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Echoraum


Kommunikation


Basiswissen


Als Echoraum bezeichnen die Kommunikationswissenschaften Gruppen von Menschen - und zunehmend auch Maschinen - die sich nur gegenseitig bestärkende Aussagen zuspielen und andere Aussagen aktiv abriegeln. Das ist hier kurz mit einer dramatischen und einer pragmatischen Folge erläutert.

Beispiel: religiöser Fanatismus


Am 18. November 1978 brachten sich 909 Mitglieder der Sekte Peoples Temple im Land Guyana (Südamerika) gegenseitig um oder wurden von einigen ihrer Angehörigen zum Selbstmord bewegt. Die Sektenmitglieder hatten vorher oftmals Suizidübungen durchgeführt. Man geht davon aus, dass einige der Mitglieder den Tod nur als Übergang in eine andere Seinsstufe betrachteten. Der Fall trägt heute den Namen Jonestown-Massaker und ist ein Beispiel für eine kommunikative Resonanzkatastrophe. Von einem Echoraum kann man deshalb ausgehen, weil die späteren Ermittlungen zeigten, dass innerhalb der Gruppe abweichende Meinungen aktiv unterdrückt wurden. Möchte man die negativen Wirkungen eines Echoraums betonen, spricht man auch von Gruppendenk ↗

Beispiel: wissenschaftliche Selbstbeschränkung


Im Jahr 1862 veröffentlichte der Physik Lord Kelvin eine Abschätzung des Alters der Erde. Mit nur 24 Millionen lag er weit unter dem heutigen Wert von 4554 Millionen Jahren. Er ging aber wissenschaftlich exakt und methodisch vor: er griff sich zunächst nur einen Gedankengang heraus, nämlich wie schnell eine ursprünglich glutflüssig heiße Erde bis auf ihre heutige Temperatur abgekühlt wäre. Thomson beschränkte sich mit seinen Fragen wissend, dass er wesentliche Dinge damit übersehen könnte (z. B die damals noch unbekannte Radioakvitität). Wissenschaftler bilden oft Denkkollektive, das heißt Kommunikationsgruppen, in denen man sich auf handhabbar wenige Fragestellungen und Grundannahmen beschränkt. Andere Fragestellungen oder Paradigmen (Grundannahmen) werden aktiv als unwissenschaftlich odre uninteressant abgeriegelt. Nur so wird die Überfülle an Denkmöglichkeiten für den einzelnen Menschen oder eine Forschungsgruppe überhaupt erst praktisch handhabbar. Ein Echoraum hat hier also eine durchaus wünschenswerte Wirkung. Ein Selbstkorrektiv solcher naturwissenschaflticher Echoräume ist der ständige Zwang, alle Aussagen an Experimenten oder Naturbeobachtungen bestätigen zu müssen. Möchte man einen Echoraum neutral oder eher positiv bewerten eignet sich auch das Wort Denkkollektiv ↗

Beispiel Rassismus in den USA


Im Jahr 1917 schrieb der Antrhopologe A. L. Kroeber eine längere Betrachtung zu der Frage, ob das Individuum eher seine Gesellschaft oder die Gesellschaft eher das Individuum beeinflusst. Als Beleg für die letztere Position beschrieb Kröber kurz die mentale Gebundenheit weißer Südstaatler in den USA an ihr Kollektiv: "It is practically futile, for instance, to even touch the question with an American from the Southern states, or one tinged by Southern influences, no matter what his education or standing in the world. The actual social cleavage, which is fundamental to all life in the South, and which is conceived of as mainly a race question, is so overshadowing and inevitable that it compels, for the individual almost as firmly as for his group, a certain line of action, an unalterable and conscious course of conduct; and it could not well be otherwise that opinions with flagrantly clash with all one's activities and with all the associated ideas should arouse hostility. It is then but naturallif the Southerner frequently receives the profession of racial equality, when it can be made to carry the conviction of sincerity to him, as an affront, and that he often meets even the most abstract, impersonal and judicial consideration, of the issues involved, with resentment, or, where this is checked by courtesy, with internal dissatisfaction.[8]" Kroeber verweist dann noch auf die Haltung der Europäer in ihren damaligen Kolonien: "The attitude of the Englishman in India, of the continental European in his colonies, is perhaps less extremely manifested, but all accounts indicate that it is no less settled.[8]" Das Beispiel des Rassismus der Engländer in Ostasien wurde gut 10 Jahre später von dem englischen Schriftsteller George Orwell lebensnah beschrieben[9].

Beispiel Fake News (1978)


Im Jahr 1978 hielt der Science Fiction Autor Philip K. Dick einen sehr bemerkenswerten Vortrag. Darin beschrieb er Jahrzehnte vor dem Internet als Massenmedium, wie sich Menschen gegenseitig in ihren Scheinwelten bestätigen. Ich habe hier versucht, Dickes Original Sätze sinngemäß ins Deutsche zu übersetzen: "Das Bombardement mit Schein-Realitäten beginnt schnell nicht-authentische Menschen zu erzeugen, fadenscheinige Figuren - so falsch wie die Information, die sie von allen Seiten bedrängt. […] Schein-Realitäten bringen Schein-Menschen hervor. Oder, Schein-Menschen erzeugen Schein-Realitäten, die sie dann an andere Menschen weiter verkaufen, wodurch sie diese letztendlich zu Fälschungen ihrer selbst machen. So enden wir bei Schein-Menschen die sich Schein-Realitäten ausdenken, mit denen sie bei anderen Schein-Menschen hausieren gehen[11]." Was Dick hier beschreibt, begegnet uns auch als Verschwörungstheorien, oder, mit dem Anstrich des akademischen als Pseudowissenschaft ↗

Welche Mechanismen führen zu einem Echoraum?


Alle Prozesse, die aus der Fülle aller möglichen Fakten und Meinungen gerichtet nur bestimmte Richtungen herausfiltern, tragen zur Entstehung eines Echoraumes bei. Hier stehen einige solche Mechanismen.

Echomechanismus: Mitglieder werben Mitglieder


Die sogenannte Anti-Zensur-Koalition ist eine Organisation, die behauptet, dass "die Massenmedien keine vertrauenswürdigen Diener der Öffentlichkeit"[4] mehr sind. Unter diesem Motto veranstaltet sie zum Beispiel Konferenzen. Zu diesen Konferenzen kann man aber nur gelangen, wenn man von Mitgliedern aus der örtlichen Nähe seines eigenen Wohnortes eingeladen wird. Wörtlich heißt es auf der Internetseite: "Die Teilnahme an einer AZK-Konferenz ist nur über einen persönlichen Kontakt in ihrer Nähe möglich." Dies sei aus "Sicherheitsgründen" nötig. Über diesen Mechanismus ist es möglich, Andersdenkende Personen von einer Teilnahme aktiv auszuschließen. Als Beispiel für die Inhalte der AZK siehe unter Hartmut Bachmanns CO2-Aussage ↗

Echomechanismus: Gruppenhassen


Als Trolle bezeichnet man Menschen oder Computerprogramme, die im Internet aggressiv Meinungen und Persönlichkeiten angreifen, niedermachen und zu verletzen versuchen. Das Ziel ist es, die Äußerungen unerwünschter Meinungen zu unterdrücken. Der englische Schriftsteller George Orwell beschrieb, dass in seiner Zeit (1930 und 1940er Jahre) gerade linke politische Gruppen Abweichler in ihren eigenen Reihen aggressiver angehen, als ihren eigentlichen politischen Gegner. So erzeugt eine Gruppe Konformitität.

Automatische Filtermechanismen


Hat man einige Bücher auf der Internet-Plattform Amazon bestellt, so erhält man bald Vorschläge für andere Bücher, die einen auch interessieren könnten. Dabei vestärken die Algorithmen im Hintergrund vorhandene Interessen auf Kosten von Empfehlungen, die eher nicht zu einer Kaufhandlung führen. Auf Social Media Plattformen werde auch ganze Gruppen von Stichworten genutzt, um Inhalte zu filtern. So soll die chinesische Plattform TikTok im September 2022 folgende Worte für eine Unterdrückung von damit verbundenen Inhalten genutzt haben: Alkohol, Angriff, Anlass, Armee, Auschwitz, Bodentruppen, Corona, Crystal Meth, Ecstasy, Energie, Entnazifizierung, ernähren, FLINTA*, getötet, homophob, homosexuell, Kampf, Kampfjets, kiffen, Klimakrise, Klimawandel, Krieg, kämpfen, Nationalsozialismus, Panzer, Peng Shuai, produzieren, queer, Rauchen, Risiko, Rohstoffe, Russen, Russland, Sauerstoff, saufen, Spezialoperation, symptomatisch, Terroristen, trans*, Truppen, Ukraine, Ukrainer, Völkerrecht, Warn-App, Wettkämpfe. Der Dienstleister selbst habe eingeräumt, dass er Filtermechanismen nutze, etwa um Spam-Beiträge auszublenden.[7]

Soziale Milieubildung


Der Autor dieser Zeilen hier ist von der Ausbildung her Ingenieur. Ihm fiel um 2005 auf, dass ein Großteil der Bekannten und Freunde ebenfalls Ingenieure oder Naturwissenschaftler waren, zumindest aber einen Hochschulabschluss hatten. Dies war nicht das Ergebnis einer bewussten oder gewollten Auswahl. Gleichzeitig fiel auf, dass auch etwa die Vorlieben für Getränke (eher Bier statt Wein), Kleidung (schwarz, keine Markenartikel) sowie die Wahl des Wohnortes (Reihenhaus-Vorortsiedlungen) und auch politische Ansichten (Umweltschutz, Bescheidenheit) sich stark mit Vorlieben des eigenen Bekanntenkreises deckten. Der französische Soziologe Pierre Boudieu machte ähnliche Beobachtungen in seinem Umfeld: durch viele kleine Vorlieben im Alltag kommt es, dass wir soziale Milieus ausbilden, die gemeinsam Werte und Ansichten haben und im Umkehrschluss andere auf Distanz halten[5].

Welche gewünschten Effekt kann ein Echoraum haben?


Echoräume werden meist als schädlich für die Gemeinschaft und auch für ihre Teilhaber dargestellt. Durch die gemeinschaftliche Ausblendung von Realität können sie zu krassen Fehleinschätzungen führen[6], sowie auch einzelnen Personen interessante Pespektiven und Lebenswege vorenthalten. Doch wenn eine Gruppe mehr Nutzen davon haben kann, gemeinsam in eine Richtung zu denken als alternativ verschiedene Denkrichtungen auszuloten, dann kann ein Echoraum nützlich sein. Abweichende Interessen sind dann vor allem eine Ressourcenverschwendung. Siehe als spekulative Idee dazu auch den Artikel über neuronal-organisationale Aufmerksamkeit ↗

Wie kann man für sich dem Echo-Kammer-Effekten entgegenwirken?


Zwei Grundhaltungen helfen dabei, nicht selbst Opfer einer Resonanzkatastrophe in einem Echoraum zu werden: a) eine kritische Grundhaltung gegenüber allem, was ins eigene Weltbild passt und b) das aktive Treffen von Gruppen und Personen mit gänzlich anderen Ansichten als den eigenen. Letzteres kann auf Dauer sehr anstrengend sein. Hier stehen noch einige Ideen, welche bewährten Methoden der Wissenschaften man für sich selbst im Alltag nutzbar machen könnte:


Quellen und Literatur