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Intellektuelle Integration


Evolution


Basiswissen


Das rasante Anwachsen der Menschheit, die Verstädterung und verschiedene systemtheoretische Überlegungen lassen eine Degeneration, eine intellektuelle Verarmung des Menschen befürchten. Der Evolutionsbiologe Carsten Bresch sieht das anders. Er sieht in diesen Vorgängen eher Anlass, für mehr Vielfalt und Individualität. Das ist hier kurz vorgestellt.

Evolutionstheoretischer Hintergrund


Der Molekulargenetiker und Evolutionsbiologie Carsten Bresch (1921 bis 2020) entwarf das große Bild einer Evolution, die in mehreren großen Schüben immer höhere Stufen der Komplexität erklimmt. Nachdem tote Moleküle (Replikatoren) belebte Zellen gebildet hatten, und die Zellen sich zu Organismen zusammengefügt hatten, durchläuft nun der Mensch eine weiteren Evolutionssprung hin zu einem planetaren Überorganismus, dem Monon. Bresch sieht diese Entwicklung durchaus positiv. Siehe dazu auch seine Theorie zum Monon ↗

Staat und Individuum: ein Spannungsfeld


Bresch erkennt an, dass es ein Spannung zwischen Staat und Individuum gibt: „Die Indudstriegesellschaft, die uns allen ein leichteres und bunteres Leben ermöglicht, muß ihrerseits vom einzelnen eine Einfügung in das System […] So leben wir mit Sozialabgaben, Lohn-, Grund- und Gewerbesteuern, mit Schulpflicht, Parkverboten und roten Ampeln, mit polizeilicher Meldepflicht und Führerschein-Prüfungen. Auch dies sind die Folgen der Integration, die der frühe Mensch nicht kannte. Aber diese Schranken der Freiheit sind nicht nur Folge, sondern zugleich Grundlagedes wachsenden Spielraums.“[1, Seite 246]

Droht nicht ein Verlust der Individualität?


Bresch sieht die Sorge einiger, dass die Vernetzung der Menschen zum „Ende aller Individualität“ führen könnte[2, Seite 248]. Wir werden „alle überschüttet mit den gleichen Druckerzeugnissen und Fernsehsendungen“. Und er fragt, ob wir nicht alle die gleiche „geistige Kost“ konsumieren, wie wir auch alle die gleichen Industriewaren verbrauchen. Gabe es jemals zuvor einen „Druck von intellektueller Gleichmacherei“? Bresch hat solche Ängste nicht geteilt. Sie wurden prägnant formuliert von Stanislaw Lem[2] und Kazem Sadegh-Zadeh[3]. Siehe dazu unter dem Stichwort soziointegrative Degeneration (Soziologie) ↗

Bresch sieht die Individualität wachsen


Bresch hat den Eindruck, dass die Menschen mehr unterscheidbarer untereinander werden. Der eine, so Bresch, „weiß viel über das mittelalterliche Italien, ein anderer über die Geschichte der russischen Revolution, ein dritter über brasialianischen Fußball“ und so fort. Bresch sieht unsere Zukunft als Teil eines „intellektuellen Organismus“[2, Seite 250], und „die individuelle Existenz des Menschen wird im Monon eine heute unvorstellbare Steigerung erfahren […] Der Mensch als integrierender Teil des Monon wird also in weit gewachsener Freiheit, gesichert durch das Netz der von allen für das Ganze getragenen Verantwortung, diesen Reichtum individueller Verschiedenheit nicht etwa nur tolerieren und respektieren, sondern diese Individualisierung mit all seinen Kräften weiter zu steigern trachten. Maximales Wachsen harmonischen Musterreichtums wird im Monon die Zielrichtung aller Anstrenung sein.“[2, Seite 251]

Kritik: Kollektiver und individueller Nutzen sind oft ungleich


Bresch sieht den zukünftigen Menschen als Teil eines harmonischen Ganzen. Die Teile und das Ganze haben beide ein Interesse am gegenseitigen Wohlergehen. Diese Grundannahme übersieht möglicherweise einige beständige Phänomene in Überwesen bestehend aus Untereinheiten. So kümmert sich ein menschliches Individuum wenig um das individuell Wohlergehen einer einzelnen Körperzelle. Wer hat schon Mitleid mit den unterlegenen Immunzellen bei der erfolglosen Abwehr feindlicher Bakterien? Wer würde aus Solidarität mit seinen Zellen vor einer Schönheitsoperation zurückschrecken? Einen guten Einstieg über systemisch und biologisch motivierte Zweifel an der symbiotischen Koexistenz von Über- und Unterwesen gibt der US-amerikanische Denker Howard Bloom ↗

Kritik: verkürzte Auffassung von Glück oder Sinn


Breschs Optimismus stützt sich vor allem auf eine wachsende Vielfalt von individuell möglichen Leben, verbunden mit einem Anwachsen individueller Freiheit. Nicht mitbetrachtet hat Bresch andere menschliche Grundbedürfnisse wie Aufmerksamkeit, Gemeinschaft oder auch Wirkmächtigkeit. Tatsächlich beklagen manche, dass gerade in städtischen Kulturen echte menschliche Zuwendung Mangelware sei. Auch ist zu hinterfragen, ob welche Erfüllung ein letztendlich frei gewählter Lebenstil bieten kann, wenn gleichzeitig der anteilige Einfluss der Einzelnen alleine schon numerisch bei wachsender Anzahl schwinden muss. Siehe auch Sinn ↗

Fußnoten