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Die restlose Erfassung


Buch


Basiswissen


Karteikarten, Lochkarten, mechanische Rechenmaschinen, Meldegesetze, erste elektrische Computer und statistische Expertisen: eine Kernaussage des Buches über die Rolle der Statistik im Dritten Reich ist, dass diese wissenschaftliche Teildisziplin eine wesentliche Stütze für den Machtapparat war. Das Buch ist hier kurz skizziert.

Ein großer Bedarf


An welchen Daten könnte man Juden oder Personen mit jüdischen Vorfahren erkennen, wenn dies nirgends explizit vermerkt ist? Wie viele Arbeitskräfte könnten aus dem noch zu besetzenden Polen in das Deutsche Reich verschleppt werden? Welche Mengen an Rohostoffen könnten dort bergmännisch gewonnen werden? Was wäre die wirtschaftlich optimale Bevölkerungsdichte im besetzen Westpolen? Welche Polen kommen als rassisch wertvolles Menschenmaterial für eine Einbürgerung in Betracht? Solche Fragen wurden im Vorfeld und während des Eroberungskrieges in Europa von den deutschen Besatzern gestellt.

Ein schwieriger Start


1938 gab es in Deutschland noch keine allgemeine Meldepflicht: wer umzog musste sich nicht unbedingt anmelden. In Hamburg entstanden so ganze Stadtteile, in denen gesuchte Personen erfolgreich untertauchen konnten. Und Ausweispapiere hatte normalerweise nur, wer öfters ins Ausland reiste. Innerhalb des Reichsgesbietes gab es keine Ausweichpflicht. [Seite 160 ff.]

Junge und Kompetente Wissenschaftler


Das Buch von Götz Aly und Karl Heinz Roth beschreibt eine Wissenschaft in Aufbruchstimmung. Junge aufstrebende Akademiker und altgediente Koryphäen ihrer Disziplin entwickelten neue Methoden der Datenerfassung, wirkten an Gesetzen zur Rechtfertigung ihres Tuns mit und lieferten letztendlich die Menschenlisten für die reibungslose Organisation der Vernichtung von über 6 Millionen Europäern in Konzentrationslager: "Die Mehrzahl [der] sozialwissenschaftlichen Assistenten trug Doktortitel, alle waren zwischen 30 und 40 Jahre alt. Deutschland hatte wahrscheinlich nie eine jüngere und geistig wendigere Exekutivelite" [Seite 162]. Das Buch zeichnet Lebensstationen einzelner Akteure nach: Friedrich Zahn, Friedrich Burgdörfer oder auch Siegfried Koller, der spätere hochgeehrte Leiter des Statistischen Bundesamtes der BRD.

Die Reichspersonalnummer


Sind Wilhelm Albert Kreuzbacher und Wilhelm A. Kreuzbacher dieselbe Person? Oder könnte es irgendwo im Reichsgebiet auch einen Wilhelm Adam Kreuzbacher geben? Oder: ist Peter Shmidt ein Tippfehler oder der Name eines Engländers in Deutschland? Wer immer schon einmal von Hand größere Listen von Personen auswerten musste wird das Problem kennen. Es ist auch mit Hilfe von Computern ein Problem und erst recht ohne Computer. Die Statistiker im Dritten Reich forderten deshalb bereits früh die Einführung einer sogenannten Reichspersonalnummer, eine für jede Person eindeutigen Nummer, die eine eindeutige und schnelle Identifizierung zulässt. Bei Datenbanken spricht man heute von einer Personal-ID oder einem Datenbankschlüssel. Das Thema bildet ein eigenes Kapitel in dem Buch.

High-Tech kurz vor dem Computer


Lochkarten, Zählmaschinen, Gebäude die Datenstrukturen nachbilden und Konrad Zuses erster Computer: im Dritten Reich aber auch in den Volkswirtschaften der USA und Englands entwickelten sich die Bausteine dessen an, was nach dem Krieg die Computerrevolution auslösen sollte. Siehe auch Lochkarte ↗

Jahr 13 statt Stunde Null


Als Stunde Null wurde die Zeit direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bezeichnet. Der Begriff war im Nachkriegsdeutschland bis mindestens 1990 noch häufig in Gebrauch. In dem Wort schwingt unausgesprochen die Idee eines Neuanfanges mit. Der Krieg, die NS-Herrschaft sind vorbei und nun beginnt der Wiederaufbau. Damit verbunden ging vielleicht auch die stillschweigende Hoffnung, dass alles Schlechte aus den Jahren 1933 bis 1945 vorbei sei. Tatsächlich, und darauf legt das Buch an vielen Stellen immer wieder Wert, setzten viele individuelle Personen und viele Seilschaften ihre Arbeit auch nach 1945 nahezu unverändert fort. Das Statistische Bundesamt und das Bundeskriminalamt aber auch das Bundesinstitut für Bevölkerungswissenschaft wurden mit Personal aus dem Dritten Reich besetzt. Bis zur Zeit der Studentenrevolten um 1968 galt für die BRD eine weitgehende Kontinuität von Karrieren auch über das Kriegsende hinaus. Siehe dazu auch den Artikel zur SS ↗

Bezug der Autoren zum Jahr 1984


Das Buch endet mit einem Blick auf die Gegenwart seiner Erscheinungszeit, das Jahr 1984: statistische Methoden sind im modernen Leben allgegenwärtig und werden fast geräuschlos hingenommen. Darin sehen die Autoren einen Grund, warum das Thema so lange aus der Forschung ausgeklammert war: "... die bürokratisch-wissenschaftlichen Techniken der NS-Herrschaft blieben lange aus der Analyse ausgeklammert. Wohl auch deshalb , weil sie in vielerlei Hinsicht die normalen, in extremer Weise genutzten, aber durchaus nicht anrüchigen Methoden des modernden Staates sind" [Seite 163]. Siehe auch Bürokratie ↗

Bezug zur online-Kultur des Jahres 2022


Ich habe doch nichts zu verbergen! So antworteten viele ältere Menschen, als 1987 in der damaligen BRD eine Volkszählung anstand. Kritiker antworteten darauf: dass hatten die Juden 1933 auch gedacht. Wer aus der Geschichte nicht lernen will, ist dazu verdammt, sie wiederholen zu müssen. Im Jahr 2022 geben die meisten Menschen ihr tiefstes Inneres öffentlich preis. Man lässt seinen Standort vom mobilen Computer mitzeichnen, Sprachassistenten hören in Privatwohnungen mit und in den sozialen Medien veröffentlichen viele Personen ein nahtloses Psychogramm ihres Seelenlebens. Ich habe doch nichts zu verbergen! Was soll man denn mit diesem Daten anfangen? Was, wenn eines Tages eine neue völkische Regierung die Macht bekommt? Dann kann sie fast auf Knopfdruck Listen von Ausländern (Namen), Psychiatrie-Patienten (Krankenkassen), Alkohosüchtigen (online-Bestellungen), unerwünschten LGBTQs (Photos von Umzügen) oder liberalen Freidenkern (Blogs) ausdrucken. Personenlisten, das zeigt das Buch von Aly und Roth, waren ein Schmiermittel der Verfolgung, Einschüchterung, Instrumentalisierung letztendlich auch der Ermordung. Ein Gegenmittel? Sicherlich ein guter Datenschutz (externer Link)

Fußnoten