklagt, dass sich die Menschen eines Landes über zwei Monate hinweg für einen bestimmten Krieg interessieren. Und dann plötzlich, wenn sich die Schlagzeilen in den Medien ändern, weicht das alte Interesse einem neuen Thema, etwa einem Sportereignis. Kaum ein Individuum stemmt sich gegen solche Umschwünge im öffentlichen Interesse, viele bemerken es nocht nicht einmal. Der große Nutzen liegt darin, dass über einen bestimmten Zeitraum hinweg eine Gesellschaft oder ein Unternehmen als Ganzes auf ein Thema fokussiert bleiben kann. Dadurch stehen allen Interessierten über eine längere Zeit gleichzeitig viele Aspekte, Meinungen und Fakten zur Verfügung um damit zu Arbeiten. In der Analogie mit einzelnen Menschen könnten man hier von einem sozialen Arbeitsgedächtnis und von einem Denkkollektiv[18] sprechen. Zu einem solchen gemeinsamen thematischen Fokus kann es aber nur kommen, wenn sich die einzelnen Individuen auf ein übergeordnetes Thema einlassen, das sie nicht selbst vorgeben müssen. Was aus Sicht des Individuums wie eine Degeneration erscheint, ermöglicht es dem Kollektiv seine Aufmerksamkeit zu steuern. Siehe auch Denkkollektiv ↗

e) Arbeitsteilung


Der Autor Yuval Noah Harari[4] argumentiert, dass mit dem steinzeitlichen Übergang von der Jäger-Sammler-Struktur menschlicher Gesellschaften hin zur sesshaften Lebensweise und der Ausbildung von Städten das Los des einzelnen Menschen durchaus schwieriger geworden sein konnte. Krankheiten, Aggession aufgrund der Enge, stupide Arbeitsabläufe und die Ausbildung hierarchischer Machstrukturen trugen nach Harari möglicherweise zu einer Abnahme individueller Lebensqualität bei. Gleichzeitig beschreibt er, wie diese arbeitsteilig organisierten Gesellschaften als Ganzes aber an Macht gewannen. Eine solche Gegenläufigkeit von individuellem Potential einerseits und organisationaler Effizienz andererseits charakterisiert auch den Prozess der soziointegrativen Degeneration. Mehr dazu unter Arbeitsteilung ↗

Fußnoten


Asanger Verlag 1989.