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Seelische Misshandlung (Didaktik)


Schulgewalt


Grundidee


„Wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre […] geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“ kann man von struktureller Gewalt sprechen[1]. Führt diese Gewalt zu seelischen Schäden kann man bei von seelischer Misshandlung sprechen. Eine Schülerin bezeichnet ihr eigenes Erleben von Schule knapp als „zerstörerisches Lernen“. Das soll hier kurz an einem Beispiel aus der Wirklichkeit vorgestellt.

Ein Beispiel aus dem Schulalltag


Die folgende Definition zur stochastischen Unabhängigkeit ist stammt aus einem Arbeitsblatt für Schüler der Einführungsphase (drittvorletztes Jahr vor dem Abitur):

„Zwei Ereignisse E und F heißen stochastisch unabhängig, wenn gilt: PE(F) = P(F|E) = P(F). Nach der Pfadregel gilt stets: P(E∩F) = P(E)·PE(F). Daraus folgt: Zwei Ereignisse E und F sind genau dann stochastisch unabhängig, wenn gilt: P(E∩F) = P(E)·P(F).“

Diese Aufgabe sollte von einer Schülerin gelöst werden, die diagnostiziert mit einer Dyskalkulie kämpft. Zu der Zeit dieser Hausafgabe lernte sie (erfolgreich), wie man drei Viertel von 600 oder auch 99 Prozent von 800 berechnet. Die völlig anschauungsfreie Abstraktion aus den Hausaufgaben ließ ihr keine Chance einer eigenständigen Arbeit.

Damit sollen Hausaufgaben gelöst werden


Zu dieser Definition gab es auf dem Arbeitsblatt keine weiteren Erklärungen. Direkt in Verbindung mit dieser Definition fanden sich dann Aufgaben. Eine Aufgabe lautet, dass man die Definition in eigenen Worten wiedergeben solle. Danach folgten Textaufgaben. In einer Textaufgabe ging es um die Ergebnisse einer Befragung zu den Wünschen von Besuchern einer „Kneipe“: wie viele der befragten männlichen Gäste wollen zur Entspannung lieber Musik hören und wie viele lieber einen James Bond Film sehen? Dieselbe Befragung wurde auch unter Frauen durchgeführt. Es folgten dann rechnerisch zu lösende Fragen nach den bedingten Wahrscheinlichkeiten. Die einzige Hilfestellung war die Definition von oben.

Anspruchsvoll für einen promovierten Ingenieur


Ich - als Autor dieser Zeilen - bin promovierter Ingenieur und unterrichte seit dem Jahr 2005 Mathematik und Physik. Ich halte mich selbst nicht für übermäßig intelligent aber auch nicht für ganz auf den Kopf gefallen. Ich erinnere mich gut daran, wie ich das Konzept der stochastischen Unabhängigkeit erst lange nach dem Studium kennen lernte. Ich brauchte mehrere Monate intensiver Beschäftigung um es zu verstehen. Ich musste dabei immer wieder nachsehen was die Kürzel P(F|E) bedeuten. War es die Wahrscheinlicheit von F in Abhängigkeit von E oder war es die Wahrscheinlichkeit von E in Abhängigkeit von E? Ich weiß aus ständiger Wiederholung, dass das mathematische Zeichen ∩ für die Schnittmenge steht und ein großes P oft für eine Wahrscheinlichkeit (probability). Dennoch konnte ich die Definition oben nicht leicht lesen und bequem verstehen. Ich halte eine solche Definition als erste und einzige Erklärung für die meisten Schüler für eine Überforderung. Damit ohne weitere Hilfe selbst Hausaufgaben zu lösen, deren Erledigung notenrelevant ist und eventuell überprüft wird, bringt über die Hilfslosigkeit auch ein Moment der Brutalität in die Situation.

Selbstest als Hilfe einer Einschätzung


Wenn Sie als Leser Abitur haben, haben sie mehr Hintergrundwissen als die meisten Kinder in der Einführungsphase der Oberstufe. Mit dem Abitur wurde Ihnen bestätigt, dass Sie allgemein gebildet sind und ein Mindestmaß an Auffassungsgabe besitzen. Sie dürften immerhin jeden Studiengang in Deutschland damit studieren. Man darf im Umkehrschluss damit von Ihnen verlangen, dass sie Texte verstehen können, die Kinder in der Einführungsphase zur Oberstufe - zweieinhalb Jahre vor dem Abitur - bearbeiten müssen. Nehmen Sie sich einmal die Zeit, die Definition oben in eigenen Worten wiederzugeben. Nehmen Sie vielleicht sogar das Internet zur Hilfe. Schreiben Sie einen kleinen Text, den Sie dann einem anderen Erwachsenen mit Abitur vorlegen können. Kann dieser Ihre Definition verstehen? Können Sie mit ohne fremde menschliche Hilfe die Hausaufgaben des Aufgabenblattes lösen?

Hausaufgaben als dauerhaftes Versagens-Erlebnis


Eine Schülerin unserer Lernwerkstatt brachte das oben beschriebene Arbeitsblatt mit. Es stellte die Hausaufgabe dar. Damit wurde das Thema stochastische Unabhängigkeit in der Schule begonnen. Die Schülerin hatte weder eine Möglichkeit nachzuschlagen was P(F|E) bedeutet, noch war sie vertraut mit Konzepten wie Wahrscheinlichkeit, Bedingtheit oder relative Häufigkeit. Einige Fachbgegriffe sind zwar im Unterricht erklärt worden, aber nicht verinnerlicht und trainiert. Auch muss man in einer durschnittlichen Schulklasse von ein bis drei Kindern mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie rechnen, das heißt, es gibt Kinder, die große Schwierigkeiten mit dem Lesen von Texten oder mit grundlegenden Zahlkonzepten (was gibt 3 durch 2?) haben können. Egal, ob mit oder ohne Dyskalkulie oder Legasthenie: aus unserer Erfahrung wird kaum ein Jugendlicher eine Möglicheit haben, diese Hausaufgaben ohne fremde Hilfe zu lösen. Solche Situationen erleben wir nicht als gelegentlichen Einzelfall sondern als Schulalltag. So stellt sich bei vielen Kindern über die Jahre eine tiefsitzende Resignation ein: ich kann das nicht, ich verstehe Mathe nie. Warum verstehen andere das nur ich nicht? Solche Sätze hören wir nicht selten. Eine andere Schülerin bezeichnet ihr Erleben der Schule prägnant als „zerstörerisches Lernen“.

Nachhilfe wird zur dauerhaften Systemstütze


„Das von Bund und Ländern geplante Nachhilfeprogramm zeige, dass die Politik endlich begriffen habe, dass Nachhilfeinstitute Teil des Schulsystems seien“ argumentierte im Jahr 2021 Cornelia Sussieck vom Bundesverband Nachhilfe- und Nachmittagsschulen, im Deutschlandfunk. Wurden in den 1970er Jahren im Schnitt nur unter 5 Nachhilfeinstitute in Deutschland pro Jahr gegründet, waren es in den 1980er Jahren schon über 5 und in den 2000er Jahren schon weit über 15 Institute pro Jahr[3, Seite 60]. Nachhilfeanbieter sehen eine Befragung zufolge ein Versagen der Schule, angemessene „Fördermaßnahmen zum Ausgleich von Leistungsunterschieden“ anzubieten und ausreichend angepasste „Lernmethoden“ zu vermitteln[3, Seite 108]. Das können wir aus Sicht der Lernwerkstatt bestätigen. Doch obwohl Nachhilfeeinrichtungen florieren und Eltern immer mehr privates Geld in die Schulausbildung stecken, mussten bundesweit 27 % aller Kinder und Jugendlichen wenigstens einmal wegen Verhaltens- oder Entwicklungsstörungen in ärztlicher Behandlung[5].

Aus Dauerüberforderung wird ein negative Selbstbild


Einer Umfrage unter Anbietern von Nachhilfe, dass eine wichtige Ursache für Nachhilfe in „individu-
ellen, fachspezifischen Leistungsschwächen“ der Schüler zu sehen ist[3, Seite 108]. Der springende Punkt hier ist, dass die Ursache hier bei den Schülern gesehen wird. Das können wir aus fast allen Telefonaten mit Eltern bestätigen. Als Grund für die gewünschte Nachhilfe werden häufig genannt: Lernlücken seitens der Kinder, ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, fehlende Lernstrategien, Bequemlichkeit, Pubertät oder fehlende Selbstvertrauen. Wenn der Grund in den Kindern gesehen, wird dort auch die Lösung gesehen: die Kinder müssen in die Nachhilfe gehen, regelmäßiger Üben, eine andere Einstellung entwickeln, sich besser strukturieren und so weiter. Doch was, wenn die Kinder alles tun, was die Erwachsenenwelt von ihnen verlangt und die Noten dann immer noch nicht besser werden? Ist es dann nicht folgerichtig, dass etwas mit ihnen nicht stimmt?

Das Welkes-Pflanzen-Syndrom als Gleichnis


Die britische Psychologin Sanah Ahsan formulierte ein sehr passendes Gleichnis: wenn eine Pflanze welk wird käme niemand auf die Idee, ihr ein Welkes-Pflanzen-Syndrom zu diagnostizieren und die Probleme in der Pflanze zu suchen. Man sucht die Ursachen in den Lebensbedingungen: hat die Pflanze genug Wasser? Kriegt sie genug Sonne? Ist sie von Parasiten befallen. Doch wenn Kinder ernsthafte schulische oder sogar seelische Probleme haben, durchlaufen sie plötzlich Test nach Test. Anders als bei Pflanzen, sucht man bei leidenden Menschen die Ursachen heute nicht in den schlechten Lebensbedingungen sondern in den Menschen selbst. Ahsan schlägt dann vor, diese Sicht umzudrehen: wenn man psychisch krank wird, könnte es auch sein, dass das Umfeld nicht stimmt. Ahsan spielt dies am Beispiel von Erwachsenen durch, die angesichts von Klimakrise, Inflation und Corona real überlastet sind und daran leiden. Der Schlüssel zur Heilung, so Asahn, liegt nicht in der Selbst-Optimierung, in Achtsamkeitskursen oder der richtigen inneren Haltung. Der Schlüssel liegt in der Politik, in der Umgestaltung der Verhältnisse, die krank machen[4].

Gibt es objektive Belege für eine seelische Misshandlung?


Zumindest nicht an dieser Stelle hier: die Schilderungen beruhen auf den eigenen Beobachtungen als Schüler, Lehrer an Schulen sowie Inhaber der Lernwerkstatt in Aachen. Aber einige Zahlen scheinen zumindest als Indizien auf eine Überforderung von Kindern hinzuweisen.

Inwiefern ist die Misshandlung strukturell?


Kinder, die objektiv überfordert sind, bekommen entweder Nachhilfe oder sie bleiben dauerhaft überfordert. Es gibt unserer Beobachtung nach keine Instanz, an die sie sich erfolgreich im Sinne einer dauerhaften Verbesserung der Lage wenden können. Lehrer können immer darauf verweisen, dass die Aufgaben so im Lehrplan stehen, dass andere Kinder es ja verstehen oder dass man halt im Stoff schnell vorangehen müsse. Eltern halten sich meist für fachlich ungeeignet, die Schwierigkeit zu überprüfen oder für wirklungslos gegenüber Schulen. Schulbehörden stellen nach außen oft die Leistungen ihrer Bundesländern heraus, schweigen sich aber weitgehend über solche Dinge aus. Schulbuchverlage liefern nur auf Bestellung und scheinen nicht systematisch selbst zu überprüfen, wie gut Schüler mit den Arbeitsunterlagen zurecht kommen. Letzten Endes bleibt es die Aufgabe vieler Kinder, eine eigene Lebenshaltung zum Gefühl zu entwickeln, ständig unzureichend zu sein (schon wieder reine 5!).

Was sollte getan werden?


Der Schulstoff wie er in Lehrplänen festgeschrieben ist stellt möglicherweise eine massive Überforderung vieler Schüler und Lherer dar. Ein erster wichtiger Schritt wäre es, zu überprüfen, was Schüler wirlich im Unterricht lernen. Zentralprüfungen in der jetzigen Form halten wir dafür für nicht geeignet. Wir erleben immer wieder Studenten des Maschinenbaus mit guten Abiturnoten in Mathematik, die grundlegende Aufgaben wie 712 geteilt durch 4 nicht lösen können. Statt Grundlagen zu trainieren mussten sie vielleicht ihre Zeit damit vertun, Definitionen von stochastischer Unabhängigkeit wie oben zu bearbeiten? Das der Autor hier nicht der einzige mit einer solchen Einschätzung ist zeigt der Brandbrief 2017 ↗


Die Unterschrift deutet an, dass dieser Artikel stark auch die persönliche Meingung des Autoren wiedergigbt.

Fußnoten