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Do electrons think


Physik


Basiswissen


Im Jahr 1949 lebte der österreichische Physiker und Nobelpreisträger Erwin Schrödinger im irischen Dublin. Seit seiner Flucht vor den Nationalsozialisten im Jahr 1933 lebte und wirkte er vor allem im englischsprachigen Raum. 1949 entstand eine rund 14 Minuten lange englischsprachige Tonaufnahme Schrödingers. Darin äußert er sich unter dem Titel „Do Electrons Think“ zur Physik des Freien Willens. Der Text hier ist auf Deutsch zusammengefasst und kommentiert.

Ist der Mensch ein Automat?


Schrödinger beginnt seinen Gedanken mit einer klaren Ablehnung der Idee, dass Elektronen denken können. Doch der Gedanke habe in verkleideter Form Anhänger gewonnen. Die Idee denkender Elektronen soll die Frage klären, ob der Mensch bloß ein Automat. Unser Körper sei genauso belebt oder unbelebt wie die restliche Materie. Nirgends konnten Physiologen einen Hebel finden, mit dem der Geist (mind) die Materie (matter) bewegen könne. Der Geist, so Schrödinger, könne weder Klavier spielen noch einen Finger bewegen. Dieses Bild vom Menschen als bloßem Automaten wurde bereits im Jahr 1748 gefasst in einem Buch mit dem klaren Titel Die Maschine Mensch ↗

Die Physik und der Freie Wille


Physikalisches Denken, so Schrödinger, sei von den Beginnen in der griechischen Antike an mit der Idee verbunden gewesen, dass nichts ohne Grund passiere. Alles was passiert füge sich ein in eine ewige Abfolge von Ursachen und Wirkungen, streng geregelt von unverletzbarer Naturgesetzlichkeit. Dieses Denken habe bis zum Ende des 19ten Jahrhunderts vorgeherrscht. Siehe dazu auch den Artikel zur Kausalität ↗

Nur zweimal habe es in der Geschichte ein Verlassen des Glaubens an die strikte Kausalität gegeben. Zum ersten Mal im antiken Rom bei den Naturphilosophen Epikur und Lukrez. Diese Denker erlaubten ihren Atomen eine kleine Abweichung von naturgestzlich vorgeschriebenen Bewegungen. Und zum zweiten Mal angezweifelt wurde die strikte Kausalität im frühen 20ten Jahrhundert mit der Geburt der Quantenmechanik ↗

Fehlende Kausalität und der Freie Wille


Beide Male als Naturphilosophen glaubten, die strikte Kausalität sei in der Welt der Physik aufgehoben, wurde dies als Beseitigung der Hürden für einen Freien Willen begrüsst. Schrödinger geht dann auf die Argumentation von Lukrez ein.

Lukrez über den Freien Willen


Lukrez (99 v. Chr. bis 55. v. Chr.) sah die ganze Welt, den menschlichen Geist eingeschlossen als aus Atomen aufgebaut an. In seinen eigenen Worten sind es leichte Abweichungen in den gesetzlichen Bewegungen, die dem Geist einen Freien Willen ermöglichen: "Daß der Sinn aber selber nicht habe inneren Zwang in allen Dingen, welche er anfängt, und wie ein Besiegter gedrängt ist zu tragen und zu leiden, das bewirkt der Ursprungskörper winzige Beugung (exiguum clinamen), weder am festen Ort noch auch zum sicheren Zeitpunkt.[1]" Siehe dazu auch den Artikel zu Lukrez Vorstellung der kleinen Abweichung, dem Clinamen ↗

Erwin Schrödinger über Lukrez


Schrödinger weist zunächst die Idee einer klassischen Flugbahn von Teilchen zurück. Quantenphysikalische Teilchen, wie etwa Elektronen oder kleine Atomsysteme, verhalten sich nicht strikt kausal. Ein einzelnes Teilchen, so Schrödinger, könne viele verschiedene und tatsächlich auch stark unterschiedliche Wege in der Zukunft einschlagen. Diese Wege sind durch nichts determiniert. Sehr eng determiniert, so Schrödinger weiter, sind aber die statistischen Daten der Teilche. Beobachtet man ein Teilchen sehr oft, dann wird es immer und zuverlässig in zum Beispiel einem Drittel aller Entscheidungen den Weg A wählen. Schrödinger glaubt aber nicht, dass hier ein Einfallstor für einen Freien Willen zu finden ist.

Einen physikalisch begründeten Einwand sieht Schrödinger im Bruch der statistischen Gesetze. Könnte ein menschlicher Geist (mind) die Teilchen beeinflussen, so müsste sich das als Abweichung von den physikalischen Zufallsgesetzen bemerkbar. Diese Denkmöglichkeit lehnt Schrödinger strikt ab.

Einen physiologisch begründeten Einwand sieht Schrödinger in der Tatsache, dass sich Elektronen gegenseitig nur dann in der Wahl ihrer Wege beeinflussen können, wenn sie räumlich sehr eng beeieinander liegen. Dass mehrere Elektronen also gemeinsam in eine Richtung wirken, müssten sie in einer Führer-Zelle (master-cell) oder einem Führer-Molekül vereinigt sein. Schrödinger verweist darauf, dass man solche Zellen im Gehirn nicht gefunden hat, im Gegenteil: Willensregungen im Gehirn gehen einher mit einer koordinierten Aktion vieler und räumlich weit voneinander entfernter Elektronen.

Einen letzten Einwand sieht Schrödinger daran, dass eine konkrete Willensregung, zum Beispiel einen Namen einer Person preiszugeben, von oft langen Gedankengegängen vorbereitet wird. Diese Gedankenregungen wiederum stehen in Verbindung mit einer großen Anzahl von Elektronen, die dann letztendlich sozusagen die wenigen Elektronen in einer Führer-Zelle steuern müssten. Diesen Gedanken lehnt Schrödinger scharf ab, er hält ihn schlicht für "absurd". Damit endet sein Vortrag.

Philosophische Einordnung von Schrödingers Gedankengang


Schrödinger stellt in seinem Vortrag Geist (mind) und Materie (matter) als zwei getrennte Seinsbereiche gegenüber. Diese Position bezeichnet man in der Philosophie als Dualismus. Dass es zwischen Geist und Materie zu einer gegenseitigen Einflussnahme kommen kann bezeichnet man als Interaktionismus. Beide Gedanken zusammen gedacht heißen dann entsprechend interaktionistischer Dualismus ↗

Der Freie Wille und die Physik in der Zeit nach Schrödinger


Schrödinger wies jede Verbindung zwischen der fehlenden Kausalität im Verhalten individueller Elektronen einerseits und einem erhofften Freien Willen andererseits scharf mit dem Wort "absurd" zurück. Doch der Gedanke war damit nicht aus der Welt. Im Gegenteil. Die Idee, dass es eine Art Scharnier zwischem dem Geist und der Materie geben vertieften unter anderem der neuseeländische Gehirnforscher und Nobelpreisträger John Carew Eccles in seinem passenden betitelten Buch "Das Ich und sein Gehirn"[7] sowie der englische Mathematiker Roger Penrose in seinem Buch "Computerdenken"[8]. Penrose diskutiert auch die Befunde von Eccles und argumentiert dann fast gegenläufig zu Schrödinger. Während Schrödinger die Wirkung von Elektronen auf ihre enge räumliche Nachbarschaft begrenzt, sieht Penrose in der Materie vor allem globale, holistische Aspekte und damit auch eine Möglichkeit für eine Geist-Materie-Wechselwirkung. Siehe dazu auch den Artikel zu Penroses Buch Computerdenken ↗

Fußnoten