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Chamäleonautik


Cyberpunk


Grundidee


Unter dem Wort Chamäleonautik soll hier darüber spekuliert werden, wie man sich unter Bewahrung seiner eigenen Identität in deformierenden Umgebungen bewegen kann. Ähnlich einem Chamäleon wechselt man dabei seine äußere Hülle und passt sich damit der jeweiligen Umgebung so an, dass man selbst dabei keinen Schaden nimmt. Das ist hier kurz vorgestellt.

Künstliche Intelligenz durchfasert den Alltag


Seit Ende 2022 ist die künstliche Intelligenz in der Wahrnehmung der meisten Menschen angekommen: Der Chatbot ChatGTP kann inhaltlich und sprachlich Gespräche auf einem Niveau gut gebildeter Personen führen. An anderen Stellen ist der Einsatz künstlicher Intelligenz weniger aufällig: KI steuert Flugzeuge, verwaltet Geld, lenkt unsere Aufmerksamkeit im Internet, umgibt uns mit digitalen Assistenten und führt mathematische korrekte Beweise für deren Kontrolle Menschen Wochen benötigen. Der Euphorie, dass KI uns aller lästigen Arbeiten entledigt gegenüber steht die Angst, dass sie uns verdrängt oder versklavt. Geht man von eher dystopischen Szenarien aus, drängt sich die Frage auf: was tun? Dazu steht hier als Ideenskizze eine mögliche Antwort.

Die Drohkulisse einer dystopischen Zukunft?


Verschiedene Autoren entwerfen das Bild einer düsteren Zukunft: totalitäre Technodikaturen[11], die herzlos-effektive Globalmaschine[12], kalte Produktionsprozesse und eine denaturierte, durchtechnisierte Welt lassen dem Menschen heutiger Prägung kaum bis keine Möglichkeit zu freien Entwicklung. Goethe hatte schon 1829 vor dem sich heranwälzenden „Maschinenzeitalter“[16] gewarnt. Der Mensch ist in diesen Dystopien oft zu einem sklavenartigen Dasein oder einer aussagelosen Existenz in billigen Konsumlandschaften herabgesunken. Als Sammelbegriff für entsprechende Filme, Bücher und andere Darstellungsweisen herausgebildet hat sich der Begriff des Cyberpunk ↗

Die soziointegrative Degeneration als konkrete Gefahr?


Der polnische Autor Stanislaw Lem prägte das Oxymoron der sozionintegrativen Degeneration. Ein Oxymoron ist ein Begriff mit in sich enthaltener Widersprüchlichkeit (Beispiel: beredtes Schweigen). Mit soziointegrativer Degeneration bezeichnete Lem einen Prozess, bei dem ein Individuum zu einem integralen Teil eines größeren Ganzen wird (eher positiv), dabei aber Fähigkeiten aufgibt und sich dadurch zurückentwickelt also degeneriert (negativ). Wenn etwa ein breit interessierter und gebildeter Mensch auf einem Arbeitsplatz sich nur noch ganz auf das beschränkt, was die Arbeitsplatzbeschreibung von ihm fordert, und wenn genau das optimal für das Unternehmen ist, wäre das im Sinne von Lem eine soziointegrative Degeneration ↗

Mimikry als Strategie der Chamäleonautik


Viren und viele Bakterien sowie auch Krebszellen sind für Mediziner oft deshalb so schwer zu bekämpfen, weil sie in wichtigen Strukturen dem befallenen Wirtskörper so stark ähneln. Das bringt den Schadorganismen zwei Vorteile: a) sie sind für das Immunsystem oft nur schwer zu erkennen und b) Therapien gegen die Schadorganismen schaden oft auch dem (zu schützenden) Wirt. Im sozialen Bereich bedienen sich zum Beispiel Spione und sogenannte Schläfer einer ähnlichen Strategie: sie infiltrieren eine feindliche Gesellschaft indem sie sich den dort lebenden Individuen äußerlich stark anpassen. Diese biologische und soziale Strategie kann gedanklich auch als eine Form des Widerstandes gegen einen übermächtigen Gegner im Cyberspace gedacht werden. Eine spezifische Taktik wäre dann zum Beispiel einzelne nadelstichartige Aktionen im Sinne einer Cyberguerilla ↗

Die Chaosbarriere als Vorteil der Chamäleonauten


Je kleiner und universeller die Bestandteile eines evoluierenden komplexen Systems sind, desto beständiger sind diese Bestandteile über die Zeit. Das klassische Beispiel sind die genau 5 überall gleichen Nukleotide als Baustein aller bekannten Nukleinsäuren (RNA, DNA) von Lebewesen sowie die 21 für alle bekannten biologischen Lebensformen gleichen Aminosäuren als universelle Bausteine von Proteinen. Auf einer höheren Stufe der Komplexität wiederholte sich dieses Phänomen mit Zellen: die meisten Zellen von biologischen Lebewesen ähneln sich stark, sie haben ihren Grundbauplan über Jahrhundertemillionen beibehalten. Bei Schwämmen hat sich sogar die ursprüngliche Autonomie der Zellen oft erhalten: Schwämme sind Tiere, die man durch ein Sieb drücken und damit als Organismus zerstören kann. Die einzelnen Zellen aber können überleben und bilden späte wieder einen neuen Überorganismus. Siehe auch Aminosäure-Barriere ↗

Die Beharrlichkeit von elementaren Bausteinen kennt man auch in der Informatik: einige Befehle oder Skripte (echo, read, source etc.) in der Umgebung des Betriebssystes Linux bleiben über Jahrzehnte unverändert. Ein Grund dafür ist, dass selbst eine geringfügige Änderung an einem elementaren Baustein eines komplexen Systems oft unvorhersehbare chaotische Folgen auf der höherkomplexen Systemebene hätte. Was die Bausteine hier in ihrer Beständigkeit schützt sind grundlegende Phänomene aus der Chaostheorie ↗

Verschiedene Autoren sagen für die Menschheit voraus, dass sie Teil eines Systemartigen Übergebildes wird. Während manche Autoren nur vorsichtig von eine soziotechnischen System sprechen, gehen andere soweit diese Systeme als eigenständige Lebensform zu betrachten. Gelingt es dem Menschen in seiner jetzigen Form zu einem elementaren Baustein eines solchen Systems zu werden, dann wird die jetzige Form individueller Menschen vielleicht ähnlich dauerhaft konserviert wie die elementaren chemischen Bausteine von Lebewesen. Man könnte das Phänomen vielleicht als Chaosbarriere bezeichnen: änder sich ein elementarer Baustein auch nur geringfügig, kollabiert das Übersystem in chaotischen Zuständen (Krankheiten, Systemausfälle, politische Krisen). Kennt jemand einen etablierten Namen für dieses Phänomen? Wer eine Idee hat, bitte gerne melden über Rhetos Impressum ↗

Wer ist Herr? Zelle oder Organismus


Schon kurz nach der Abkühlung der Erde fanden sich in der Ursuppe abiotische Moleküle zu Replikatoren zusammen. Diese waren die Keimzellen für Zellen, die Zellen wiederum für Organismen und die Organismen bilden sozusagen dieZellen von Unternehmen, Staaten oder anderen Sozietäten. Dabei entstehen auf ständig höheren Stufen der Komplexität immer größere Individuen. Diese Individuen - etwa ein Vielzeller - bestehen dann aus kleineren Individuen, zum Beispiel den Zellen. Interessant ist nur die Frage, in welchem „Herrschaftsverhältnis“ das Überindividuum zu seinen Teilzellen steht[2]. Je nach Sichtweise, kann der Teil erfüllt im Überwesen aufgehen[9][10] oder aber es wird von ihm funktional ausgebeutet[11][12][3]. Dazwischen gibt es viele Zwischenstufen und Einzelfälle. Einen theoretischen Rahmen bildet zum Beispiel das Konzept evolutionärer Transitionen[5]. Demnach laufen bei den Komplexitätssprüngen von einer zur nächsten Stufe oft ähnliche Prozesse ab [z. B. Endosymbiose] und es bilden sich analoge Strukturen aus [z. B. Zerebralisation]. Damit ließe sich von der biologischen Geschichte der Evolution begründet auf unsere evolutionäre Zukunft schließen. Siehe mehr zu dieser Idee einer Stufenleiter der Komplexität unter evolutionäre Transitionen ↗

Perspektiven einer erfolgreichen Chamäleonautik


Kragengeißeltierchen sind Einzeller, die sowohl fest ingegriert in Schwämmen (Tier) als auch autonom freilebend vorkommen. Sie können möglicherweise als Vorbild auch für eine soziale Chamäleonautik dienen. Menschen in einer selbstgewählten Form der Entwicklung (Jetztform, leicht transhumanisiert?) bewahren sich die Fähigkeit, innerhalb eines Überorganismus oder einer Übergesellschaft gefahrlos zu existieren. Ziel muss es sein, vom Übergebilde nicht so als Gefahr (Krankheitserreger), Beute (Arbeitssklave) oder Überflüssigkeit (Feldmäuse auf Baugelände) wahrgenommen zu werden, dass dadurch die eigenen Existenz gefährdet wird. Die Chamäleonauten können dazu jederzeit zu einem verträglichen Teil des Überwesens werden. Bei Wunsch aber können sie sich vom Überwesen wieder lösen und selbstbestimmt leben.

Grenzen der Chamäleonautik


Um sich verträglich in ein Überwesen einfügen zu können, muss ein Chamäleonaut ein Mindestmaß an Ähnlichkeit und Funktionalität mit den Elemtenen des Überwesens aufweisen. Hier droht die Gefahr der Veränderung durch Anpassung. Ich meine mich zu erinnern, dass der sehr auf Eigenständigkeit bedachte ehemalige Außenminister Joschka Fischer einmal etwas resignierend gesagt haben soll: „Bevor du das Amt veränderst, verändert das Amt dich“. Die Chamäleonauten haben zwar einen gewissen Spielraum für „soziale Devianz“ (Abweichlertum). Dieser findet seine Grenze aber dort, wo die verträgliche Einfügung in das Übersystem bedroht ist. Dem Chamäleonauten droht damit stets die soziointegrative Degeneration (Soziologie) ↗

Lose Ideen zur Chamäleonautik



Fußnoten