Dawkins-Drossel
Spekulative Evolution
Basiswissen
Es ist eine bemerkenswerte Analogie zwischen biologischen Organismen und einigen sozial lebenden Insekten, dass sie beide eine sogenannte Keimbahn ausbildeten. Von den vielen Zellen im Körper und den vielen Insekten im Staat pflanzt sich nur ein sehr kleiner Bruchteil (Keimzellen, Königin) fort. Diese tunnelartige Verengung des Erbmaterials in der Generationenfolge wird hier verallgemeinernd als Dawkins-Drossel bezeichnet. Das ist nachfolgende kurz mit einer Extrapolation hin zu genetischen Unternehmen vorgestellt.
Die klassische Keimbahn bei Organismen
Im 19ten Jahrhundert war die Vorstellung setzte sich die Erkenntnis durch, dass tierische und menschliche Körper sich über nur eine sehr kleine Anzahl von Zellen (Spermien, Eizellen) fortpflanzen[2]. Das gesamte Erbmaterial der Individuen gelangt nur durch eine einzige Zelle, die befruchtete Eizelle, zur nächsten Generation. Der Evolutionsbiologie Richard Dawkins sprach hier treffend von einem zellulären Flaschenhals[1]. Siehe dazu auch den Artikel zur Keimbahn ↗
Verengte Keimbahnen bei sozialen Insekten
Alle Termiten, bestimmte Ameisenarten, bestimmte Bienenarten, und Nacktmulle als einzige solche Säugeitere bilden hochkomplexe soziale Staaten aus, die ähnlich wie tierische Körper eine Generationenfolge zeigen[3]. Den Staat bezeichnet man auch als Superorganismus. Er entspricht dem Körper (Soma) komplexer Organismen. Der klassischen Keimbahn entspricht dann die Königin, die alleine sich fortpflanzt. Alle Termiten, Ameisen oder Bienen der nachfolgenden Generationen sind Klone dieser Königin. Den Verzicht der Klone auf eine eigene Fortpflanzung bezeichnet man auch als reproduktiven Altruismus[12] oder einen genetischen Flaschenhals[13]. Die Verengung der Keimbahn auf wenige sich fortplanzende Individuen ist ein Merkmal von Eusozialität ↗
Verengte Keimbahnen in menschlichen Gesellschaften
Es ist ein bemerkenswertes Phänomen mancher Gesellschaften, dass größere Anzahlen von Männer von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden sollen. Im osmanischen Reich etwa wurden die sogenannten Eunuchen, Wächter des Harems, unfruchtbar gemacht[9]. Und im Katholizismus wurde zumindest dem Wort nach die Priester von der Gründung eigener Familien ausgeschlossen[10].
Verengte Keimbahnen bei genetischen Unternehmen?
Die Idee, dass wirtschaftliche Unternehmen ähnlichen Selektionsdrücken unterliegen wie biologische Organismen ist nicht neu und wurde früh schon von Biologen geäußert[5]. Aus den Wirtschaftswissenschaften heraus entwickelte sich in den frühen 1970er Jahren ein entsprechendes Interesse. Heute bezeichnet man eine in diese Richtung gehende Forschung als evolutinäre Ökonomie oder kurz als Evolutionsökonomik[7]. Die betrachteten Analogien reichen bis hin zur Formulierung einer Unternehmens-DNA[8]. Hier jedoch bleibt die Analogie noch stehen bei der eher oberflächlichen Ähnlichkeit kodierten oder kulturell getragenen Eigenschaften von Organismen und Unternehmen. Geht man jedoch den ganzen Weg der Analogie von genetisch optimierten Superorganismen, dann folgt daraus, dass auch Unternehmen a) einen Generationenfolge und b) einen zellulären Flaschenhals als Dawkins-Drossel haben sollten. Das ist weiter betrachtet im Artikel genetisches Unternehmen ↗
Fußnoten
- [1] Richard Dawkins: 1976: Das egoistische Gen. Spektrum, Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin/Oxford, 1994. Originaltitel: The Selfish Gene. ISBN 3-86025-213-5. In der deutschen Ausgabe das Kapitel: Die große Reichweite der Gene. Seite 405.
- [2] Konrad Bachmann: Die Entwicklung der Tiere. In: Biologie für Mediziner. Springer, Berlin, Heidelberg. 1982. Online: https://doi.org/10.1007/978-3-642-96713-9_19
- [3] Heikki Helanterä: An Organismal Perspective on the Evolution of Insect Societies. In: Front. Ecol. Evol., 11 February 2016. Sec. Social Evolution. Volume 4 - 2016. https://doi.org/10.3389/fevo.2016.00006 [Betonung der Keimbahn sozialer Insekten]
- [4] François Jacob: Die Logik des Lebenden – Von der Urzeugung zum genetischen Code. Frankfurt am Main 1972, S. 232–235.
- [5] Hans Hass: Energon. Das verborgene Gemeinsame. Fritz Molden (Verlag). 1970. Siehe mehr unter Energon ↗
- [6] Richard R. Nelson, Sidney G. Winter: Toward an Evolutionary Theory of Economic Capabilities. In: The American Economic. Vol. 63, No. 2, Papers and Proceedings of the Eighty-fifth Annual Meeting of the American Economic Association (May, 1973), pp. 440-449 (10 pages).
- [7] Cecere, Grazia & Corrocher, Nicoletta & Gossart, Cédric & Ozman, Muge. (2014). Lock-in and path dependence: an evolutionary approach to eco-innovations. Journal of Evolutionary Economics. 24. 1037-1065. 10.1007/s00191-014-0381-5.
- [8] Neilson, G.L. & Pasternack, B.A. (2006): Erfolgsfaktor Unternehmens-DNA: Die vier Bausteine für effektive Organisationen, Frankfurt am Main.
- [9] Die Autorin betrachtet unter anderem die Rolle von Harems und Eunuchen. In: L. Betzig: Eusociality in History. Hum Nat 25, 80–99 (2014). DOI: https://doi.org/10.1007/s12110-013-9186-8
- [10] Dass Religion, unter anderem mit einer zölibatären Priesterkaste, die Entstehung von Eusozialität in menschlichen Gesellschaften gefördert haben könnte, untersucht Jay R. Feierman. In: Religion’s Possible Role in Facilitating Eusocial Human Societies. A Behavioral Biology (Ethological) Perspective. In: Studia Humana. Band 5 (2016): Heft 4 (Dezember 2016). Siehe dazu auch Dawkins-Drossel ↗
- [11] Ein zellulärer Flaschenhals notwendige Voraussetzung für eine evolutionäre Transition: "The evolution of eusociality in social insects, such as termites, ants, and some bees and wasps, has been regarded as a major evolutionary transition (MET). Yet, there is some debate whether all species qualify. Here, we argue that worker sterility is a decisive criterion to determine whether species have passed a MET (= superorganisms), or not." In: Abel Bernadou, Boris H. Kramer, Judith Korb: Major Evolutionary Transitions in Social Insects, the Importance of Worker Sterility and Life History. In: Front. Ecol. Evol., 26 October 2021. Sec. Social Evolution. Volume 9 - 2021. DOI: https://doi.org/10.3389/fevo.2021.732907
- [12] Siehe unter reproduktiver Altruismus ↗
- [13] Zum genetischen Flaschenhals im Zusammenhang mit einer Hefeart (Snowflake yeast) heißt es: "Due to their branching growth form (Ratcliff et al. 2013b), each propagule goes through a unicellular genetic bottleneck, even if it ends up containing multiple cells." In: Gulli JG, Herron MD, Ratcliff WC. Evolution of altruistic cooperation among nascent multicellular organisms. Evolution. 2019 May;73(5):1012-1024. doi: 10.1111/evo.13727. Epub 2019 Apr 15. PMID: 30941746; PMCID: PMC6685537.
- [14] Den für die Gruppe schädlichen Effekt des Trittbrettfahrens, des evolutionären Parasitierens im Sinne egostischer Gene könne nicht nur über einen gemeinsamen genetischen Ausgang in die Zukunft im Sinne einer reduzierten Keimbahn unterbunden werden. Auch eine physikalische Verrbindung zweier Bewusstseine könnte den idividuellen Egoismus unterbinden. Die Verbindung zweier Bewusstsein im folgenden Zitat ist wörtlich gemeint. Technisch ermöglicht werden soll sie über einen sogenannten Exokortex: "If two minds share a common desire or preference, merging together may help promote that preference. Groups of individuals working towards achieving a specific goal face the problem of free-riding and enforcing effective co-operation. If the individuals involved in the group have goals other than what the group is trying to achieve, each individual has an incentive to invest less than it could in the group, hoping that other members will accomplish their goal regardless. This is particularly the case in large groups, where the impact of a single individual is close to negligible. Two or more minds coalescing could help ensure that their individual desires and their collective desires are the same." In: Sotala, Kaj, and Harri Valpola. Coalescing Minds: Brain Uploading-Related Group Mind Scenarios. In: International Journal of Machine Consciousness 4 (1): 293–312. 2012.DOI: doi:10.1142/S1793843012400173. Was hier anklingt ist ein kollektives Bewusstsein ↗